(3) Vom Schwarm und Schwärmen
Es gibt beides: die geträumte und die wirkliche Schweiz. Der Unterschied ist kleiner, als viele glauben. Warum deutsche Unternehmer ihr Glück in der Schweiz versuchen.
Das schwärmerische Bild, das die meisten Deutschen von der Schweiz haben, ist das eines Sehnsuchtsorts. Wenn dieses Bild Schaden nähme, wäre nicht so sehr die Eidgenossenschaft beschädigt, sondern vor allem das träumerische Selbstverständnis der Deutschen. Sag mir, wonach Du Dich sehnst, und ich sage Dir, wer Du bist…
In diesen Wachträumen ist die Schweiz ein kleines, überschaubares, heimeliges und wohlhabendes Land im Süden, in dem die Bürger vernünftiger sind und vieles selbst direkt entscheiden, wo der soziale Zusammenhalt enger und harmonischer ist, wo die Verfassung die Freiheitsrechte und somit auch das Bankgeheimnis besser schützt, wo die Politik klüger steuert und weniger besteuert, wo die Wirtschaft schier gottgegeben brummt und Vollbeschäftigung herrscht. Es kommt noch der schlichte Wohlfühlfaktor hinzu, den eine spektakuläre Landschaft dem Betrachter gratis spendiert, tagein, tagaus.
Das alles ist dabei nicht nur ein schöner Traum, es ist auch tatsächlich so. Die Schweiz ist eine positive soziale Realität, ein erfolgreiches Experiment des politischen Zusammenlebens, das bekanntlich seit mehr als 700 Jahren abläuft, und dies in einer zwar berückenden, den Bürgern aber seit eh und je einiges an Beharrlichkeit und Kreativität abverlangenden Topographie. Naiv ist die sehnsüchtige Wahrnehmung also durchaus nicht, zumal die Deutschen auch einen kühlen Blick für Schattenseiten haben: für die vergleichsweise hohen Lebenshaltungskosten, eine nicht immer ganz einfache innere Integration, eine starke soziale Kontrolle, eine gewisse Enge.
Der Deutsche ist zwar romantisch veranlagt, aber er kann auch rechnen. Und das präzise. So geben für die Entscheidung vieler Deutscher, ihr Glück im Nachbarland zu versuchen, zumeist materielle Gründe den Ausschlag. Der erträumte Wohlfühlfaktor greift erst später – aber er greift verlässlich. Enttäuscht wird kaum einer, und ein Fünftel will für immer bleiben. Wie der Schweizer Internet-Vergleichsdienst comparis.ch herausgefunden hat, kommen die meisten deutschen Einwanderer aus rationalen Gründen – wegen der Aussicht auf mehr Lohn, geringere Steuern und bessere Beschäftigungsaussichten. Bei einer Arbeitslosenquote von 2,4 Prozent (Mai 2008) in der Schweiz und 9,1 Prozent in Deutschland ist vor allem letzteres ein zugkräftiges Argument. Wenn die Deutschen erst einmal da sind, verlieren die materiellen Gründe für sie freilich an Bedeutung, und sie freuen sich vor allem über das schöne Land und die netten Menschen.
Auch das ist nicht nur schöner Traum, der im Alltag dann rasch weicht, sondern Realität, aller medialen Stimmungsmache im «Blick» (unter der hässlichen Überschrift «Wie viele Deutsche verträgt die Schweiz?») zum Trotz. Im vergangenen Jahr sind unter dem neuen Regime der Personenfreizügigkeit netto gut 30’000 Deutsche in die Schweiz gekommen, vor allem gut ausgebildete Fachkräfte aus dem Dienstleistungssektor. Die Deutschen sind damit die am raschesten wachsende Volksgruppe in der Schweiz; man spricht von der «neuen deutschen Welle». Derzeit beträgt ihre Zahl rund 202’000, bei einer Landesbevölkerung von etwa 7,6 Millionen. 202’000, das ist zwar immer noch weniger als vor dem ersten Weltkrieg, als es 220’000 waren. Aber es bedeutet eine Verdoppelung innerhalb von acht Jahren.
