300 Jahre Albrecht von Haller 2/2
Was wären die Alpen ohne ihn? Er war Physiologe, Kenner der Flora, Dichter der Alpen, Arzt, Staatstheoretiker und Magistrat. Ein Universalgelehrter, der Tausende von Briefen an Empfänger in
ganz Europa schrieb. Vor 300 Jahren wurde Albrecht von Haller in Bern geboren. Sein Porträt zierte den 500-Franken-Schein der sechsten Banknotenserie der Schweiz. Dass es sich lohnt, nebst dem schönen Schein, auch Hallers Bücher in die Hand zu nehmen, davon handeln die beiden folgenden Beiträge.
Vor allem eine der Neuerscheinungen zum 300. Geburtstag Albrecht Hallers hat es unserem Rezensenten angetan: «Albrecht von Haller. Leben – Werk – Epoche» vermag den Universalgelehrten so vielfältig vor Augen zu führen, dass sein lange vergessenen Lehrgedicht «Die Alpen» auch für heutige Leser wieder schmackhaft wird.
Ein bekannter Unbekannter ist dieser Albrecht von Haller, selbst in der Schweiz. Als Schriftsteller war er lange Zeit hindurch so gut wie vergessen. Selbst Germanisten verwiesen, meist ein wenig lustlos, lediglich auf sein Lehrgedicht «Die Alpen» (1729), das viele von ihnen eher aus den einschlägigen Literaturgeschichten kannten denn aus eigener Lektüre. Das beginnt sich zu ändern, und so entpuppt sich das zunächst willkürliche Diktat der runden Zahl letztlich als ein Segen. Zum 300. Geburtstag wird einiges geboten; auch neue Publikationen gehören dazu. Zwar ist bedauerlicherweise kein Haller-Lesebuch erschienen, aber immerhin eine sein Andenken sicherlich belebende Haller-Ausgabe der Berner Universitätszeitschrift «UniPress», wie auch ein Themenheft der «Schweizerischen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts». Die ohne Zweifel mit Abstand gewichtigste Neuerscheinung im Haller-Jahr hat im Titel das Programm: «Albrecht von Haller. Leben – Werk – Epoche». Es handelt sich um einen repräsentativen Sammelband, an dem 22 Wissenschafter mitgewirkt haben, unter ihnen erfreulicherweise viele jüngere. Und eines macht dieser Band rasch deutlich: Haller ist nicht tot!
Über das Zustandekommen des Kompendiums unterrichtet das Vorwort der Herausgeber. Und es tut noch mehr: es nennt ohne Scheu die mutmasslichen Gründe dafür, dass Leben, Werke und Wirkungen Albrecht von Hallers heute «weitgehend aus dem Kanon der Allgemeinbildung verschwunden» sind. Sein Lebenslauf sei nicht so leicht fassbar und dramatisierbar wie zum Beispiel derjenige Rousseaus; jegliche Poesie vor den 1770er Jahren sei heutigen Lesern schwer zugänglich (was durchaus bezweifelt werden darf); als Romanautor und politischer Schriftsteller sei Haller zu didaktisch; als orthodoxer Theologe stehe er oft konträr zur modern-aufklärerischen Religionskritik; als Literaturkritiker sei er rasch von der nachfolgenden Generation um Lessing abgelöst worden; als Magistrat und Berner Patriot sei er im europäischen Kontext nicht so bedeutend. Und dass Haller «der wohl am besten und internationalsten vernetzte Wissenschafter seiner Zeit» gewesen ist und «eine wichtige Schaltstelle in der europäischen Wissensproduktion» einnahm, dafür habe sich die Forschung erst in allerjüngster Zeit wirklich interessiert. Fazit: «Haller lässt sich nicht auf einen Nenner bringen. Die Schwierigkeit, ihn zu erfassen und zu erklären, wird erhöht durch ein vielschichtiges und äusserst umfangreiches Werk, das zudem in unterschiedlichen Sprachen (Latein, Französisch, Deutsch) abgefasst und nur teilweise in Übersetzungen greifbar ist.» Diese Probleme allerdings, die Vielgestaltigkeit und Widersprüchlichkeit Hallers, sprächen nicht gegen, sondern für die verstärkte Beschäftigung mit dieser bewunderungswürdigen Persönlichkeit. Der reich bebilderte neue Band ist der beste Beweis für die Richtigkeit dieser Behauptung. Wer also ist dieser Haller?
Seinen Lebenslauf stellt Urs Boschung in allen Details dar, und François de Capitani und Ulrich Hunger führen dessen Hauptschauplätze Bern und Göttingen vor Augen. Man erfährt viele Details über Hallers Verwandtschaft und über die Berner Kindheit, die 1718 mit der Aufnahme in die Hohe Schule fast schon wieder zu Ende ist. «Im zwölften Jahre fieng er an deutsche Verse zu verfertigen, und von der Zeit an, bis in sein 15. und 16tes Jahr herrschte die Liebe zu der Dichtkunst auf eine unwiderstehbare Weise in seiner Seele», wird Johann Georg Zimmermann zitiert, Hallers erster Biograph. 1722 bis 1723 lernt Haller in Biel, 1723 bis 1725 studiert er in Tübingen Medizin. Er wechselt nach Leiden in Holland, wo es ihm ganz vorzüglich gefällt, und schliesst 1727 sein Studium ab – bestens ausgebildeter Arzt, und das mit 19 Jahren! Es folgen Reisen nach London und Paris, ein begieriges Aufnehmen alles Neuen, auch schon erste schwerere Krankheiten, und dann, von Basel aus und mit Gessner, seinem Freund, eine Reise durchs Vaterland. «Die Erfahrungen der Schweizerreise, die in starkem Kontrast zu Eindrücken von London und Paris standen, aber auch manches Gelesene verarbeitete er im Gedicht ‹Die Alpen, Heldengedichte›» (Urs Boschung).
