(3) «Die wenigsten Politiker denken wirklich europäisch»
Sitzen Idealisten im EU-Parlament? Oder doch eher Karrieristen und Technokraten? Wen vertreten sie? Und wessen Wohl dienen sie? Der Philosoph Gianni Vattimo über sein Leben in Strassburg.
Herr Vattimo, Sie kennen das Ziel des Interviews?
Sie möchten, dass Ihnen ein ehemaliger EU-Parlamentarier erzählt, wie es war in Strassburg.
Genau. Fakten und Zahlen.
Ich bin bereit. Schiessen Sie los.
Ein skandalträchtiges Thema ist die Besoldung der EU-Beamten und -Politiker. Wieviel verdienen Sie als Ex-EU-Parlamentarier?
Meine Pension beträgt 3’000 Euro netto im Monat. Weil ich bereits über 65 Jahre alt war, als ich mein Mandat 2004 abgab, kam ich sogleich in den Genuss der Pension. Jüngere Kollegen hingegen, die nicht wiedergewählt werden, müssen sich für die Entschädigung gedulden.
Solche, die noch in Amt und Würden sind, erhalten ein Grundgehalt, Sitzungsgeld, Spesenentschädigung und einen grosszügig bemessenen Betrag für Mitarbeiter.
Ein EU-Parlamentarier aus Griechenland, Portugal oder Spanien erhält genau gleich viel wie ein Mitglied des griechischen, portugiesischen oder spanischen Parlaments. Deshalb bestehen beträchtliche Ungleichheiten zwischen den einzelnen Ländern. Obwohl ich als Italiener das Glück hatte, zu den gutbezahlten EU-Parlamentariern zu gehören, wäre ich dafür, die Entschädigungen europaweit einander anzugleichen. Die grossen Unterschiede in Salärfragen zeigen, wie stark die EU nach wie vor im nationalen Denken verhaftet ist.
Wieviel kam insgesamt bei Ihnen zusammen?
Zwischen 15’000 und 20’000 Euro brutto pro Monat. Die Hälfte ging weg für die Spesen, also vor allem für die Assistenten.
Das ist eine ganze Menge Geld.
Ich fühlte mich das erstemal in meinem Leben privilegiert, weil ich andere Menschen bezahlen konnte. Als ich 2004 nicht wiedergewählt wurde, habe ich dies auch deshalb bedauert, weil ich gezwungen war, mein kleines Unternehmen zu schliessen. Ein Assistent in Brüssel und einige jüngere Leute hier in Turin, die für mich arbeiteten, standen plötzlich ohne Job da.
Ihre kleine Denkfabrik wurde mit Steuergeldern finanziert.
Das war mir klar. Deshalb wollte ich diese Gelder auch nicht einfach verwalten, sondern etwas Gutes damit anstellen, den Menschen Ideen und Anregungen zurückgeben.
2003 verteilten Sie zu Beginn von Silvio Berlusconis EU-Präsidentschaft Flugblätter, die ihn als Gesetzesbrecher darstellten.
Das war Aufklärung! Ich musste den ahnungslosen EU-Parlamentariern zeigen, wer Silvio Berlusconi wirklich ist.
Es gibt Journalisten, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, die finanziellen Exzesse der EU-Parlamentarier anzuprangern. Auch das ist Aufklärung.
Diese Exzesse gibt es, klar. Sie sind jedoch viel seltener als diejenigen nationaler Parlamentarier, jedenfalls was Italien angeht. Die Kontrollen für EU-Parlamentarier sind ziemlich streng, was ich befürworte, diejenigen für Abgeordnete des italienischen Parlaments hingegen nicht. Sie stellen ihre Frau oder ihren Cousin pro forma als Assistenten ein, um ihr Einkommen – nun ja, wie soll ich sagen? – zu optimieren.
Wem fühlten Sie sich als EU-Parlamentarier verpflichtet – einem diffusen europäischen Volk oder doch eher den italienischen Wählern und ihren Interessen?
Das ist eine gute Frage. In Italien gibt es die stehende Wendung «Sie wissen nicht, wer ich bin». Man benutzt sie, um sich wichtig zu machen, zum Beispiel wenn man jemanden dazu bewegen will, einem den Parkplatz zu überlassen. Die Sache ist nun die, dass ich als EU-Parlamentarier selber nicht wusste, wer ich eigentlich war. Ich war kein italienischer Abgeordneter, weil ich nicht die Interessen Italiens vertrat, aber ich war auch kein europäischer Abgeordneter im eigentlichen Sinne, weil es kein europäisches Volk gibt. Ich war eine Art Zwitterwesen: ein europäischer Abgeordneter italienischer Herkunft.
Es gibt Leute, die behaupten, die EU-Parlamentarier verträten bloss die Interessen der Partei, der sie angehören.