Im Stadtbild ist es längst sichtbar, vor allem in den Metropolen. Wer kennt sie nicht, den sächselnden Kellner im Café an der Bahnhofstrasse in Zürich oder die rheinische Kassiererin im Kaufhaus? Die Sorgen mancher Schweizer, dass die Deutschen ihnen Arbeitsplätze wegnehmen oder zumindest die Löhne drücken, haben sich nach einer Analyse des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) nicht bewahrheitet.
Aber auch Unternehmer und ihre Unternehmen zieht es in wachsender Zahl in die Schweiz, kleine wie grosse, Eigentümer-Unternehmer wie auch Manager. Gerade letztere bezeichnet Roger Köppel, Verleger und Chefredaktor der «Weltwoche», als einen «Segen für die Schweiz» und lobt insbesondere die Arbeit von Christoph Franz bei Swiss, Jürgen Dormann bei ABB, Carsten Schloter bei der Swisscom und Martin Kall bei Tamedia. Auch Thomas Limberger hat bei Oerlikon Grosses geleistet, obschon ihm sein hohes Salär am Ende übelgenommen wurde und er einpacken musste. Ulrich Schumacher, einst Vorstandsvorsitzender des Halbleiterherstellers Infineon, drohte 2003 nur – vor dem Hintergrund der deutschen Steuern und der Auswüchse der deutschen Mitbestimmung – mit Standortverlagerung, stiftete aber doch einigen Aufruhr. Spektakulär war im selben Jahr die dann auch tatsächlich erfolgte Standortflucht Theo Müllers, des Alleineigentümers von Müller-Milch, der gegen die enteignende deutsche Erbschaftsteuer zu Felde zog und noch immer zieht. Der Westfale Otto Happel, ehemals GEA-Grossaktionär und heute immerhin einer der 300 reichsten Einwohner der Schweiz, hat im Kunst- und Kulturzentrum Luzern seine Holding angesiedelt, die Vermögensverwaltungsgesellschaft Luserve AG. Doch reine Standortfluchten sind selten und von ganzen Schwärmen deutscher Unternehmen, die in die Schweiz einfallen, kann auch keine Rede sein, mancher Aufregung in Deutschland und in der Schweiz zum Trotz.
Die meisten deutschen Unternehmen haben sich nicht im engeren Sinne verlagert, sondern schlicht Niederlassungen gegründet, allen voran fast sämtliche deutschen Banken, von der Deutschen Bank bis zu Berenberg. Und dabei wird immer scharf gerechnet. Offiziell sind rund 1’000 deutsche Unternehmen als in der Schweiz tätig gemeldet, mit einem Jahresumsatz von insgesamt gut 46 Milliarden Euro und fast 100’000 Mitarbeitern. Der Geschäftsführer der Handelskammer Deutschland–Schweiz, Ralf Bopp, schätzt die tatsächliche Zahl (einschliesslich der Unternehmen, die zu klein sind, um gemeldet werden zu müssen) aber etwa doppelt so hoch. Was in all der künstlichen Aufregung über die «neue deutsche Welle» gern vergessen wird, ist die Tatsache, dass die Bilanz in umgekehrter Richtung noch beeindruckender tönt. In Deutschland sind offiziell 1’200 schweizerische Unternehmen tätig, und diese setzen im Jahr rund 76 Milliarden Euro um und beschäftigen mehr als 250’000 Menschen. In realer Rechnung dürften sich auch diese Zahlen verdoppeln.