Diesen 49 Strophen mit jeweils zehn jambischen Alexandrinern, die die «Gemüthsruh» des alpinen «homo helveticus» besingen und letztlich «ein Lob des gesunden Landlebens im Sinne der alten römischen Optimates» darstellen (Leif Ludwig Albertsen), verdankt der Dichter Haller seine im 18. Jahrhundert vor allem von Herder und Schiller beförderte Unsterblichkeit. Im Mittelpunkt steht der Mensch: «Der Älpler ist selig, weil er bei sich ist und weder einem Noch-Nicht nachstrebt noch einem Nicht-Mehr nachtrauert, sondern in Gemeinschaft mit der Natur und somit in natürlicher Ordnung lebt» (Eric Achermann). «Die Alpen», naturwissenschaftliche Beobachtung und lyrisch verpackte Moralphilosophie kunstvoll verknüpfend, wurden zum «Ursprung des modernen Alpenmythos» (Rémy Charbon) und blieben wirkungsmächtig bis ins 20. Jahrhundert hinein – obwohl ihr poetischer Duktus längst eigentümlich wirkte und ihre sprachlichen Feinheiten nicht im gesamten deutschen Sprachraum verstanden wurden. «Ich bin Schweizer, und Deutsch ist für mich eine Fremdsprache», lässt Hugo Loetscher seinen Albrecht von Haller in einem fiktiven Interview sagen, und der Gesprächspartner entgegnet: «Trotz allem sind Sie der erste Schweizer, der mit seiner Dichtung über sein Land hinausgewirkt hat.» Das ist zweifellos richtig, und sogar ein Hugo Loetscher, der seine persönliche Schweizer Literaturgeschichte lieber mit den Lebenserinnerungen Thomas Platters denn mit den «Alpen» beginnen lässt, kommt nicht umhin, die enorme Wirkung von Hallers Lehrgedicht anzuerkennen.
1729 bis 1736 lebt Haller als Arzt und Bibliothekar in Bern, dichtet und studiert und gründet eine eigene Familie. 1736 erfolgt der Ruf an die Göttinger Universität, wo der Berner als Anatom, Chirurg und Botaniker bis 1753 forscht und lehrt, an den «Göttingischen Zeitungen von Gelehrten Sachen» mitwirkt und die erst später so genannte Akademie der Wissenschaften gründet. Der immer ärger kränkelnde Gelehrte wird schliesslich Rathausammann in Bern, ab 1758 dann Direktor der bernischen Salinen in Roche. Er korrespondiert mit den wichtigen Wissenschaftern Europas, schreibt zahlreiche Artikel für die bald epochemachenden, in Paris und Yverdon entstehenden Enzyklopädien, verfasst zudem drei politische Romane sowie philosophische und religiöse Schriften – und er überarbeitet mehrfach seine immer berühmter werdenden Gedichte. Am 12. Dezember 1777 ist sein Leben und Wirken zu Ende.
Belehrt und beglückt mag man nach der Lektüre des Sammelbandes Hallers berühmtes Lehrgedicht aufschlagen und mit ihm hinauf in die Alpen reisen, mit aller heutigen Skepsis gegenüber seinem Lobpreis des einfachen und sündelosen Lebens unter Hirten und Sennen. Doch schon der Dichter selbst war sich im klaren darüber, dass sein Lehrgedicht der Schweizer Wirklichkeit nur selten entsprach: «Es ging ihm aber nicht so sehr um die reale Lebensweise der Gebirgsbevölkerung als um ein kritisches Gegenbild zum luxuriösen Leben der gegenwärtigen Berner Patrizier» (Rémy Charbon). Dass dieses kritische Gegenbild aus der Feder eines Mannes, der das Dichten nur in seinen Nebenstunden betrieben hat, bis heute – nein, keine Utopie, aber zumindest einen Traum aufscheinen lässt, spricht für die erstaunliche Wirkungskraft guter Poesie. So gesehen, darf sich die gesamte Tourismusindustrie der Alpenländer bis heute glücklich schätzen, einen Albrecht von Haller zum Ahnherrn zu haben. «Denn hier, wo die Natur allein Gesetze gibet, / Umschliesst kein harter Zwang der Liebe holdes Reich.» So ist es leider nicht, und so ist es wohl nie gewesen. Aber so könnte es sein. Zumindest träumen darf man es – beim Lesen der «Alpen» des mit Fug und Recht «gross» genannten Haller.
Hubert Steinke, Urs Boschung, Wolfgang Pross (Hg.): «Albrecht von Haller. Leben – Werk – Epoche». Göttingen: Wallstein, 2008.
Albrecht von Haller: «Die Alpen und andere Gedichte». Herausgegeben von Adalbert Elschenbroich. Stuttgart: Reclam, 1965/2004.
Hugo Loetscher: «Lesen statt klettern. Aufsätze zur literarischen Schweiz». Zürich: Diogenes, 2003/2008.
Klaus Hübner, geboren 1953 in Landshut, promovierte in Germanistik und lebt als Publizist und Redaktor der Zeitschrift «Fachdienst Germanistik» in München.