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(3) Kunst ist Kunst ist Kunst

Reine Quote ist Quatsch. Denn Kunst ist Kunst. Doch kann Kunst von der Konkurrenz durch den Kommerz profitieren. Ein Plädoyer für den Dialog.

Im «Vorspiel auf dem Theater», das Goethe seinem «Faust» voranstellt, sagt der Theaterdirektor – heutzutage heisst er Intendant – zur «Lustigen Person»: «Die Masse könnt ihr nur durch Masse zwingen. Ein jeder sucht sich endlich selbst was aus. Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen, und jeder geht zufrieden aus dem Haus.» Ja, so einfach war das damals. Doch inzwischen hört sich dieser Text an wie der eines mittelmässigen Fernsehprogrammchefs. Es könnte auch heissen «wer vieles bringt, wird Quote bringen».

Vor allem Festivals in Deutschland und in der Schweiz bekommen öffentliche Unterstützung, direkte und indirekte, und wären wohl ohne Subventionen weder entstanden noch lebensfähig. Eines der jüngsten, die Ruhrtriennale, im rusty belt von Duisburg bis Dortmund, wird vom Land Nordrhein-Westfalen und seinen jeweiligen Regierungen, unabhängig von der politischen Richtung, grosszügig unterstützt. Weil diese wussten und wissen, wie wichtig ein solches kulturelles Ereignis für das Überleben der Region ist, haben sie auch in mageren Zeiten in die Stadtsäckel gegriffen.

Die Ruhrtriennale ist keine gewöhnliche Ansammlung touristischer Errungenschaften, wie so oft anderswo, sondern eine intensive Auseinandersetzung mit neuen theatralischen Formen und dem, was wir landläufig lapidar «Zeitgeist» nennen (und den wir nicht wirklich kennen, Gott sei Dank). Es gibt viele und immer mehr Festivals dieser Art, die sich um ästhetischen Fortschritt bemühen. Es ist Fremdenverkehr auf eine andere Art. Es gibt allerdings auch solche Festivals, und davon auch mehr als genug, die Gefahr laufen, zu reinen kommerziellen und touristischen Events zu degenerieren.

Diese Festivals arbeiten zumeist mit einigen wenigen, teuren Stars. Örtliche Sponsoren lassen dafür gerne mal etwas springen, um sich im Glanze der Promis zu sonnen. Manchmal hilft auch das Wirtschaftsdezernat. Schliesslich geht es auch um Förderung der Hotellerie und Gastronomie am Ort. Das wollen wir nicht tadeln, denn es ist gut investiertes Steuergeld. «Umwegrentabiliät» ist das Zauberwort. Doch Vorsicht! Wenn das der einzige Zweck ist, wird aus dem würzigen Wein der Kunst bald Essig.

Es gibt ja mittlerweile in jedem Heustadel, Kreuzgang und Steinbruch ein Barock-, Renaissance-, Gamben-, Lauten-, Englischhorn-Festival. Eine wahre Flut – gibt es zu viel Kultur? Ist zuviel Überfluss, zuviel Luxus, auszuhalten? Nehmen diese zumeist sommerlichen Ereignisse, diese zumeist hochmögenden, unserem traditionellen Theater, unseren Opern, Konzerthäusern Augen, Ohren und gar Geld weg? Wie steht es mit der Konkurrenz der beiden? Sind sie etwa Kontrahenten?

Ein Beispiel. Als Hamburg sich zur deutschen Musical-Hauptstadt entwickelte, waren die meisten von uns sehr skeptisch, ob diese Musicals – es begann vor fast 30 Jahren mit «Cats» im städtischen Operettenhaus an der Reeperbahn – unseren traditionellen, ehrwürdigen Häusern nicht die Zuschauer wegnehmen würden. Doch welch mangelndes, mausiges Selbstvertrauen sprach aus diesen Befürchtungen! Mozart gegen Andrew Lloyd Webber? Tschechow gegen Kunze? Wieso hatten wir vor diesem Wettbewerb solche Angst? Denn die Angst war unbegründet.

Meine damalige Theorie, dass sich viele Musicalhäuser auf die allgemeine Theatertemperatur Hamburgs, das ja wahrlich nicht arm an Theatern ist, positiv auswirken würde, fand ihre entsprechende Realität. Kein einziger Zuschauer blieb weg, weil er im Thalia webbersüffigen Pucciniverschnitt vermisste. Natürlich ist Mozart besser, aber auch Rihm und Nono. Natürlich ist Tschechow einfach viel besser, aber auch Botho Strauß und Peter Handke.

Hat das Schleswig-Holstein-Festival, hinter dem ja ein geniales Konzept steckte, das einen ganzen Landstrich in Musik tauchte, Schloss, Scheune und Schober mit Klang erfüllte, je den Theatern im Norden Deutschlands geschadet? Waren das Lübecker, das Kieler, die Hamburger, das Bremer Theater deswegen schlechter besucht? Nein, eben nicht. Aber der Sommer, der wurde noch schöner!

