(3) Folgen von Migration: Europäische Wege
Eindeutige Lösungen lassen sich nur finden, wenn
ein klar definiertes Problem vorliegt. Gerade im Bereich der Migration aber gibt es sowohl bei der Beurteilung der Ausgangslage als auch bei der Abwägung von Handlungsoptionen eine «multikulturelle Vielfalt».
Der folgende Beitrag ist eine Zusammen-fassung der Ergebnisse der Arbeitsgruppe II «Die Folgen der
Migration und die europäischen Optionen» des Kolloquiums «Sind unsere westlichen Werte in Gefahr?», unter dem Vorsitz von Roger Köppel, Chefredaktor «Die Welt», Berlin.
Auch beim Thema «Migration» lässt sich die alte Auseinandersetzung zwischen einer Ordnung durch Selbstregulierung und einer Ordnung durch staatliche Planung wiederfinden. Zum einen steht die liberale Prämisse des freien Personen- und Güterverkehrs in Europa als unerlässlicher Voraussetzung für Wettbewerb und dadurch auch für Leistungssteigerung. Zum anderen stellt sich die Frage, ob in den kleinräumigen, eng besiedelten, von dichtmaschigen Sozialsystemen überwucherten Staaten eine staatliche, regulierende Intervention angebracht sei. Von diesem Spannungsfeld aus, das der Gruppen-Vorsitzende Roger Köppel eingangs aufzeigte, wurden verschiedene Facetten der Migration besprochen, die im folgenden in zehn Thesen zusammengefasst werden.
These 1: Es besteht ein Trade-Off zwischen dem freien Güter- und Kapitalverkehr einerseits und dem Personenverkehr andererseits. Dies wird vor allem daran ersichtlich, dass Behinderung des Güter- oder Kapitalverkehrs den vollen Einsatz der verfügbaren Ressourcen eines Landes verunmöglicht. Als Folge werden vor allem Arbeitskräfte nicht nach dem Freihandelsprinzip der komparativen Vorteile eingesetzt. Als logische Konsequenz «sucht» sich die Arbeit ihren Weg dorthin, wo Nachfrage für ihren Einsatz vorhanden ist, mit anderen Worten: wird billige Arbeitskraft nicht mehr im Ursprungsland genutzt, sondern vom Zielland angezogen. Die Migration kompensiert demnach fehlende Handelsoptionen, was am besten anhand der Landwirtschaftspolitik Europas illustriert werden kann.
These 2: Die Migration übt heute einen hohen Druck auf die Institutionen des Sozialstaates aus, was bei diesen Reformbedarf auslöst. Die häufig gehörten Klagen über den Missbrauch ausgebauter Sozialleistungen münden in Forderungen nach einer Einschränkung der Migration. Damit würde jedoch das Pferd am Schwanz aufgezäumt, da selbst bei einem absoluten Einwanderungsstopp die Missbrauchsgefahr weiterhin bestünde. Demzufolge sind vielmehr die Sozialsysteme dahingehend zu reformieren, dass sie jeweils wieder autonom funktionieren, d.h. gemäss dem Versicherungsprinzip einen möglichst geschlossenen Finanzierungskreislauf aufweisen. Bei à-fonds-perdu-Leistungen nach dem Fürsorgeprinzip können Hürden, zum Beispiel in Form von Karenzfristen, eingebaut werden.
These 3: Von einer Völkerwanderung kann nicht die Rede sein, da – im Gegensatz zu früher – nicht mehr ganze Stämme unterwegs sind. Damals handelte es sich um grosse Migrationbewegungen ganzer Volksgruppen, während heutzutage in der Regel Bevölkerungsteile aus jeweils verschiedenen Herkunftsländern abwechslungsweise migrieren. Hierbei ist in Erinnerung zu rufen, dass die Bewegungen weltweit nicht auf einen Kontinent zielen, sondern dezentral, zum Teil innerhalb von Regionen, ablaufen.
These 4: Wer die Personenfreizügigkeit befürwortet, sollte konsequenterweise auch vollständig auf flankierende Massnahmen verzichten. Es ist paradox, dass dieselben Kreise, die für einen freien Personenverkehr plädieren, gleichzeitig nach einschränkenden «flankierenden Massnahmen» rufen. Dahinter steckt eine eklatante Inkonsequenz, die dazu führen kann, dass bisher funktionierende Bereiche neu mit zusätzlichen Regulierungen belastet werden.
These 5: Die Migration soll zur Optimierung des Wirtschaftsstandorts beitragen, was die Definition einer wirtschaftspolitischen Siegerstrategie für diesen voraussetzt. Die Migration liesse sich demnach als Instrument für eine erfolgreiche Förderung eines Wirtschaftsstandorts einsetzen. Dies würde auf eine selektive Aufnahme aufgrund von Qualifikationskriterien hinauslaufen, was wiederum eine Planung seitens einer staatlichen Behörde voraussetzen und dabei die Frage aufwerfen würde, nach welchen Kriterien und Anreizen diese industriepolitisch anmutende Massnahme umgesetzt und feingesteuert werden solle.
