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(3) Zum rationalen Umgang mit ökonomischem Misserfolg

Investieren ist spekulieren und enthält somit Misserfolg immer schon als Möglichkeit. Die Kunst besteht darin, in einer unübersichtlichen Welt hinreichende Integrität durchzusetzen, ohne die Hexenjagd zur Institution zu erheben.

Investitionen und Unternehmen beruhen auf Spekulationen. Diese erfolgen bzw. bestehen fort aufgrund von Vorstellungen über das Funktionieren von Welt und Wirtschaft und sind auf eine Zukunft gerichtet, die nicht anders als unsicher sein kann. Diese Zukunft ist gesamtwirtschaftlich und erst recht einzelwirtschaftlich selbst dann unsicher, wenn die Investoren und alle ihre vielstufigen delegierten Organe und Treuhänder in voller Integrität handeln. Wissen, Können, Fachkompetenz und Anstrengung mögen den statistischen Erwartungswert des Resultats verändern, die Bandbreite der möglichen effektiven Ergebnisse bleibt indessen gross.

Deshalb auch ist das Konkursverfahren nicht ein Strafprozess, sondern eine allen Beteiligten grundsätzlich im voraus bekannte Abwicklungsprozedur im stets möglichen Fall der Insolvenz. Wer mit einer Kapitalgesellschaft mit beschränkter Haftung in irgendeiner Eigenschaft geschäftliche Kontakte pflegt, weiss «schon immer», dass die Aktionäre mit ihrem Residualanspruch bei Insolvenz leer ausgehen und dass die verschiedenen Klassen von Gläubigern insgesamt nicht mehr als den Wert der Aktiven der Firma beanspruchen können und keinerlei Anspruch auf die Privatvermögen der Gesellschaftsorgane haben und dass es für Misserfolg grundsätzlich keine Satisfaktion in Form von Strafe gibt. Wer sich an einer solchen Firma als Minderheitsaktionär beteiligt, weiss auch, dass er ein Management und eine Governance kauft, auf die er keinen Einfluss hat und die durch «die anderen» (die Grossaktionäre und allenfalls durch die anonyme Masse der anderen Kleinaktionäre) bestimmt werden – ein Management und eine Governance, die er samt ihren Irrtümern kauft. Wer persönliche Kontrolle im Sinne seiner eigenen Einschätzungen von Welt und Markt anstrebt, muss in seine eigene, private Firma investieren – und mit seinen eigenen Irrtümern rechnen.

Dennoch scheinen genau diese klugen Regeln in vielen Fällen von Unternehmensmisserfolg in Frage gestellt zu werden. Beinahe reflexartig wird im Misserfolgsfall die persönliche Haftung der Organe mit deren Privatvermögen eingeklagt, namentlich dort, wo die Organe über Privatvermögen verfügen. Die beschränkte Haftung wird geradezu als stossend empfunden da, wo die Organe eigenes Vermögen besitzen. Und nicht selten wird auch Strafe verlangt und werden Strafverfahren eingeleitet. Drei Umstände tragen zu diesen eigentlich systemwidrigen Reaktionen gegenüber Misserfolgen von Kapitalgesellschaften bei.

Erstens haben finanziell Enttäuschte die Neigung, dort Geld zu suchen, wo (noch) welches vorhanden ist.

Zweitens haben jene Medien, die an die Welt die höchsten und an sich selbst die niedrigsten moralischen Ansprüche stellen, ein natürliches Interesse an Beschämung und Schauprozess.

Drittens aber bringt der Konkurs bisweilen Dinge an den Tag oder in ein neues Licht, die bei anhaltender Prosperität nicht entdeckt, oder wenn entdeckt, nicht besonders beachtet worden wären, oder die gar in Managementjournalen als bewundernswerte Kühnheit gefeiert wurden oder worden wären.

Dieser dritte Umstand – die Aufdeckung nicht integren Verhaltens – ist es, der den beiden anderen in nicht allzu seltenen Fällen eine nachträgliche Weihe verleiht. Bei einem Konkurs findet sich eine heterogene Gruppe zusammen, die ein Interesse daran hat, Verhaltensweisen besonders kritisch zu analysieren: die Gläubiger im weiteren Sinne und die Sensationspresse. Erstere wollen Geld holen, wo es noch welches gibt, auch wenn sie darauf möglicherweise gar keinen Anspruch haben, und letztere wollen den Schauprozess und die exemplarische Strafe.

