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(3) Die Stadt ist alles, was der Abfall ist

Weg damit? Recyling? Abfall-Assemblagen?
Sag mir, wie du mit deinen Abfällen umgehst, und ich sage dir, wer du bist. Eine Tour durch den Müll, von der Mongolei bis zur Zürcher Josefstrasse, vom 13. Jahrhundert bis heute.

Wer sich für das Wertesystem einer Gesellschaft interessiert, braucht nur ihren Abfällen zu folgen. Sie bilden die Matrize, die wie eine Abformung die positiven Werte umschliesst. Das Eigentümliche an dieser Negativform ist allerdings, dass sie vor ihrer Ausstülpung selbst das wertvolle Innere war – und es überdies auch wieder werden kann. Eine Mülltour mit Halt an fünf Stationen.

Mongolei, Leonia (anno 1284). «Die Stadt Leonia erschafft sich jeden Tag neu: jeden Morgen erwacht die Bevölkerung in frischen Bettlaken, wäscht sich mit frisch ausgepackten Seifen, kleidet sich in brandneue Morgenröcke, holt sich aus den modernsten Kühlschränken noch ungeöffnete Milchdosen und hört dazu die neuesten Meldungen aus den neuesten Radios.» So jedenfalls schildert Marco Polo dem Mongolenherrscher Kublai Khan die Eigenart dieser Stadt, die der Venezianer auf einer seiner Erkundungsreisen besucht haben will – beziehungsweise: so schildert Italo Calvino in seinem Roman «Die unsichtbaren Städte» den Bericht, den Marco Polo dem Grosskhan gegeben haben soll. In Leonia ist alles jeden Tag neu: die Zahnpastatuben, die Glühbirnen, die Porzellanservices, die Enzyklopädien, die Klaviere. Der Wohlstand bemisst sich an dem, was täglich neu fabriziert und gekauft wird, vor allem aber an dem, was jeden Tag weggeworfen wird. Und so fragt man sich, «ob die wahre Leidenschaft von Leonia wirklich, wie es heisst, der Genuss neuer und anderer Dinge ist oder nicht eher das Ausstossen, das Von-sich-Entfernen, das Sich-Reinigen von einer wiederkehrenden Unreinheit.»

Mit jedem Tag produziert die Stadt in ihren Abfällen ein vollständiges Abbild ihrer selbst, sondert sie ein zweites Leonia, ein Abfall-Leonia von sich ab. Und je weiter die Entwicklung neuer Materialien voranschreitet, desto widerstandsfähiger wird auch der Müll, so dass ihm die Techniken der Abfallvernichtung immer weniger anhaben können. Über die Jahre hinweg verfestigen sich die Schuppen der Vergangenheit zu einem Panzer, der die Stadt umgibt wie eine Festung und sie überragt wie ein Kranz von Bergen.

London, Gin Lane 2 (anno 1751). Auf einem kleinen Platz im berüchtigten Londoner Slumquartier St. Giles treffen sich die schwer Alkoholkranken zum Suff, zur verzweifelten Suche nach Geld, zur Prostitution, zum Sterben. Es riecht nach Urin und Erbrochenem, nach Schweiss und Verwesung. Das Gejohle der Betrunkenen dringt einem ans Ohr, das Flehen der Bettler, das Schreien der verwahrlosten Kinder. Nur das Geschäft mit dem Gin floriert; ein Friseur erhängt sich im Dachboden seines Salons, der kaum mehr besucht wird, weil keiner sich einen Haarschnitt leisten kann. Ein Schreiner versucht sein Werkzeug zu verkaufen, eine Hausfrau ihre Kochgeräte, um mit dem Erlös ihre Sucht zu befriedigen. Eine sich prostituierende Mutter mit schwärenden syphilitischen Wunden an den Beinen, stumpfsinnig vor sich hingrinsend und einzig an der Tabakdose in ihrem Schoss interessiert, lässt ihr Kind über ein Treppengeländer in die Tiefe stürzen. Nur wenige Meter entfernt wird ein Säugling mit Gin ruhiggestellt. Die Lahmen lassen sich in Schubkarren zu den Schenkstuben befördern. Die im Alkoholrausch ihren Tod gefunden haben, wirft man für den Transport in einfache Holzsärge und kippt sie in Massengräber. Viele der baufälligen Altstadthäuser sind dem Einsturz nahe, von den Dächern lösen sich Ziegel, manchenorts brechen ganze Gebäudeteile in sich zusammen, in den Gassen liegt Bauschutt.