Das kann man so pauschal nicht sagen. Der Parlamentarier wird gewählt, um das zu tun, wovon er glaubt, es diene dem Wohle Europas am besten. Aber gut, ein EU-Parlamentarier ist stärker an seine Partei gebunden als sein nationaler Parlamentskollege. Seine Wähler, die aus einer bestimmten Region stammen, haben kaum eine Ahnung davon, was er in Strassburg treibt. Er wird deshalb dazu tendieren, sich eher vor seiner Partei als vor seiner Wählerschaft zu verantworten.
Sie waren für die Linksdemokraten im EU-Parlament.
Ich gehörte zur Gruppe der italienischen Sozialisten, die wiederum Teil der europäischen Sozialisten war. Ich hatte sozusagen zwei Herren zu gehorchen. Manchmal sprach sich die italienische Gruppe gegen die europäische Gruppe aus, und manchmal war ich auch ein Dissident innerhalb meiner italienischen Gruppe.
Als Sie sich für die Linksdemokraten 2004 wieder aufstellen liessen, zog die Partei Ihnen eine neue Kandidatin vor – die damalige Präsidentin der Provinz Turin. Die offizielle Begründung lautete, dass eine regionale Politikerin die piemontesischen Interessen besser vertreten könne als ein Philosoph, der Bücher über Europa schreibt.
Die offizielle Begründung war bloss ein rhetorisches Manöver. Die Partei wollte mich nicht aufstellen, weil ich ihnen zu links war. Dass ich mich auch nicht immer an die Parteidoktrin gehalten hatte, wurde zum Bumerang. Kam hinzu, dass die Partei auf der Suche nach einer Aufgabe für die Präsidentin war, deren Mandat ablief.
Der rhetorische Provinzialismus taucht in Europa immer dann auf, wenn es unangenehm wird.
Die wenigsten Bürger und Politiker der EU denken wirklich europäisch. Schauen Sie: nachdem Mercedes Bresso bereits gewählt war, kandidierte sie noch für das Präsidentenamt der Region Piemont und gewann. Das Mandat als EU-Abgeordnete wurde damit hinfällig. So rückte ein ehemaliger Fussballer nach, Gianni Rivera, der ebenfalls auf die Trumpfkarte Regionalismus setzte.
Das zeigt, dass sich nicht nur EU-Idealisten für einen Parlamentssitz in Strassburg bewerben. Das Parlament dient als Auffangbecken für viele zukurzgekommene nationale Politiker und Selbstinszenierer.
Sie übertreiben. Einer meiner Kollegen war damals beispielsweise Giorgio Napoletano, der heutige italienische Staatspräsident, eine Person von grosser Würde. Es liesse sich sagen, im Parlament sitzen viele repräsentative Gestalten, die Geschichte geschrieben haben; es gibt Idealisten, dazu einige Karrieristen und natürlich auch einige eher langweilige Parteigänger.
Wie muss man sich den Arbeitstag eines EU-Parlamentariers vorstellen?
Ich stand früh auf, frühstückte kurz und wartete auf den Chauffeur, der mich etwas nach neun Uhr zum Parlament brachte. Die Arbeit ist ziemlich intensiv. Man verbringt den Tag diskutierend, streitend, schreibend. Man nimmt an Sitzungen teil, um die Position der Gruppe zu formulieren, die sie in jenen Fragen einnimmt, die das Parlament behandelt. Man schreibt Berichte und schlägt Massnahmen vor. Diese werden in den Kommissionen vorbesprochen und von einem Mitglied im Plenum vorgetragen, bevor das Parlament darüber abstimmt. Viel später müssen noch die nationalen Parlamente die Massnahmen ratifizieren. Man braucht viel Geduld.
Das europäische Parlament hat eine vorwiegend konsultative Funktion. Die Kommission gibt den Takt vor.
Die Kommission hat das Initiativrecht. Das Parlament behandelt gemeinsam mit dem EU-Rat jene Fragen, die die Kommission vorgibt. Seine gesetzgebende Macht ist, verglichen mit nationalen Parlamenten, stark eingeschränkt.
Hand aufs Herz – stellte sich nach den ersten Monaten eine gewisse Ernüchterung ein?
Sicher war ich anfangs enthusiastischer, als ich noch nicht genau wusste, was mich in Strassburg erwartete. Später kam mir der Gang ins Parlament manchmal so vor, als würde ich ein Einkaufszentrum betreten, ohne das nötige Geld, um mir etwas zu kaufen. Trotzdem – am Ende finde ich die EU eine gute Sache, für die es sich zu kämpfen lohnt.
In Ihren Beiträgen werben Sie für ein stärker integriertes Europa. Die Voten der Franzosen, Holländer und Iren haben dem Integrationsenthusiasmus einen empfindlichen Rückschlag versetzt.
Die Iren einfach nochmals abstimmen zu lassen, kann nicht die Lösung sein. Es ist vielmehr Aufgabe der EU-Politiker, die europäische Bevölkerung vom Vorteil eines geeinten Europa zu überzeugen. Denn eine EU ohne die Zustimmung ihrer Bürger, das wäre wirklich eine Fehlkonstruktion.