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(3) Wie die Kleinen die Grossen überholen

Die Kleinkantone nutzen ihre Chance. Mit attraktiven steuerlichen Rahmenbedingungen locken sie neue Unternehmen, kurbeln das Wirtschaftswachstum an und stoppen die Abwanderung. Die grossen Kantone müssen aufpassen, dass sie nicht ins Hintertreffen geraten.

Die kleinen Kantone haben mehr Handlungsspielraum als die grossen – und sie nutzen ihn: der kleinste Schweizer Kanton, Appenzell Innerrhoden, begann in den 1990er Jahren, seine Steuerbelastung für Unternehmen, für Gutbetuchte, aber auch für den Mittelstand sukzessive zu senken. Das Vorgehen wurde anfangs von der Konkurrenz der Grossen kaum beachtet. Mit Erfolg für die Kleinen: Millionäre und prosperierende, wertschöpfungsstarke Unternehmen siedelten sich an, Arbeitsplätze entstanden. So konnten die Steuern weiter gesenkt werden – ein positiver Teufelskreis sozusagen.

Innerrhoden tat das, was der Kanton Zug bereits in den 1980er Jahren vorgemacht hatte, damals noch ein Landwirtschaftskanton mit einem grossen Industriebetrieb, dem Stromzählerproduzenten Landis + Gyr. Schwyz folgte dem Beispiel steuersparender Innovation, der Kanton schaffte als erster die Erbschaftssteuer ab und fand sofort Nachahmer, darunter Appenzell Ausserrhoden. Inzwischen gehören auch Obwalden, Nidwalden und Schaffhausen zum Klub der kleinen Steuerparadiese. Im Jahre 2007 schaffte es Obwalden dank seiner Unternehmenssteuerreform, den Kanton Zug zu überholen. Der Zuzug an neuen Unternehmen bestätigte die Richtigkeit dieser Strategie, die nun auch in Ausserrhoden verfolgt wird.

Zurück zum Anfang und den 1990er-Jahren: Während also die Stadtsanktgaller noch immer über die «Steuerflüchtlinge» wetterten, die ins ausserrhodische Teufen zogen, war die Steuerbelastung in Innerrhoden längst viel geringer geworden. So kam es, dass sich St. Galler und Ausserrhoder irgendwann plötzlich verwundert die Augen rieben.

Ausserrhoden wurde von den St. Gallern zwar weiterhin als «Steuerparadies» beneidet; doch die Aufmerksamkeit des Kantons war durch die Folgen seines Kantonalbank-Debakels absorbiert. Die in Schwierigkeiten geratene Bank war 1996 nach einem Landsgemeinde-Entscheid an die UBS verkauft worden, und die finanzielle Bewältigung dauerte für Ausserrhoden zehn Jahre. Der Kanton drohte trotz Paradies-Label ins steuerliche Abseits zu schlittern; es musste gespart werden. Da kam die Rettung in Form der Nationalbank-Goldmillionen des Bundes genau zum richtigen Zeitpunkt – Ausserrhoden konnte die Steuern innert kurzer Zeit um insgesamt 15 Prozent senken.

Finanzdirektor Köbi Frei (SVP) setzte noch eins drauf. Mit degressiver Besteuerung von Einkommen über 1,5 Millionen Franken und Vermögen über 50 Millionen Franken wollte er Ausserrhoden zum Goldland am Säntis machen. Für Topverdiener mit einem Jahrseinkommen von über 8,5 Millionen Franken wäre Teufen die steuergünstigste Gemeinde der Schweiz geworden, noch vor der Spitzenreiterin in dieser Kategorie, Wollerau im Kanton Schwyz. Aber dazu kam es nicht; das Volk sagte zwar ja, das Bundesgericht pfiff den Kanton jedoch zurück. Das oberste Gericht erklärte die Abstimmung für ungültig, weil die Einheit der Materie verletzt worden sei.

Der Ausserrhoder Finanzminister doppelte sofort nach – diesmal mit einer Vorlage zur Reduktion der Unternehmenssteuer. Das Volk sagte wiederum ja. Ausserrhoden senkte die Gewinnsteuern der Firmen auf 6 Prozent und wurde zum Steuerparadies für Unternehmen. Seit 2008 haben Ausserrhoden und Obwalden die tiefsten Unternehmenssteuern des Landes.

Mit total noch 12,5 Prozent (inklusive Bundessteuer) liegen die beiden kleinen Kantone an der Spitze. In Ausserrhoden beträgt die Dividendenbesteuerung 60 Prozent. Damit ist der Kanton für Firmen zum attraktivsten Steuerstandort der Schweiz geworden. Europaweit rückten Ausserrhoden und Obwalden, zusammen mit Irland, auf den zweiten Platz hinter Zypern vor. Die Unternehmenssteuerreform kostet Ausserrhoden jährlich 17 Millionen Franken. Die Einbussen sollen durch Mehreinnahmen aus dem induzierten Wachstum kompensiert werden. Das kleine Steuerwunder ist Tatsache geworden.

Für das Jahr 2010 kündigte Finanzdirektor Frei eine weitere Steuersenkung an. Bei der nächsten Steuergesetzrevision sollen kleine und mittlere Einkommen sowie Vermögen entlastet werden. Auf eine Flat Rate Tax will Ausserrhoden verzichten; mittlere Einkommen zwischen 80’000 und 120’000 Franken würden dadurch am stärksten belastet. Der Mittelstand soll nicht bestraft, sondern gestärkt werden.

