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300 Jahre Albrecht von Haller 1/2

Der schwermütige Aufklärer Er war Physiologe, Kenner der Flora, Dichter der Alpen, Arzt, Staatstheoretiker und Magistrat. Ein Universalgelehrter, der Tausende von Briefen an Empfänger in
ganz Europa schrieb. Vor 300 Jahren wurde Albrecht von Haller in Bern geboren. Sein Porträt zierte den 500-Franken-Schein der sechsten Banknotenserie der Schweiz. Dass es sich lohnt, nebst dem schönen Schein, auch Hallers Bücher in die Hand zu nehmen, davon handeln die beiden folgenden Beiträge.

Wer denkt, der leidet. Wer zweifelt, wird unglücklich. Seit ihren Anfängen untergräbt die Aufklärung Geborgenheit und Gottvertrauen.

Albrecht von Haller kann man wie ein grosses Museum besichtigen. Es ist ein Gebäude mit mehreren Etagen, mancherlei Räumen und unzähligen Vitrinen. Der weitläufigste Trakt konfrontiert uns mit dem wohl letzten Universalgelehrten. Im einzelnen führen die Stationen zu dem Begründer der modernen Experimentalphysiologie, dessen neues Verständnis der Lebensvorgänge einen wichtigen Beitrag zur Anthropologie des Jahrhunderts lieferte, und verzweigen sich, hin zu den Tätigkeiten des Anatomen oder des Embryologen, des praktischen Arztes oder des Botanikers.

Auf einer anderen Ebene begegnen wir der gleichen Person wieder – dann als dem ersten, der mit seinen poetischen Werken über das eigene Land hinausgewirkt hat, einem, bei dem sich zugleich schon das für seine Nachfolger bis in die Gegenwart hinein bedeutsame Muster von Emigration und Heimkehr findet. «Es war eine Zeit, da ein schweizerischer Dichter ein Widerspruch zu sein schien», merkte Lessing an: «Der einzige Haller hob ihn.» Tatsächlich wurde sein «Versuch schweizerischer Gedichten [!]» zum Bestseller, der es zwischen 1732 und 1777, seinem Todesjahr, auf elf jeweils überarbeitete Auflagen und sechzehn Nachdrucke brachte.

Dann wieder gewahren wir auf unserem Rundgang den Wissenschaftsorganisator. Der seit 1753 als vielseitig tätiger Magistrat im Dienst der Stadtrepublik Bern stehende Politiker gewinnt Konturen, der Verfasser von Staatsromanen auch, dem es vor einer zügellosen Pöbelrepublik grauste, oder der Streiter für die Prinzipien der christlichen Rechtgläubigkeit und deren gesellschaftlichen Nutzen. Immer wieder streift Haller das schier nicht für möglich Gehaltene. Mit etwa 17’000 Briefen ist der Ausstoss des kommunikativen Netzwerkers erschlagend, die etwas mehr als halb so grosse Zahl seiner Buchbesprechungen aus allen Wissensgebieten ist es nicht minder. So gross nach alledem unser Respekt geworden sein mag, dürfte die Frage jedoch unabweisbar bleiben, ob es sich bei dem vielfach begabten Mann letztlich nicht um eine, wenn auch gewaltig dimensionierte, Schattengestalt jenseits der Grenze dessen handelt, was uns heute noch angeht. Ist dem wirklich so?

Wir treffen das Einzigartige einer Epoche nur dann, wenn wir ihr mit Begriffen von historisch begrenzter Reichweite gerechtzuwerden trachten. Immerhin aber könnte man einmal versuchen, sich bei Haller auf die Suche nach Problemstellungen oder Befindlichkeiten zu begeben, wie sie uns möglicherweise unter anderer Gestalt gegenwärtig sind. Ein Anstoss dazu wäre in einem kleinen Aufsatz zu finden, in dem er rückblickend seine eigenen Gedichte mit denen des Jahrgangsgenossen Friedrich von Hagedorn vergleicht. Nur wenige Monate liegen ihre Geburtstage im Jahr 1708 auseinander, und tatsächlich haben beide zusammen einer neuen Epoche der deutschsprachigen Literatur zum Durchbruch verholfen, die man mit dem Begriff der frühen Aufklärung zu bezeichnen pflegt. So erscheint es auch Haller selbst, doch bei allen Gemeinsamkeiten, die er sieht – den Einfluss der englischen Dichtung und Intellektualität zumal, die beide von ihnen auf der Insel kennenlernten – verschweigt er nicht, was für ein ungleiches Gespann sie gewesen seien.

