(4) Der Riss zwischen Alltag und Brauchtum
Traditionen sind den Appenzellern lieb, und darum möchten sie ihre Bräuche für alle Ewigkeit bewahren. Trotzdem hat sich das Brauchtum im Lauf der
Zeit gewandelt. Auch wenn die Werbewirksamkeit überlieferter Rituale und Trachten punktuell ausgenützt wird, ist es noch nicht zum Schaulaufen verkommen.
Die Traditionen spielen im ganzen Appenzellerland noch heute eine wichtige Rolle, auch als Quelle der Inspiration für die zeitgenössische Musik und die bildende Kunst. Viele der Brauchtumsträger sehen ihren Auftrag darin, vermeintlich uralte Überlieferungen getreulich, und ohne ein Jota daran zu ändern, an zukünftige Generationen weiterzugeben; denn sie sind gut so und sollen es bleiben. Nur wenige unter den aktiven Brauchtumsliebhabern sind sich bewusst, dass sich auch Traditionen wandeln und dass ein Teil der für uralt gehaltenen Bräuche sich nur bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen lässt. Das hängt damit zusammen, dass sich in früheren Jahrhunderten niemand um die Dokumentation des Alltags ganz gewöhnlicher Menschen bemühte. Die gelehrten Chronisten, im Appenzellerland meistens geschichtlich interessierte Pfarrer, kümmerten sich um kriegerische Ereignisse, Seuchenzüge und Katastrophen anderer Art, aber sicher nicht um dubiose Lustbarkeiten des gewöhnlichen Volkes, vor allem dann nicht, wenn es übermütig und unanständig lustig zu und her ging.
Der gegen Ende des 18. Jahrhunderts aufkommende Fremdenverkehr zu den Bädern und Molkenkurorten in Inner- und Ausserrhoden führte dazu, dass Zeichner, Kupferstecher und Radierer Landschaft und Leute abbildeten. Die damals an die Gäste verkauften Drucke sind, neben der oft hohen künstlerischen Qualität, für Volkskundler, Historiker und Brauchtumsforscher von grosser Bedeutung, weil sie neben den seltenen Ölgemälden und Aquarellen die wichtigsten Darstellungen des appenzellischen Alltags sind. Das Leben der heutigen Appenzeller ist weit weg von den ehemals geschlossenen Kreisläufen, wo Arbeits- und Festtage von allmählich gewachsenen Bräuchen und Gewohnheiten geprägt waren und fliessend ineinander übergingen.
Der Riss zwischen Alltag und Brauchtum macht heute vielen zu schaffen. Die einen lehnen darum alles ab, was auch nur im entferntesten an bäuerliche Traditionen und Brauchtum erinnert, andere wiederum versteifen sich auf strenge Kostümvorschriften, Verhaltensregeln und bis ins Detail vorgeschriebene Abläufe.
Erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts, vor allem aber nachdem 1926 die Schweizerische Trachtenvereinigung und gleichzeitig ihre Ausserrhoder Sektion gegründet worden waren, wurde das Trachtentragen in Satzungen gefasst und gewissermassen reglementiert. Die Absicht war, ein gefälliges Auftreten zu fördern und Missbräuche zu bekämpfen. In Ausserrhoden hatte die Gründung noch eine zusätzliche Bedeutung; denn so konnte die ein Jahr zuvor vom Herisauer Kunstmaler Paul Tanner geschaffene neue Frauentracht besser unter die Leute gebracht werden. Die Ausserrhoder Frauentracht, wie sie noch bis Ende des 19. Jahrhunderts existierte, wurde nämlich nur noch selten getragen – sie war so unbequem, dass etliche Ausserrhoderinnen auf die Innerrhoder Tracht auswichen, wenn sie ein traditionelles, festliches Kleid tragen wollten. In Innerrhoden waren die Frauentrachten derart im Volk verankert, dass sich verständlicherweise die Gründung einer Fachorganisation nicht aufdrängte. Dort wurde die Trachtenvereinigung darum erst 1932, als eine der letzten der Schweiz, gegründet.
In den letzten Jahren hat sich ein grosser Teil der Sennen bereiterklärt, sich bei der Alpabfahrt aus den Alpen im Einzugsgebiet von Urnäsch an einzelne, im voraus festgelegte Termine zu halten. Sie tun das den übrigen Verkehrsteilnehmern zuliebe; denn solche Viehprozessionen können eilige Autofahrer zur Verzweiflung treiben, wenn sie im Schritttempo hinter baumelnden Kuhschwänzen herzuckeln müssen. Der Verkehrsverein Urnäsch und einzelne Gastwirte an der Hauptstrasse benützen diese Termine dazu, interessierte Touristen und Brauchtumsfreunde anzuziehen, indem sie für die Wartezeit eine Musikkapelle organisieren und an günstigen Stellen Sitzplätze einrichten. Es wäre jedoch völlig falsch zu behaupten, dass die Alpfahrten nur noch dem Tourismus und damit dem Kommerz zuliebe stattfinden. Dass Gäste an dem urchigen Schauspiel Freude haben und dass die Gastwirte davon profitieren, ist eine – wenn auch durchaus willkommene – Nebenerscheinung.