These 6: Allgemein soll das Selbstbewusstsein gegenüber Migrationsbewegungen gestärkt werden. Im Gegensatz zu einer pauschal befürworteten, bedingungslosen Migration unter Betonung ihrer mystifizierten multikulturellen Bereicherung seien ordnungsschaffende Regulierungen vorzunehmen. Dies kann zum Beispiel durch die bereits erwähnte Instrumentalisierung oder durch eine entsprechende Reform des Sozialstaates geschehen.
These 7: Eine sogenannte Leitkultur ist nicht als dogmatisch definierte Gesinnung zu verstehen, sondern als Regelbündel für den Prozess, in dem die Bestimmungen des Zusammenlebens zu definieren sind. Im Sinne einer «Hausordnung» ist es wichtiger, sich auf solche Prozesse der Anpassung von Regeln zu einigen, als inhaltsorientierte Wertesysteme aufzuzwingen.
These 8: Grundsätzlich ist eine freiheitliche Lösung einer einschränkenden Intervention durch staatliche Regulierungen vorzuziehen, ganz nach dem Prinzip «in dubio pro libertate». Damit wird einer zu starken oder vorschnellen Regulierung weiter Gesellschaftsbereiche im Zusammenhang mit der Migration ein Riegel geschoben. Dies gilt insbesondere für das Überschwappen freiheitsbeschränkender Normen in Bereiche, die der Migration «vor-» oder «nachgelagert» sind, zum Beispiel wenn Tourismus oder Forschung infolge migrationspolitischer Massnahmen erschwert wird.
These 9: Die Diskussion über Migration soll nicht heisser geführt werden als nötig. Sie kann ebenso als gutes Zeichen für die Attraktivität und damit den Erfolg unserer Gesellschaftsordnung interpretiert werden. Im Gegensatz zur oft heraufbeschworenen Gefahr der Unterwanderung demokratischer Gesellschaftssysteme durch fremde Einflüsse, deutet die Migration viel eher auf deren Attraktivität hin. Demnach geht es nicht darum, Systeme zu demontieren. Ganz im Gegenteil: das Leben ist innerhalb dieser Systeme besser zu adaptieren und kreativ zu gestalten. Es kann dabei durchaus auch Gedankengut vermittelt werden, das sich später einmal ausserhalb des Einwanderungslandes anwenden lässt. So sollten beispielsweise religiöse Lehrer wie Imame eine Schulung erhalten, die nicht primär auf die Bedürfnisse des Einwanderungslands ausgerichtet ist.
These 10: Über Chancen und Gefahren transnationaler Koordinationsversuche können keine abschliessenden Urteile gefällt werden. Es ist schwer abschätzbar, inwiefern der Abbau nationaler Kontrollsysteme, die auf länderspezifische Gegebenheiten abgestimmt sind, durch den Aufbau einer supranationalen Behörde kompensiert würde, die stärker koordiniert und frühzeitiger einwirken könnte. Möglicherweise ist anstelle eines Nullsummenspiels auf einen kombinierten Einsatz der Mittel auf beiden Ebenen zu setzen.
Die Tatsache, dass Migration ein vielschichtiges Problem ist, darf nicht zum Vorwand dafür genommen werden, auf die Erarbeitung konkreter Massnahmen zu verzichten, die ihrerseits auf einer sorgfältigen ordnungspolitischen Analyse fussen. Emigration und Immigration sind eine Tatsache. Für beide existiert eine Nachfrage und verlockt zum Gedankenspiel, Emigrationsangebot und Immigrationsnachfrage – und vice versa – durch eine Marktlösung zu verknüpfen und einen internationalen «Markt für Humankapital» bzw. einen «Markt für Migration» zu schaffen. Der regulierende Preis würde verschiedene Kostenelemente der Migration umfassen, zum Beispiel Informationskosten seitens der Nachfrage und Reisekosten seitens der Migrierenden. Die Frage nach den Motiven und nach der Freiwilligkeit stellt sich dann nicht insofern mehr, als sie – wie bei allen Tauschgeschäften – von den Beteiligten und Betroffenen selbst entschieden wird. Jedoch bleibt bei derart komplexen Märkten die Frage nach einem allfälligen «Marktversagen» offen. Wenn ein solches vorliegt, sind auch aus liberaler Sicht Interventionen des Staates gerechtfertigt. Im «Markt für Migration» stehen vor allem Externalitäten zur Debatte, wie zum Beispiel das Aufbürden von Sozialversicherungskosten im Zielland oder der fehlende Schutz von Privateigentum im Herkunftsland. Daraus folgt, dass jede interventionistische Regulierung der Migration, gegenüber lokaler Ursachenbekämpfung, höchstens die zweitbeste Lösung ist. Eine Förderung des Freihandels vermindert ökonomisch motivierte Emigration, und eine Reform der Sozialwerke verhindert jene Zuwanderung, die nicht durch den Arbeitsmarkt, sondern durch falsche Anreize unseres Sozialstaates motiviert ist.
Jürg de Spindler ist Politikberater bei Hellfeier & de Spindler GmbH, Zürich.