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(3) Abschied vom süssen Brei

Lesen allein genügt nicht. Die schiere Anzahl an Kinderbüchern ist noch kein Qualitätsausweis. Denn Kinderbücher sind in vielen Fällen nur eines: dümmlich. Der Kinderbuchmarkt braucht eine Radikalkur.

Die Kinderliteratur in den deutschsprachigen Ländern hat es gut. Mögen auch immer weniger junge Leser geboren werden – sie bekommen nun eben pro Kopf mehr Bücher als früher, zumindest in den bildungswilligen Familien. Die Kinderbuchverlage jedenfalls produzieren, was das Zeug hält. Im Jahr 2005 erschienen 5’635 neue Titel. Wer die alle sichten wollte, um die besten unter ihnen herauszufiltern, müsste pro Tag fünfzehn Bücher lesen – eine unmögliche Aufgabe. Die Jury des Deutschen Jugendliteraturpreises versucht trotzdem Jahr um Jahr, die besten Bücher eines jeden Jahrgangs zu präsentieren. Insgesamt werden 30 Titel nominiert, aus denen dann fünf Sieger ermittelt werden. Weil man es dabei nie allen recht machen kann, bot dieser einzige deutsche Staatspreis für Literatur schon immer Zündstoff. Wer mit ihm ausgezeichnet wird, freut sich. Der Rest meckert mehr oder weniger vernehmlich. Die Aussenwirkung dieser Auszeichnung hat sich zwar im Laufe der Jahre verringert. Dennoch ist dies der Preis, über den die Branche spricht und sich im Zweifelsfall empört.

Dass sie 2006 aber die beste Gelegenheit zur Empörung in der langen Geschichte des Preises verstreichen liess, sagt einiges über den Zustand des deutschsprachigen Kinderliteraturbetriebs. Die Jury traf eine Entscheidung, die einer Ohrfeige für die gesamte Branche gleichkam – und kaum einer schrie getroffen auf. Was war geschehen? Statt der üblichen 30 Titel hatte die Jury nur 27 nominiert, mit der Begründung, das Niveau des Angebots sei leider so niedrig. Selbstverständlich wussten Insider schnell eine Handvoll Bücher zu nennen, die auch einen Platz auf der Liste verdient hätten. Dennoch war der Befund niederschmetternd. Unter 5’635 Neuerscheinungen sollte es keine dreissig preiswürdige geben? Es war, als hätten die Pisa-Forscher im benachbarten Gelände recherchiert. Doch dass daraufhin allgemein wissend-traurig genickt und die Entscheidung vom Gros der Betroffenen stillschweigend akzeptiert wurde, dies ist der eigentliche Skandal.

Mit ihrer Entscheidung hat die Jury den Finger in eine Wunde gelegt, die von den meisten Kinderbuchmachern offenbar gar nicht als solche wahrgenommen wird. Wo sie bunte Bücherstapel genausoschnell verkaufen wie anhäufen können, sind sie erstaunlich schmerzfrei. Dass 99 Prozent ihrer Erzeugnisse aussortiert werden, weil sie nicht den Qualitätskriterien für ein wertvolles Kinderbuch entsprechen, stört sie nicht, solange diese Produkte dafür an anderer Stelle vorne liegen, nämlich auf den Stapeltischen der grossen Buchhandelshäuser. Deren Chefeinkäufer favorisieren gegenwärtig drei Textsorten: auf dem ersten Tisch liegen Fantasywälzer, auf dem zweiten glitzern coole Girliebücher, und den dritten Tisch teilen sich die «Wilden Fussballkerle» mit anderen «wilden» Gestalten zur giggelnden Identifikation. Der Rest sind überwiegend Serien, meist mit Tieren im Reihentitel: Löwen, Bären, Känguruhs und was der Kinderzoo halt sonst noch so bietet. Einzeltitel machen sich immer rarer. Gelegentlich schafft es einer, allein durch die Zuneigung der Buchhändler und Leser, aus eigener Kraft zum Bestseller. Dann wundern sich alle.

Wundern müsste man sich eher über den Zustand der Kinderliteratur, der inzwischen Normalität geworden ist. Ihr sichtbarer Teil besteht fast nur noch aus Trivialliteratur, und sämtliche Beteiligten finden dies völlig in Ordnung. Anscheinend sind für sie Kinderbücher Produkte wie Fruchtzwerge, Kinderklamotten oder Barbie-Puppen. Und offensichtlich gibt es immer weniger Leute, die mehr in ihr sehen und mehr von ihr erwarten. Etwa Geschmacksbildung, Meinungsbildung, Wertevermittlung, Gesprächsanlässe, Denkanstösse, kurz: Substanz, die Lesern hilft, zu Menschen mit Persönlichkeit heranzuwachsen. Gewiss, das klingt verdächtig nach Moral. Aber wer Bücher für Kinder macht und vertreibt, hat eine Verantwortung. Und es ist ja keineswegs so, dass die Branche dies von sich wiese. Sie hat ein besseres Image als die Tabakindustrie, und sie weiss das, arbeitet damit und profitiert davon. Aber kann man sie in diesem Rollenspiel noch ernst nehmen?