Dass es die Wirtschaft in die Schweiz zieht – Kunststück, mag man meinen, angesichts der niedrigen persönlichen Steuern und Unternehmenssteuern sowie der höchst kreativen Wirtschaftsförderung der Kantone. Der grosse Unterschied zu Deutschland in dieser Hinsicht sind die Spielräume, die das föderale System den Kantonen in der Besteuerung lässt. Ralf Bopp bescheinigt den Kantonalverwaltungen «grössere Gesprächsbereitschaft» und eine Flexibilität, die regelmässig in Sondervereinbarungen mündet. Die Kantone Obwalden und Schaffhausen hatten zudem 2005 mit einer degressiven Besteuerung von Einkommen und Vermögen Furore gemacht; inzwischen sind die entsprechenden Gesetze vom Bundesgericht jedoch gekippt worden.
So wichtig, wie das Klischee es glauben macht, ist der im Vergleich mit Deutschland behutsamere fiskalische Zugriff und die aktive Wirtschaftsförderung freilich nicht – auch wenn, wie Bopp sagt, die Deutschen da «sehr alert» sind. Grössere Anziehungskraft noch entfalte die umfassendere unternehmerische Freiheit, die man in der Schweiz geniesse. So seien die Unternehmer frei von der unternehmerischen Mitbestimmung, und derart einengende und teure Vorschriften wie das deutsche Antidiskriminierungsgesetz gebe es auch nicht. Es gibt so gut wie keine Streiks – die dezentral organisierten Gewerkschaften überspannen den Bogen selten. Eine weitere Erleichterung ist der geringere Kündigungsschutz. All dies heisst freilich nicht, dass es in der Schweiz besonders brutal zugehe. Wie Ralf Bopp betont, erlaubt es diese Flexibilität den Unternehmen vielmehr, den gesamtwirtschaftlichen Strukturwandel laufend im Inneren nachzuvollziehen, und das hält die Wirtschaft wettbewerbsfähiger.
Auch das technologische Umfeld in der Schweiz ist besonders günstig, mit der grossen Dichte von Forschungseinrichtungen wie den Eidgenössischen Technischen Hochschulen in Zürich und Lausanne sowie den Universitäten im ganzen Land. Zudem sind die Behördenwege kürzer und einfacher als in Deutschland, die Planungssicherheit ist grösser, die Sozialabgaben liegen weit niedriger, die Infrastruktur ist umfangreich und gut im Schuss. Und schliesslich wird in der Schweiz mehr gearbeitet als in Deutschland. Die Wochenarbeitszeit in der Schweiz beträgt durchschnittlich 41 Stunden, gegenüber 36 Stunden in Deutschland, und in der Schweiz sind für einen Arbeitnehmer unter 50 Jahren 4 Wochen Urlaub üblich, gegenüber 6 Wochen in Deutschland. Wichtig seien auch die niedrigeren Lohnnebenkosten, sagt Bopp. Dass in der Schweiz die Arbeitgeber keine Krankenversicherungsbeiträge für ihre Angestellten entrichten müssten, sei schon eine spürbare Entlastung.
Für viele deutsche Unternehmen ist die Schweiz darüber hinaus auch schlicht als Markt attraktiv. Das Engagement der Deutschen in der Schweiz ist in der Regel kein kurzer, schwärmerischer Flirt, sondern es ist auf Dauer angelegt. So hat sich der Elektroinstallationsspezialist OBO Bettermann schon vor vielen Jahren im Kanton Nidwalden niedergelassen, Trumpf hat in Grüsch (Graubünden) eine Filiale gegründet, Aldi plant jetzt die Errichtung des schweizerischen Hauptsitzes in Schwarzenbach in der Ostschweiz. Der Schraubenhändler Würth sitzt in Arlesheim. Die Würth AG (Schweiz) wurde schon 1962 mit dem einfachen Ziel gegründet, in der Schweiz Fuss zu fassen und Marktanteile zu erobern. Aus dem Zweimannbetrieb der Anfangszeit ist in 46 Jahren ein Unternehmen mit 572 Mitarbeitern und einem Jahresumsatz von 146,1 Millionen Franken entstanden. «Die Möglichkeit zur Potentialausschöpfung auf dem Schweizer Markt war entscheidend für die Eröffnung der Auslandsgesellschaft», sagt Andrea Frei von der Würth International AG, die in Chur ihren Sitz hat und als Konzerndienstleisterin übergeordnete Aufgaben für die gesamte Würth-Gruppe wahrnimmt. «Da hat sich gar nicht die Frage gestellt, was in der Schweiz besser ist als in Deutschland.»