Festivals dieser Art können durch ihre Konkurrenz eine grosse Herausforderung sein und eine provozierende Anstrengung, der sich die Theaterleute und auch Konzertmanager tunlichst unterziehen sollten. Dass der Staat die kulturellen Institutionen in den Städten unterhält und fördert, ist beste deutsche, schweizerische, österreichische Tradition und gehört etwa zur deutschen Geschichte wie die alten Burgen am Rhein und die Kathedralen in Aachen, Freiburg, Ulm und Köln, wie die Bilder von Lochner bis Richter. Doch die Sponsoren, die Mäzene, die Förderer der Festivals – was spielen diese für eine Rolle? Neben der Staatsknete?

Schauen wir uns den Anteil der privaten Förderung einmal am Beispiel der Salzburger Festspiele an, entdecken wir tatsächlich Erstaunliches. Die berühmten Hauptsponsoren, die wir dort haben, fünf an der Zahl – Nestle, Audi, Siemens, Uniqa und Credit Suisse – investieren insgesamt nicht einmal zehn Prozent des gesamten grossen Etats von 50 Millionen Euro. Die privaten Förderer, also Bürger wie Sie und ich, geben allein vier Prozent aus, nämlich über zwei Millionen Euro. Der grosse Rest kommt fast ganz durch Einnahmen wie Eintrittskarten herein.

Festivals brauchen besondere Highlights; ausserordentliche Ereignisse inhaltlicher und formaler Qualität sind notwendig, um Aufmerksamkeit zu erzeugen. Der Star als Marketingprodukt für die Sponsoren gehört zum System. Wir nennen das üblicherweise «Event», und dazu gehört dann Glanz und Gloria, Schampus und feines fingerfood. Die Stadttheater, Museen und Konzerthäuser hingegen haben eine ganz andere Aufgabe. Sie sind für den Alltag zuständig und verstehen ihren Auftrag zumeist so: gestern, heute, morgen. Also eigentlich immer.

Über dem Potsdamer Theater soll einst gestanden haben: «Dem Vergnügen der Einwohner». Das ist doch ein guter, sinnvoller Auftrag, wenn wir das Vergnügen im Brechtschen Sinne beschreiben als die Freude an der Erkenntnis. Denn die vornehmste Aufgabe im Theater, schreibt dieser im «Kleinen Organon für das Theater», ist die Unterhaltung. Und das täglich. Welcher Service am Kunden. Das Schöne, Wahre, Ewige ist übrigens der Kern der Kunst. Schaffen wir es also nicht ab!

Festivals und traditionelle Kulturinstitute können sehr wohl in einen fruchtbaren Dialog treten, Monologe werden gestrichen. Die Stadttheater sollen und können sich mehr Avantgarde leisten als die freien Festivals allerorten; schliesslich sind sie dank öffentlichen Zuwendungen, wenn auch manchmal sehr knappen, von den herben Zwängen der Kasse nicht gar so schlimm in die Budgetzange genommen. Das Verhältnis zwischen Kasse und Kunst ist eindeutig von der Kunst bestimmt.

Machen Sie sich keine Illusionen: Nutzniesser dieses deutschen, schweizerischen und österreichischen Subventionssystems sind wir Kulturbegeisterten. Denn die Eintrittskarten sind subventioniert, und dies nicht zu knapp. Damit Kunst – zumindest in Annäherung – angestrebt werden kann.

Grosse Festspiele, wie zum Beispiel die Salzburger Festspiele, kommen nicht in den Genuss einer solchen grosszügigen kunstfreundlichen Donation. Diese vielgerühmten Festspiele holen 75 Prozent ihres gesamten Etats von 50 Millionen Euro durch Einnahmen herein. Und das ist schwere Arbeit! Wenn ein deutsches Stadttheater an die 30 Prozent einnimmt, gilt es schon als deutscher Meister. Die Festspiele kalkulieren jedoch stets am Rande des Risikos. Wenn einmal die Kasse nicht laut genug klingelt, erschallen stattdessen kleine sirrende Alarmsirenen. Wie man sich erinnern möge – die Salzburger Festspiele, diese berühmten Festspiele, wurden einst als Friedensinitiative gegründet!

Die Politiker jener kleinen Stadt an der Salzach, die nach den Festspielen wieder ganz auf sich selber zurückfällt, halten es mit dem berühmten Philosophen Konrad Adenauer: keine Experimente!, es könnte ja ins Geld gehen. Dennoch versuchten die Intendanten, ob sie Mortier, Ruzicka oder Flimm hiessen, sich immer wieder in diesem riskanten Revier des Heute, des Zeitgenössischen.