Von seinem «Freund», wie er den schon 1754 verstorbenen Hamburger Patrizier nennt, trennen ihn mehr als nur die Unterlegenheitsgefühle des Schweizers, für den Deutsch eine erste Fremdsprache ist, mehr als die unterschiedlichen Berufswelten oder der stilistische Duktus – im Falle Hallers ist er breit vergegenwärtigend, «mahlend», zumal in seinem berühmten 49strophigen Natur-Panorama und Sehnsuchts-Idyll «Die Alpen» (1729). «Hr. v. Hagedorn», schreibt er, «war von einem fröhlichen Gemüthe.» Selbst über seine philosophischen «Lehrgedichte» breite sich «Heiterkeit aus». Was «hingegen» der Mann aus Bern geschaffen habe, sei durch «einen eignen schwermüthigen Ton, und einen Ernst» gekennzeichnet, «der sich von Hagedorns Munterkeit unendlich unterscheidete».

Treffend sind so die Kontraste benannt. Auf der einen Seite Dichtung aus dem Geist jubelnder Weltzugewandtheit, die in eleganten Versen die «Vernunft» unter dem Vorzeichen der «holden Freude» besingt, dort deren Gegenteil in Form elegischer Gedankenschwere. Sauertöpfisch hat Haller sich im gleichen Text gegen die auf Hagedorn zurückgehende Mode der Anakreontik gewandt: den bürgerlichen Träumereien von Liebe, Wein und dem Leben als nimmer endendem Fest jenseits der Zwänge des Alltags stellt er das Pochen auf die Pflicht gegenüber – Aufklärung als Einforderung der protestantischen Ethik. Sein Werk bietet reichlich Material hierfür.

Warum aber ist Haller ausdrücklich «schwermüthig»? Fest steht zunächst, dass seine Wortwahl nicht nur auf einen Skandalbegriff der theologischen Tradition, sondern mehr noch auf einen solchen des aufgeklärten 18. Jahrhunderts zurückgreift. Doch je länger es dauerte, desto hartnäckiger nistete der dunkle Gast sich in ihm ein. Auch in dieser Hinsicht ist Haller ein erster, und eben das könnte unter heutiger Perspektive von Interesse sein.

Schwermut ist bei ihm nicht nur die Begleiterscheinung der «poetischen Krankheit». Bis zu seiner Berufung an die Universität Göttingen (1736) – als er, von Gelegenheiten abgesehen, das Dichten sein liess –, pflegte der kreative Schub ihn tatsächlich in körperlich geschwächten oder mental angefochtenen Zuständen heimzusuchen. Je wacher das Bewusstsein, desto grösser die Gefährdung durch den Trübsinn – das war für Haller keine Frage: «Daher sind Poeten und Entdekker» (also Wissenschafter, Forscher), heisst es in seinen «Anfangsgründen der Phisiologie des menschlichen Körpers» (1772), «von melancholischem Geiste, dessen Eigenschaft eine stärkere Aufmerksamkeit ist». Vor der qualvollen Klarheit des Intellekts rettet auch nicht die Flucht in extensive Arbeit, seine eingestandenermassen «unruhige Werksucht». Denn: «Viel forschen (macht) Verdruß», belehrt Haller die Leser seiner Lyrik, oder, in essayistischer Form: «Scharffsinnigkeit ist ein Vergrösserungsglas, unter welchem die angenehmen Farben verschwinden.» Kritisches Denken, so unhintergehbar es bleibt, macht nicht glücklich. Was den Menschen auszeichnet, erweist sich zugleich als eine Wurzel der Traurigkeit. In einem Prozess, der auf die Ver-Zweiflung zuzulaufen vermag, ist der Geist des Zweifels Täter und Opfer zugleich: «Er leidet ohne Frist, / Weil er gepeiniget und auch der Henker ist.»