Seither bewegt sich etwas. Die Veranstaltungen, an denen Finanzdirektor Köbi Frei und seine Crew die Steuerreform vorstellten, waren überbucht, die Säle rappelvoll. Es gibt zahlreiche Anfragen von Treuhändern und Interessenten für den Unternehmensstandort Ausserrhoden. Zu Jahresbeginn waren die Anfragen bei der Wirtschaftsförderung «gewaltig», sogar Firmen aus dem Kanton Zug waren darunter. Alte Liegenschaften werden für neue Firmensitze angeboten. Vor dem Steuer-Hattrick gab es nicht einmal Anfragen.

Ausserhoden hatte dasselbe Schicksal geblüht wie Obwalden; es wäre ohne seine Steuerpolitik verarmt, wäre zum Almosenempfänger des Neuen Finanzausgleichs (NFA) geworden. Zum Glück hat der Kanton nie übermässig hohe Schulden angehäuft. Dank der Verteilung des Erlöses, den die Nationalbank aus dem Verkauf ihrer Goldreserven an die Kantone ausschüttete, ist er heute schuldenfrei. Der Goldsegen brachte den dringend nötigen Schub, denn der Kanton litt unter steter Abwanderung. Er verlor sogar seinen zweiten Nationalratssitz. Jetzt soll die Trendwende kommen. Mit den 50 Millionen aus dem Nationalbankgold-Topf können die Gemeinden ihre Steuerausfälle abfedern und die Steuern senken. Einige Ausserrhoder Kommunen betreiben längst eine kluge Steuerpolitik und entwickeln sich erfolgversprechend. Andere Gemeinden ziehen es hingegen vor, nicht zu wachsen.

Auch ohne degressive Steuern für Reiche, sind bereits einige Millionäre und Prominente nach Teufen und Appenzell gezogen – keine Supermillionäre, die Residenzen im Kanton Schwyz vorziehen, aber Menschen, die jene für das Appenzellerland typische Kombination von Diskretion und Sicherheit schätzen und die alle Vorzüge des Lebens auf dem Lande mit der Nähe urbaner Infrastrukturen verbinden wollen.

Der Fokus der Wunschzuzüger bei den Firmen liegt auf Unternehmen des Dienstleistungssegments, High-Tech-Firmen mit hoher Wertschöpfung und ohne grossen Raumbedarf. Die Wunschkandidaten kommen vor allem aus Süddeutschland: Unternehmen, die an verschiedenen Orten Arbeitsplätze schaffen und dorthin gehen, wo es für sie am attraktivsten ist.

Aber auch Weggezogene finden ihren Weg zurück in die Heimat. Die Innerrhoder hätten hier die Nase vorn, räumen die Ausserrhoder ein, der noch kleinere Nachbar pflege gute Beziehungen zu ihnen. Der Innerrhoder Landammann Bruno Koster bestätigt dies: wenn Arbeitsplätze zur Verfügung stünden, kämen die «Ausgewanderten» zurück. Ausschlaggebend für den Erfolg sei die Philosophie des Steuergesetzes. Wenn sie überzeugend sei und vom Steuerzahler als gerecht empfunden werde, sei sie tragfähig. Innerrhoden wählte einen pragmatischen Weg. Abwerbung in anderen Kantonen ist tabu; in der Region gibt es keinen Verdrängungskampf. Im Gegenteil, Innerrhoden habe auch schon einen Betrieb nach St. Gallen vermittelt, sagt Koster.

Die Innerrhoder nehmen nicht jeden. «Zur Wirtschaftsförderung gehört es, in drei oder vier von fünf Fällen nein zu sagen, immer dann, wenn wir spüren, dass jemand nicht zu uns passt», sagt Koster. Das erfordere ein feines Gespür und grosses zeitliches Engagement. Viele Zuzüger passten extrem gut nach Innerrhoden: «einer, der hierher zieht, identifiziert sich schon stark mit Appenzell, er akzeptiert das System». Das sei der Schlüssel zum Erfolg. Mit jedem Zuzüger würden Spielregeln vereinbart. Das sei eine Riesenchance für die Kleinen: Überschaubarkeit und Geduld.

Im permanenten Steuerknatsch zwischen St. Gallern und Appenzellern echauffieren sich die St. Galler seit Jahren. Die Appenzeller hingegen bleiben cool. «Die Ostschweiz muss ein starkes Zentrum gegenüber der Wirtschaftsmacht Zürich sein – St. Gallen, beide Appenzell und der Bodenseeraum», sagt der Ausserrhoder Landammann Jakob Brunnschweiler zur Steuerkonkurrenz.

St. Galler Kantonsräte hatten auch schon mal «Kompensationen» der Appenzeller für die zentralörtlichen Leistungen St. Gallens gefordert. Die Appenzeller konterten, man könnte als Naherholungsgebiet für die St. Galler auch Wegzölle einführen. Es sei ein Geben und Nehmen.

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(0) Auftakt

«Herkunft aber bleibt stets Zukunft» – so Martin Heidegger. Doch genügt der Stolz auf die Herkunft, um stets auch Zukunft zu haben? Die beiden Appenzell, Innerhoden und Ausserrhoden, sind – jedes in seiner Weise – traditionsbewusst. Heimat wird in beiden Gemeinschaften nicht «im Blick zurück» erlebt, sondern im behutsamen Umgang mit dem Neuen. Zunächst muss […]

(2) «Wir haben einen Sympathiebonus»

Robert Nef im Gespräch mit Marianne Kleiner Von aussen wird das Appenzellerland mehr von seiner traditionellen Seite wahrgenommen. Tatsächlich haben die kleinen Gemeinschaften nur überlebt, weil sie sich immer wieder an neue Situationen angepasst haben, ohne ihre Eigenheiten aufzugeben. Gedankenaustausch zweier Appenzeller über ihren Heimatkanton.

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