Ruzickas Festival, die Münchner Biennale, seinerzeit von Hans Werner Henze gegründet, ist ein gutes Beispiel für den anzustrebenden Dialog. Wird dort doch modernes Musiktheater ausprobiert, das wahrscheinlich woanders erstmal keine Chance hätte. Die Oper über Walter Benjamin von Brian Ferneyhough haben wir von der Ruhrtriennale damals gemeinsam mit den Münchner Kollegen produziert und so einem wichtigen Beispiel des modernen Musiktheaters auf die Beine geholfen.

Die Ruhrtriennale hat noch einen weiteren Dialog geführt. Zwischen 2005 und 2008, als ich dort verantwortlich war, haben wir uns, wie ich nach wie vor in aller Bescheidenheit finde, ein vorbildliches und interessantes Ziel gesetzt: wir wollten vorzüglich Stücke im Glanze der wiederauferstandenen, grosszügig renovierten Industriehallen zeigen, die nun, befreit von Schweiss und Tränen der beginnenden Industrialisierung, sich einem neuen Feld, der Kunst, öffneten – Stücke also, die normale Theater mit ihren speziellen Repertoirezwängen in beengten Gehäusen mit langen vorformulierten Perspektiven nicht zur Aufführung bringen können. Auch wollten wir Projekte ab ovo entwickeln. Die fulminante Aufführung von «Rubens», dessen Text uns Peter Esterhazy schrieb und Philip Stölzl inszenierte, Andrea Breths Collage «Unter Tage», Christoph Schlingensiefs berührendes Schmerzstück «Die Kirche der Angst vor dem Fremden in mir» mögen als einige Beispiele von vielen dienen.

Kein Opernhaus nah und fern war bislang in der Lage, eine werkgetreue Aufführung der Zimmermannschen «Soldaten» zu zeigen. Und dabei ist das Stück 40 Jahre alt. Dieses grossartige und geniale Musiktheaterstück nach dem Text des unglücklichen Lenz, das man sehr wohl in einem Atemzug mit Luigi Nonos «Al gran sole», Alban Bergs «Wozzeck» und Arnold Schönbergs «Moses und Aron» nennen kann, fand endlich in der Jahrhunderthalle in Bochum eine adäquate, den Vorstellungen des grossen Kölner Komponisten entsprechende Aufführung. Das kann eben nur ein Festival, das sich mit aller Kraft, auch finanzieller, auf ein solches Projekt konzentrieren kann.

Aber auch die traditionellen Theater können und müssen das Ihrige zum Dialog beitragen, und das bitte nicht zu knapp, eben mindestens 365mal im Jahr. Welch schönen Aufbau von ästhetischer Unterweisung gäbe es dort zu entdecken. Nicht das kurzfristige Gehechel nach der schönen Stimme, dem geschmetterten C und den blauen Augen, nach dem Pulttiger und den tönenden Barden, nach der schönen Buhlschaft und der Wundergeigerin, sondern halt geduldige Erprobung der Tchechowschen Seelenmenschen, lange Reisen in einem Kontinent, der Shakespeare heisst, auf seinen Inseln anlanden wie Viola in Illyrien, auf seinen Ebenen verrückt werden wie König Lear, und in seinen Liebeswäldern irren wie denen im Sommernachtstraum. Oder in eine grosse Anzahl neuer Musiken sich einhören oder neue Autoren erfahren und junge Schauspieler und Sänger von ihrem Anbeginn an begleiten, bis sie als Stars in die weite Welt hinausziehen. Und das, liebe Leute, eben oft und immer. Täglich, auch sonntags, Fidelio und Figaro. Welch ein Reichtum, schier unerschöpflich in den Gehäusen.

Und mehr als alles andere gehören diese zahllosen Theater, Konzerthäuser und Opernbühnen uns. Wir sind ja die Besitzer und die Besetzer. Die Festivals schliessen irgendwann wieder ihre Pforten, nach sechs hoffentlich fröhlichen Wochen dämmern sie dem nächsten Sommer entgegen. Das Fest an den Plätzen in unseren Städten dauert zumindest ein frohes ganzes Jahr. Und wir können in den Spielplänen noch einmal das sehen, was uns damals so begeisterte.

In den Ferien packen wir dann halt unsere Siebensachen, fahren nach Bayreuth und lassen uns von Wagner umtosen, oder nach Hersfeld in die erhabene Stiftsruine, oder ins gefüllte Salzburg, oder nach Pesaro, Ravenna, Luzern, oder, oder, oder… Ein ganzes Leben reicht ja nicht aus, um alle diese Sommer eines Lebens diesen Festivals zu widmen. Und dann wird der Dialog zur Wirklichkeit, wenn wir auf einmal auf einem Domplatz, auf einer Treppe, in einer Kirche, die Lieblinge unseres Stadttheaters wieder sehen und hören. Wär’ das nicht fein, für uns, die Besitzer?

So und anders sind wir Teil der ganzen, doch so geliebten chose – die ja, allen Widrigkeiten zum Trotz, uns Sterblichen auf ewig unsterblich bleibt. Um den Weimarer Olympier ein letztes Mal zu paraphrasieren: Und Neugier nur beflügle jeden Schritt.

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