Ähnliche Entwicklungen findet man auch beim berühmtesten Winterbrauch des Appenzellerlandes, dem Silvesterklausen. Am 31. Dezember, dem Neuen Silvester, und am 13. Januar, dem Alten Silvester nach dem julianischen Kalender, gehen im Ausserrhoder Hinterland, der Gegend zwischen Herisau und dem Säntis, und dem Mittelland die Silvesterkläuse um. Gruppenweise begeben sie sich, in einem einstudierten Aufmarsch, von Haus zu Haus und zu den verstreuten Bauernhöfen. Dort stellen sie sich in einem Kreis auf, läuten ihre Schellen und Rollen (geschlitzte Pferdeschellen, wie man sie von den Jasskarten her kennt), beruhigen sich und stimmen ein Zäuerli an. Das wiederholt sich in der Regel dreimal. Dann wünschen die Kläuse den Bewohnern des besuchten Hauses der Reihe nach ein gutes neues Jahr und erhalten ein Geldgeschenk. Dieser Umstand hat dazu geführt, dass böswillige Berichterstatter behaupten, den Kläusen gehe es nur um den finanziellen Ertrag. Das Klausen gehört zu den sogenannten Heischebräuchen, bei denen ein Geschenk in Naturalien oder Geld dazugehört. Wer die Ausrüstung der Silvesterkläuse genauer anschaut, merkt sehr schnell, dass die Entschädigungen den zeitlichen und finanziellen Aufwand, vor allem der Schönen Kläuse, nicht decken können.
Erst nach dem Zweiten Weltkrieg begann sich die Welt ausserhalb des Appenzellerlandes für den spektakulären Brauch zu interessieren, und inzwischen fahren Tausende ins Appenzeller Hinterland, um vor allem den 13. Januar, den Alten Silvester, zu erleben. Früher, seit den ersten schriftlichen Spuren im Jahr 1663, versuchten die Behörden, den als unanständig und eines Christenmenschen unwürdig bezeichneten Brauch zu verbieten. In den Dörfern des Ausserrhoder Hinterlandes, vor allem in Urnäsch, stiess das Verbot auf taube Ohren. Allerdings weiss man nicht, wie denn die Kläuse vor 200 und mehr Jahren ausgesehen haben; denn die ersten Bilder gibt es erst seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, als die ersten Fotografen sich für die Bräuche zu interessieren begannen. Seither erkennt man deutlich zwei auch in anderen Gegenden bekannte, gegenläufige Entwicklungen. Im Verlaufe des 20. Jahrhunderts sind vor allem die Kopfbedeckungen der Schönen Kläuse immer aufwendiger geworden. Diese Ästhetisierung des Brauches zeigt sich auch im musikalischen Teil, dem Zauren, dem Appenzeller Naturjodel ohne Worte. In den letzten Jahrzehnten ist die Qualität des Gesangs ganz allgemein auf ein erstaunliches Niveau gestiegen. Die einzelnen Klaus-Schuppel (Gruppen) achten nämlich darauf, dass sie Vakanzen durch geeignete Sänger ergänzen. Darum gehören Mitglieder von Jodlerclubs sehr oft zu Klausgruppen, manchmal auch Toggenburger oder Innerrhoder, obwohl das Silvesterklausen auf das Ausserrhoder Hinterland und einzelne Mittelländer Gemeinden beschränkt ist.
Neben diesem Bestreben, immer aufwendigere Kostüme, Hauben und Hüte zu schaffen und immer raffiniertere Zäuerli vorzutragen, gibt es auch eine Gegenbewegung, die man mit dem Fachbegriff «Archaisierung» umschreiben könnte. Immer wieder kommt es vor, dass eine Gruppe sich an längst verschwundene Formen von Kopfputz und Kostümierung erinnert und sich bei alten Leuten nach vergessenen Zäuerli erkundigt. Zur Freude des fachkundigen Publikums hört man so plötzlich wieder längst entschwundene Melodien und sieht Zusammensetzungen von Gruppen und Kopfputz aus Grossvaters Zeit. Die Gruppen tun das nicht im Auftrag irgendwelcher Veranstalter aus der Tourismusbranche. Sie sind dem überlieferten Brauchtum tief verbunden und leben Emotionen aus, die sie nicht in Worte fassen können und wollen.
Bräuche wie das Silvesterklausen verfolgen keinen Zweck; sie sind Selbstzweck. Es ist schon vorgekommen, dass Firmen, politische Parteien und andere Vereinigungen versuchten, Silvesterkläuse für ihre Ziele einzuspannen. Wer sich für so etwas hergab, musste sich hinterher bitterböse Kommentare anhören – was zur Folge hat, dass solche Entgleisungen sehr selten vorkommen. Bisher haben sich die Kläuse allen Bestrebungen zur straffen Organisation des Silvesters widersetzt; denn das Klausen ist Privatsache, und dazu braucht es weder Vereine noch Tourismusbüros. Solange das so bleibt, sind die Bräuche nicht in Gefahr, zum Schaulaufen zu verkommen.