Es sind die dreckigen Strassen, die dunkeln Ecken, die heruntergekommenen Quartiere, die den englischen Kupferstecher William Hogarth faszinieren und ängstigen. Mit Blättern wie «Gin Lane 2» hält er seinen Zeitgenossen ein hässliches und schmutzstarrendes London vor Augen – ein London, zu dem sich wie ein Zwilling jenes Paris hinzugesellt, durch das Jean-Baptiste Grenouille, der Protagonist in Süskinds «Parfüm», seine Streifzüge unternimmt: «Es stanken die Strassen nach Mist, es stanken die Hinterhöfe nach Urin, es stanken die Treppenhäuser nach fauligem Holz und nach Rattendreck, die Küchen nach verdorbenem Kohl und Hammelfett; die ungelüfteten Stuben stanken nach muffigem Staub, die Schlafzimmer nach fettigen Laken, nach feuchten Federbetten und nach dem stechend süssen Duft der Nachttöpfe.»

Hogarth ist in aufklärerischer Mission unterwegs. Seine schonungslosen Schilderungen aus den Slums der Grossstadt unterlegt er mit moralisierenden Versen des Geistlichen James Townley. Sie erwecken den Anschein, als gehe es um das Individuum, das gebessert werden soll. Doch der moralische Appell an den einzelnen ist eigentlich ein politischer Appell an die Obrigkeit. Denn zur selben Zeit rückt die Stadt als Ganzes, ihr architektonischer und sozialer Körperbau ins Zentrum der Armuts- und Krankheitsbekämpfung. Die Hygieniker des 18. und 19. Jahrhunderts bedienen sich der Instrumente der Stadtplanung und der Bauvorschriften, um den Übeln zu Leibe zu rücken. Man versucht die Bevölkerung dahinzubringen, sich in den oberen, besser durchlüfteten Geschossen einzurichten. Die Verwendung von Gips wird als Mittel gegen Infektionen empfohlen, als antiseptisches Material, das obendrein das Auge erfreue. Das Verlangen, aufzuräumen und abzufahren mit Dreck, Seuchen und Delinquenz, führt auf direktem Weg zu den städtebaulichen Grossprojekten des frühen 20. Jahrhunderts.

Zürich, Limmatquai (anno 1933). Zehn Hochhäuser, kubisch, kristallin, mit gläsernen Fassaden, transparent schimmernd, zwölfgeschossig oder höher, getragen durch ein Gerüst aus Stahl und Beton, sich mit harten Umrissen scharf von der Umgebung abgrenzend; dazwischen gepflegte Grünflächen und Bäume, die sich als «Ventilatoren» zwischen die Baukörper schieben und in die offenen Innenhöfe der U-förmig angelegten Blocks hineinreichen. Zehn identische Hochhäuser, angeordnet auf einer Linie, in immer gleichen Abständen, so soll sich das östliche Ufer der Limmat zwischen den Plätzen Central und Bellevue präsentieren – wenn es nach Karl Moser ginge. Der Architekt, der gegen Ende seines Lebens zum radikalen Anhänger der modernen Stadtplanung wird, erhält vom Zürcher Gemeinderat 1933 den Auftrag, ein Projekt für die bauliche und hygienische Sanierung der Altstadt zu entwickeln. Moser schlägt vor, die Altstadt gesamthaft abzureissen und durch etwa dreissig Hochhäuser zu ersetzen. Nur wenige der bisherigen Bauten würden erhalten bleiben, unter anderen das Grossmünster, das Rathaus und das von Moser selbst entworfene Kunsthaus. Die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Bau-strukturen – weg. Die alten Zunfthäuser – weg. Die barocken Bauten um den Neumarkt – weg. Das Geburtshaus von Gottfried Keller – weg. Das Cabaret Voltaire, Geburtshaus des Dadaismus – weg. Anstelle der bisherigen Unübersichtlichkeit herrschen Klarheit und Ordnung; optimale Besonnung und Durchlüftung sollen ein gesundes Klima gewährleisten.