Hallers Gedichte arbeiten sich meist an dem ab, was geeignet ist, innerweltliche Utopien zu unterlaufen. Ihm selbst, dem auch körperlich kolossalen Mann, waren Krankheiten lebenslange Begleiterinnen, bis hin zum Endspiel als frühem opium eater, der seinen Selbstversuch zwar wissenschaftlich auswertete, aber nicht mehr kontrollieren konnte. Darüber hinaus verursachte der Tod nahestehender Menschen Erschütterungen der vernünftigen Glückseligkeitslehren. Angesichts der Kontingenzerfahrungen macht sich ein metaphysisches Bedürfnis geltend – und das Missliche daran ist, dass dieses offensichtlich präsenter ist als ein fester Grund, um es zu beantworten. Das Gefühl der Fremdheit dem Leben gegenüber wächst, trotz der scheinbar offensichtlichen Ehre des weisen und menschenfreundlichen Gottes aus der Natur.

Und die Vernunft? Haller hat ihre Macht, die Grösse der ihr möglichen Erkenntnisse immer wieder emphatisch gerühmt. Gegen Rousseaus Kulturpessimismus verteidigte er die Überzeugung vom Fortschritt durch die Wissenschaften. Zur Mitarbeit an der «Encyclopédie» liess sich der philosophische Mediziner schliesslich breitschlagen, aber von den grossen Leitfiguren der französischen Aufklärung, diesen für ihn notorischen «Freygeistern», mochte er keinen: dies gilt für LaMettrie nicht minder als für Diderot, für Rousseau nicht minder als für Voltaire (ohne dass partielle Übereinstimmungen damit ausgeschlossen gewesen wären). Haller betont, dass gerade «Gelehrtheit» und «Wissenschaften … eher gemacht sind uns zu demüthigen als uns aufzublasen». Man soll viel wissen; dafür ist er mit Nachdruck eingetreten. Aber je mehr man weiss – war dieser eingefleischte Empiriker überzeugt –, desto mehr empfindet man das, was einem fehlt, desto mehr fühlt man sich «elend», im Wortsinne: unbehaust; und «in der Gegenwart Gottes etwas zu seyn», wäre purer Grössenwahn.

Dass der Mensch, dieses «unselig Mittel-Ding von Engeln und von Vieh», auf einen Gott bezogen bleibt, das erkennt für Haller zwar die Vernunft, aber es ist kein aufgeklärt domestizierter, sondern ein Gott, an dem er sich wundscheuert. In seinen postum veröffentlichten Tagebuchauszügen jedenfalls, die sich über vier Jahrzehnte bis zu seinem Tod erstrecken, sind alle schönen Gewissheiten einer rational gestützten Religion verschwunden. Hier stösst die Vernunft eben gerade nicht zu Gott vor, vielmehr wird er als deren erschreckende Andersheit erahnbar. «Schwermuth» ist ein Zentralbegriff dieser Religion – eine Erfahrung nicht des «eingebornen Lichts», das als zeittypische Metapher für die Vernunft bei ihm häufiger wiederkehrt, sondern der Finsternis.

Obwohl Haller in seinen späten «Briefen über die wichtigsten Wahrheiten der Offenbarung» (1772) schreibt, man müsse «die Beweise der Religion selbst einsehen, … selbst mit allen Kräften des Verstandes … bejahen» können, «wenn sie unsern Leiden widerstehen sollen», hätte er es besser wissen müssen: die rationale Vergewisserung reicht in existentiellen Fragen nicht hin.

Hallers Diarium ist voller Skrupel und Depressionen, voller Sünden- und Verlorenheitsängste, ein Dokument der radikalen Infragestellung, permanentes Gericht über sich selbst im Zeichen der Zerrissenheit des Menschen zwischen Selbstbewusstsein und Nichtigkeit. Natürlich kann man der in dieser tristitia spiritualis beschlossenen Provokation ausweichen, indem man sie pathologisiert (womöglich gar als in der Religion selbst – sofern sie nicht aufgeklärt, also vernünftig und praktisch ist – beschlossene Deformation). Schon die Zeitgenossen haben dies getan. Bei ihnen löste der nachträgliche Blick in die Seele dieses «grossen philosophischen Kopfs» nachgerade Entsetzen aus, ja er geriet in den Ruf des grössten Melancholikers der Epoche.