Die Situation erinnert an einen Kippmoment vor mehr als dreissig Jahren. Auch damals war das Angebot an Büchern für Kinder ermüdend harmlos und gefällig. Für die Kleinen gab es niedliche Bilderbücher, für die Grösseren Enid Blyton und Abenteuergeschichten aus fernen Ländern. Zwischen Jungen- und Mädchenbüchern wurde klar unterschieden. Legendär ist Peter Härtlings Verwunderung, bei der Suche nach Büchern für seine Kinder fast nur solche zu finden, in denen die Helden in Internaten leben und auf Pferden reiten. Härtling beschloss, selbst andere Kinderbücher zu schreiben. Auch einige Lektoren wollten den Kindern mehr bieten, sie herausfordern und in ihrer Lebenswirklichkeit ernst nehmen. Sie forderten den Einzug von Realität und literarischer Qualität in die Kinderbuchregale – und (ver-)legten los. Ohne mächtige Marketingabteilungen im Rücken, ohne Vertriebsstrategien und Zielgruppenanalysen. Es war ein Risiko.

Verlegerpersönlichkeiten wie Hans-Joachim Gelberg, um nur die wichtigste zu nennen, haben die Bücher gemacht, die sie für notwendig hielten, hoffend und glaubend, dass es dort draussen Leser geben würde, denen genau solche Bücher fehlten. Was folgte, war die Revolution im Kinderbuchregal. Zum Teil schoss sie übers Ziel hinaus, es gab herbe Verluste. Otfried Preussler wurde angefeindet, James Krüss zog sich zurück, statt des rechten pädagogischen Zeigefingers wackelte mitunter heftig der linke. Aber niemand kann leugnen, dass die Verleger dieser Stunde um eine eigene Haltung rangen und mit Leidenschaft und Schärfe um Wertmassstäbe stritten. Und dass ­dies der Kinderliteratur gut tat und entscheidende Impulse gab.

Wer nach den Wertmassstäben der Kinderbuchmacher von heute forscht, stochert in einem Nebel aus Gutmenschentum, Konfliktvermeidung und Indifferenz. Lektoren, die für eine der vielen Serien zuständig sind, geben gerne zu, dass dies nicht ihre persönliche Wunschkinderliteratur ist, aber: «so ist nun mal unser Verlagsprofil». Die Buchhändlerin seufzt über die Einheitsware, legt sie dennoch stapelweise aus, denn: «das wird nun mal gekauft». Der Mangel an Qualität wird gelegentlich noch bemerkt, aber niemand will daran schuld sein. Die Entscheider haben sich mit einer bequemen Pauschalentschuldigung aus der Verantwortung gestohlen: immerhin lesen die Kinder diese Sachen. Die nach dem Pisa-Schock gross in Mode gekommene Leseförderung geht hier eine unselige Allianz mit den banalsten Vertriebsinteressen der Verlage ein. Hauptsache, das Kind liest überhaupt – was, das ist fast egal. Lesen als ein tiefergehendes Glückserlebnis, das eine gewisse Anstrengung wert ist, dann aber mit einem Mehrwert belohnt, der anders schwer zu haben ist – geschenkt. Gut ist, was jetzt sofort Spass macht, vergleichbar dem Vorabendfernsehen. Nach dieser Maxime scheint man in vielen Verlagen wenn nicht zu denken, so doch zu verlegen. Die Kinderbuchbranche gibt mit dieser Haltung ihre Glaubwürdigkeit als moralische Instanz auf; aber dass sie es ausgerechnet unter der Parole «Leseförderung» tut, darf man zynisch nennen. Oder naiv? Vielleicht hat ja das Pisa-Ergebnis, als Unfall verstanden, die vielen Leseförderer so schockiert, dass sie sich, wenn sie sich über den Patienten beugen, schon damit zufriedengeben, wenn er nur atmet. Wer aber nur atmet, hat ein lausiges Leben. Und wer nur seichte Serienbücher kennt, hat als Leser ein lausiges Leben. Wie es dann weitergeht, kann man jetzt schon sehen: die vielbeschworenen All-Ages-Bücher sind meist nur die Verlängerung der Kinder-, vor allem aber der Fantasyliteratur mit anderen Mitteln. «Lesefutter» für infantile Lesebedürfnisse Erwachsener.

Es wird Zeit, dass die Erwachsenen sich wieder als zuständig betrachten für den Lesensweg der Kinder. Eltern haben sonst durchaus ein kritisches Auge auf das Konsumverhalten ihrer Kinder – wenn es um Süssigkeiten oder die Zeit vor dem Fernseher geht. Sie sollten aufhören, das Lesen als Wert an sich zu buchen und ihren kritischen Blick auch auf das ausweiten, was aus Büchern in die Köpfe ihrer Kinder hineingeht. Und nach Alternativen suchen, wenn ihnen das zu dürftig ist, am besten nach Geschichten, die sie selbst auch geniessen können. Die Kinderliteraturkritik, kaum vorhanden und vom Durcharbeiten des süssen Breis überfordert, ist keine grosse Hilfe. Was not tut, ist eine Radikalkur des Kinderbuchmarktes. Die aber kann nur von innen heraus entstehen, durch Rückbesinnung auf das, was das Kinderbuchmachen eigentlich ausmacht. Nämlich eine brennende Leidenschaft für exzellente Literatur und der dringende Wunsch, Bücher unter die Kinder zu bringen, die alles mögliche sein dürfen, aber nicht dumm.

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(0) Kein Ende der Leselust

VORSICHT BÜCHER! steht hin und wieder gross auf Buchpaketen, die von der Post ausgeliefert werden. Es könnte als Hinweis auf die psychischen Erschütterungen verstanden werden, die Bücher bei manchen Menschen hervorrufen. «Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch?», fragte Franz Kafka […]

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