Der Gemeinderat lehnt den Vorschlag Mosers ab, und die Pläne verschwinden in einer Schachtel des Baugeschichtlichen Archivs der Stadt Zürich. Das Projekt wird zur Utopie – und erfährt damit dasselbe Schicksal wie die grossen Vorbilder, auf denen es fusst: Le Corbusiers «Plan Voisin» von 1925, der die Eliminierung eines grossen Teils der Pariser Altstadt und den Bau von achtzehn Wolkenkratzern propagiert, oder der zeitgleich vorgestellte «Plan für eine Bebauung der Berliner Innenstadt» von Ludwig Hilberseimer, bestehend aus einem monumentalen Komplex von ebenfalls achtzehn identischen Blocks. All diesen Vorhaben ist gemein, dass sie mit den verklumpten, labyrinthischen Strukturen der historisch gewachsenen Städte aufräumen, ebenso mit der Vermengung von Stilen und Gebäudetypen. Das Hauptmerkmal der Grossstadt sei ihre «Desorganisation», klagt Hilberseimer. Durch die saubere Trennung von Arbeit, Wohnen und Verkehr soll der «chaotische Zustand, in dem sich heute fast alle Grossstädte befinden», in eine rigorose Ordnung übergeführt werden, eine Ordnung, die darin besteht, dass die funktionale Verschiedenheit der Lebensbereiche und ihre architektonische Gliederung präzis übereinstimmen. Die Realisierung dieser Ordnung gerät Hilberseimer zur zentralen «Zukunftsaufgabe, deren Durchsetzung zu einer unerbittlichen Forderung wird». Dabei findet das Prinzip der funktionalen Gliederung seine reinheitsapologetische Fortsetzung in der Bevorzugung der geraden Linie und des rechten Winkels, jener «vornehmsten Elemente» der Architektur, die ganz «unserem heutigen Empfinden und ordnenden Geist» entsprechen.

Auch wenn diesen Plänen die Umsetzung verwehrt blieb, so hat doch an anderen Orten die Idee der «vernünftig organisierten» Stadt reale Gestalt angenommen: in Form von Neugründungen (wie Brasilia), von Trabantenstädten (wie Berlin-Gropiusstadt) oder als Ersatz für im Krieg zerbombte Stadtteile (wie in Rotterdam).

Saint-Maur-des-Fossés, südl. Paris (anno 1958). Mitten auf dem Marktplatz steht ein Strassenwischer. Doch just immer dann, wenn dieser ansetzt, den Dreck beiseite zu fegen, ergibt sich ein Gespräch mit einem der Passanten, so dass er noch Stunden später an derselben Stelle steht. Es ist das Quartier, in dem Monsieur Hulot zu Hause ist. Der unbeholfene Aussenseiter holt regelmässig seinen neunjährigen Neffen Gérard von der Schule ab und bringt ihn zu einer Gruppe von Spielkameraden. Gemeinsam erkunden sie die Umgebung und hecken Streiche aus. Ein Höhepunkt dieser Streifzüge ist der Besuch auf einem verwahrlosten Gelände, wo sie bei einem schmuddeligen Pfannkuchenverkäufer für ein paar Sous ihre fetttriefenden Eierfladen erstehen. Wenn Gérard gegen Abend nach Hause zurückkehrt – in ein hochmodernes, ganz auf Hygiene und Automatisierung getrimmtes Haus –, empfängt ihn die Mutter mit Gummihandschuhen und stellt ihn samt der Kleidung unter die Dusche.