In der Einsicht, auf Erden letztlich kein Genügen zu finden, sieht sich der Aufklärer Haller auf die Religion verwiesen. Religion aber ist der Bereich, wo er Unsicherheiten aushalten muss – eine harte Erfahrung für jemanden wie ihn, der sich etwas darauf zugute hielt, eine «allen Hipotesen … zuwider lebende Gemütsart» zu besitzen.

Wiederholt führt Haller Klage darüber, dass sein «Herz» (und nicht etwa der Verstand!) Gott «nicht … kennet». In religiösen Dingen aber zählt das Wissen weniger als die innere Präsenz. Deswegen lobt schon der Dichter der «Alpen» die vorgeschichtliche Einfalt der guten Wilden, als die er seine auf den «Matten» beheimateten Landsleute identifiziert. Sie ist es, die vor der Signatur der Moderne bewahrt – dem (Selbst-)Zweifel: «Hier hat die Natur die Lehre, recht zu leben, / Dem Menschen in das Herz und nicht ins Hirn gegeben.» Damit ist in dieser Ursprungsphantasie jener Antagonismus hinfällig, der sich mit der Aufklärung verschärft.

Verstand und Herz, die beiden Grundkräfte menschlicher Selbstvergewisserung, treten dort auseinander – was übrigens nicht nur für das metaphysische Bedürfnis gilt; bis in die Lebenspraxis hinein wäre der Zwiespalt zu verfolgen. Dieses Motiv aber hebt die Haller-Lektüre über das antiquarische Interesse hinaus. Was sich bei einem ihrer grössten Gelehrten äussert, ist mehr als nur eine Selbstkritik der Aufklärung (wie sie der bedeutende Haller-Forscher Karl S. Guthke beschrieben hat). Kants «Anthropologie in pragmatischer Hinsicht» rückt den von ihrem Verfasser sonst ausserordentlich geschätzten Haller als Beispiel für die Hypochondriefalle der Selbstbeobachtung neben Blaise Pascal. Dies liesse sich auch anders akzentuieren. Tatsächlich besteht eine gewisse Nachbarschaft des Schweizers zu dem Franzosen, aber der Vergleichspunkt ist dessen Diagnose der Paradoxie seiner Existenz, die bekanntlich in der Philosophie der Moderne nachwirkt, des Spannungsverhältnisses seiner Erkenntnisebenen, das einen «Bürgerkrieg im Menschen» erzeuge. Zugespitzt formuliert (und wer Historisches in die Gegenwart transferieren will, muss dies stets ein wenig tun): im Aufklärer Haller, der – auch hier wie Pascal – Wissenschaft als nieendenden Prozess begriff, tritt ein Sinn für die Grenzen der Vernunft, ja das existentielle Unbehagen an ihr zu Tage. Das Auseinandertreten von Empirie und Metaphysik ist nicht nur eine Frage der Kollision von Wissensansprüchen.

Unsere eigenen Zwiespälte zwischen der (teils zum Käfig gewordenen) Rationalität und dem Wunsch nach ihrer Überschreitung artikulieren (oder, mit einem seiner eigenen Begriffe, «präformieren») sich schon in Haller. Eingebettet in die Tradition (und durchaus im Widerspruch zu anderem, was er geschrieben hat) lugt das unglückliche aufgeklärte Bewusstsein bei ihm bereits hervor. Gerade das aber vermag diesen Jubilar – der in jeder Hinsicht nicht einer ist, sondern viele – wahrhaft in die Gegenwart zu stellen.

Hans-Rüdiger Schwab, geboren 1955, ist Professor für Kulturpädagogik/Ästhetik und Kommunikation an der Katholischen Fachhochschule Nordrhein-Westfalen, Münster.

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