Und dennoch hat die Schweiz klare Stärken. Bopp nennt die Nähe zum Kunden, zu den Lieferanten, zu Deutschland, die zentrale Lage in Europa, die Qualität der Arbeitskräfte – das alles sei «Spitze». Allerdings müsse, wer sich in der Schweiz unternehmerisch betätigen wolle, den Markt vorher sorgfältig sondieren, warnt er. Man müsse sich die Kleinheit des Schweizer Markts bewusst machen: «Für viele rechnet sich das nicht.» Und man dürfe nicht vergessen, dass die Schweiz trotz der Personenfreizügigkeit noch immer keine Zollunion mit der EU habe, dass es also weiterhin Grenzkontrollen im Warenverkehr gebe – das koste Geld und sei lästig. Und schliesslich gehe die föderale Vielfalt der Schweiz damit einher, dass es nicht nur fiskalische Flexibilität, sondern auch vielfältige, voneinander abweichende Bestimmungen in den 26 Kantonen gebe – und damit auch ein gewisses Mass an Intransparenz und Zusatzadministration.
Doch auf jeden Fall ist die Schweiz gesamtwirtschaftlich ein sicherer Hafen – zumal jetzt, in einer Zeit, wo der Aufschwung in Deutschland abflaut und das Wirtschaftswachstum in der Schweiz, trotz des bereits hohen Wohlstandsniveaus, kräftiger und stabiler ist als andernorts, mit Zuwachsraten des Bruttoinlandprodukts von 3,1 Prozent im vergangenen Jahr und noch geschätzten knapp 2 Prozent im laufenden Jahr. Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) rechnet, trotz der Abschwächung der Weltkonjunktur infolge der Finanzmarktkrise und den gestiegenen Rohstoffpreisen, nicht mit einem starken Abschwung, sondern erwartet eine – allerdings verlangsamte – Fortsetzung des Wachstums in der Schweiz, nicht zuletzt dank einer robusten Inlandnachfrage. Die Inlandnachfrage als Wachstumsmotor, das ist den Deutschen fremd. Darin zeigt sich abermals das hohe Wohlstandsniveau der Schweiz, wo das Pro-Kopf-Einkommen 2007 nach Berechnungen des Internationalen Währungsfonds 40’590 Dollar beträgt, gegenüber 33’023 Dollar in Deutschland.
Nicht nur ist der Standort Schweiz – schon so, wie er ist – komfortabel. Auch die derzeit deutlich erlahmende Reformdynamik in Deutschland macht die Eidgenossenschaft im Vergleich attraktiver, wie das jüngste DACH-Reformbarometer des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln, der Wirtschaftskammer Österreich und von Avenir Suisse verdeutlicht.* Zwar werden darin als noch lauernde Schwachpunkte der Schweiz die Fehlanreize in den Sozialsystemen genannt, die verhindern, dass das Arbeitsangebot besser ausgeschöpft wird; die starre Altersbegrenzung der Erwerbstätigkeit; die ausbleibende Verlagerung von direkten zu indirekten Steuern. Doch das sind Klagen auf hohem Niveau. Schwärmen für die Schweiz: das ist weiterhin erlaubt.
* IW Köln/WKÖ/Avenir Suisse (2007): «Das DACH-Reformbarometer. Reformpolitik in Deutschland, Österreich und der Schweiz».