«Mon Oncle», Jacques Tatis berühmtester Film, aber auch seine anderen grossen Werke wie «Playtime» und «Trafic» handeln von einer Moderne, die in ihrem Reinheitswahn das menschliche Mass aus den Augen verliert. Für «Playtime» lässt Tati ausserhalb von Paris ein riesiges Filmset mit Hochhäusern errichten – «Tativille» –, in dem der Protagonist auf der Suche nach einem Monsieur Giffard hoffnungslos umherirrt. Die Monotonie und Konformität der Bauten lässt sie vollkommen austauschbar erscheinen, und so entpuppt sich ein vermeintliches Krankenhaus später als Flughafen.

Tatis Filme markieren damit schon früh eine postmoderne Position, die den Reduktionismus der Moderne als Verarmungsvorgang begreift, ihren «Exklusivismus» (Peter Sloterdijk) als Verlustgeschäft. Der einzige Weg, der aus der selbstverschuldeten Sterilität hinausführt, ist – bei Tati wie bei den Postmodernisten – der Weg in die Unreinheit: die Beschäftigung mit dem Unperfekten, dem Schmutzigen, dem Chaotischen. Wie Kompost werden Abfälle unterschiedlichster Provenienz dem kulturellen Produktionsprozess wieder zugeleitet, um diesen zu befruchten.

Zürich, Josefstrasse (anno 2008). «Abfall ist wertvoll.» Achtzehn mal zwölf Meter misst das Transparent, das an der Kehrichtverwertungsanlage im Zürcher Stadtkreis 5 darüber aufklärt, dass Abfall gar nicht Abfall, sondern wertvoll sei. Die Aussage ist etwa so richtig, wie wenn auf einem Autobus der Zürcher Verkehrsbetriebe der Satz «Ich bin auch ein Schiff» zu lesen ist. Natürlich ist Abfall per definitionem das negativ Bewertete, das Unwerte. Abfall ist das Produkt einer Verneinung, wertvoll aber ist das Bejahte. Also kann Abfall, solange er den Status von Abfall behält, niemals wertvoll sein – und auch nicht Energie, wie das Plakat weiter behauptet. Aber er hat, und das macht ja die eigentliche Botschaft des Posters aus, das Potential zur Transformation. Unsere Abfälle bilden ein gigantisches Reservoir, einen latenten Speicher im umfassenden Sinne, aus dem kraftvolles Material gewonnen werden kann. Die privatwirtschaftlich organisierten Recyclingunternehmen sind nicht die ersten, die das gemerkt haben.

Seit den sechziger Jahren ist Abfall in all seinen Ausprägungen ein prominentes Thema der bildenden Kunst – man denke an die Müllkompilationen Armans, die Abfall-Assemblagen Robert Rauschenbergs, die Schrottmaschinen Jean Tinguelys, die Fallenbilder Daniel Spoerris, die skatologischen Performances von Paul McCarthy, die aus Mist geformten Plastiken Dieter Roths, die Strandgut-Sammlungen Ursula Stalders. Vorweggenommen haben diese Entwicklung die amerikanischen Marx Brothers. Sagt Chico: «Der Müllmann ist da.» Ruft Groucho zurück: «Sag ihm, wir brauchen nichts!»

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(0) Auftakt

«Urbanität». Das Schlagwort suggeriert «Weltläufigkeit», «Modernität», «Aufgeschlossenheit». Wer sich als «urban» bezeichnet, sieht sich als «gebildet», «kreativ», «unabhängig». Vom hochnäsigen und dünkelhaften «Städter» – dem Schimpfwort von einst – ist wenig übriggeblieben. Kulturkritik, die in der Stadt das Dunkle und Verruchte ausmacht, ist passée. Die Menschen zieht es wieder in die urbanen Zentren. Für viele […]

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