Während der Fall des auf lange Sicht arglistig planenden Betrügers sehr selten sein dürfte, zeigen auch «gewöhnliche» Menschen in finanziellen Zwangslagen bestimmte typische Verhaltensweisen. Nicht nur gehen sie, wenn sie nichts mehr zu verlieren haben und somit aus Risiken fast nur noch gewinnen können, in kurzsichtiger Rationalität enorme Risiken ein, sondern sie nehmen die Risiken oftmals gar nicht mehr als solche wahr. Es gibt kaum Leute, die phantastischere Vorstellungen über quasi sichere Gewinnmöglichkeiten haben als Bankrotteure in jenem trüben Limbus kurz vor der Deponierung der Bilanz. Sie klammern sich an Hoffnungen, die mit der Realität wenig zu tun haben, die aber in Erfüllung gehen würden «sofern nur ein kleiner (und manchmal auch ein grösserer), zeitlich limitierter Überbrückungskredit erhältlich wäre». Die Schuld am Scheitern wird dann jenen Institutionen zugeschoben, die sich – meist aus sehr rationalen Gründen – weigern, ebendiese «Überbrückung» zu gewähren.

Das Eingehen von Risiken, auch grosser Risiken, ist an sich nicht ehrenrührig, doch erfolgt dann oft ein weiterer Schritt, in dem die Selbstachtung durch Erfolg über die Selbstachtung durch Integrität siegt. In der Hoffnung auf einen Turnaround, der nur gerade um die Ecke zu liegen scheint, wird bisweilen zu unehrenhaften Operationen gegriffen, zu denen dieselben Personen sich in normalen Zeiten nicht bereitgefunden hätten.

Überbrückungsmentalität schlägt um in Überbrückungskriminalität. Es sind dies Veruntreuungen, Urkundenfälschungen usw., in der Hoffnung, auf dem kleinen Umweg über die unentdeckte Unehrenhaftigkeit rasch und ohne Aufsehen wieder zu ostentativer Ehrenhaftigkeit und sichtbarem Erfolg zurückzukehren. Eine in aller Ehrenhaftigkeit entstandene geschäftliche Zwangslage wird zum Nährboden für Wirtschaftskriminalität. Not kennt kein Gebot für Menschen, die sich nie geistig-philosophisch auf Misserfolg vorbereitet haben. Deshalb sind nicht alle Zivilklagen und Strafverfolgungen nach Firmenmisserfolgen Hexenjagden, aber gewisse sind es, und es ist schwierig, ex ante eine Hexenjagd von der Verfolgung eines gerechtfertigten Verdachts zu unterscheiden.

Wie in vielen anderen komplexen Bereichen des Lebens, hat man es mit dem Problem zu tun, das die Statistiker als das Dilemma zwischen Fehlern erster und Fehlern zweiter Art zu bezeichnen pflegen. Im Unternehmensmisserfolg äussert sich dieses einerseits im Verzicht auf Sanktionierung einer Verfehlung oder eines Verschuldens, und anderseits im entgegengesetzten Fehler des Verlangens nach zivil- oder gar strafrechtlicher Sanktion, wo kein tadelnswertes Verhalten vorliegt. Während im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts ein Justizirrtum in Form fälschlicher Bestrafung eher selten sein dürfte, mag ein anderer Fehler zweiter Art wesentlich häufiger sein, nämlich der Fall, dass eine exponierte Person zwar schliesslich zivil- und strafrechtlich rehabilitiert wird, ihr Vermögen, ihre berufliche Stellung, ihre Familie und ihr Ruf jedoch durch jahrelange Verdächtigungen, Prozesse und Zeitbelastungen ruiniert worden ist.

Da die Null-Fehler-Lösung ausser Reichweite ist, erhöht der Versuch, die Inzidenz von Fehlern der einen Art radikal – etwa nach dem Motto «Jagt sie alle, damit sicher keiner entwischt» – zu vermindern, automatisch die Inzidenz von Fehlern der andern Art.

Die mangelnde Einsicht in dieses Dilemma führt dazu, dass jeder spektakuläre Konkurs und jede gesamtwirtschaftliche Rezession mit ihrem unvermeidlichen Friedhof gescheiterter Firmen Postulaten wie «keiner darf entkommen» und «nie wieder …» Auftrieb verleiht. Das Resultat sind stets anwachsende Kompendien von Regeln, ein ausufernder Apparat von Aufsicht und Regulierung, eine explodierende und potentiell lähmende interne und externe Compliance-Industrie und schliesslich eine Lähmung der wachstumsnotwendigen Risikobereitschaft. Über zivilrechtliche Haftungsregeln hinaus werden die expandierenden Regeln auch zunehmend mit strafrechtlichen Sanktionen bewehrt. Blindheit gegenüber Kosten von Fehlern der zweiten Art bedeutet, den Unterschied zwischen gut und gut gemeint zu ignorieren.

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