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Jackie Bauer und Veronica Weisser, zvg.

3, 2, 1, meins!

Unsere Gesellschaft hält individuelle Freiheit und Gestaltungsmöglichkeiten hoch. Doch das Vorsorgesystem basiert weiterhin auf veralteten kollektivistischen Normen. Wäre es nicht Zeit, das Dreisäulenmodell vom Kopf auf die Füsse zu stellen?

Von der Ursprungsidee Ende des 19. Jahrhunderts über die Verfassungsgrundlage bis hin zum Inkrafttreten der heutigen AHV als erste gesetzlich geregelte Säule des schweizerischen Vorsorgesystems in den 1940ern vergingen über 60 Jahre. Nun besteht dieses System schon gut 80 Jahre, wurde durch zwei weitere Säulen ergänzt und immer wieder leicht verändert. Doch im Kern spiegelt es eine aus heutiger Sicht altmodische Welt wider, in der eine Familie über mehrere Generationen füreinander sorgt, der Vater das Geld verdient, die Mutter sich um den Haushalt kümmert und sie bis ans Lebensende zusammenbleiben.

Die Gesellschaft hat sich seither allerdings stark gewandelt. Zum einen verlängerte der medizinische und wissenschaftliche Fortschritt unsere Lebenserwartung deutlich. Zum anderen folgen unsere Familien- und Erwerbsmodelle seit langem nicht mehr dem linearen Verlauf der Vergangenheit. Das zeigt sich auch in den Reformversuchen der vergangenen Jahre, die sich nur selten komplett von den historischen Zwängen befreien konnten.

Einmal hü und einmal hott

Zweifellos hat das gute Sozialsystem der Schweiz zum hiesigen Wohlstand beigetragen, was den Wandel der gesellschaftlichen Normen hin zu einem stärkeren Individualismus ­weiter begünstigte. Doch wer A sagt, muss auch B sagen. Wir haben mit traditionellen Normen gebrochen, wo es die persönliche Gestaltungsfreiheit erhöhte, beispielsweise indem wir deutlich weniger Kinder haben, die entweder im Alter ­direkt für uns sorgen oder die finanziellen Mittel aufbringen, um unsere Renten zu zahlen. Gleichzeitig beharren wir auf ­einem System, das sich nur aufrechterhalten kann, wenn das historische Bild der Grossfamilie weiter vorherrscht.

Eine individualisierte Gesellschaft – wie sie sich in der Schweiz immer deutlicher zum Ausdruck bringt, beispielsweise in den aktuellen Bestrebungen für die Individualbesteuerung – bräuchte ein angepasstes Vorsorgesystem. Eines, in dem das individuelle Sparen an erster Stelle stehen sollte und den wichtigsten Beitrag zum Erhalt des Lebensstandards im Ruhestand leistet. Das staatliche Sicherheitsnetz würde lediglich vor einer harten Landung im Ernstfall bewahren.

Individuelles Sparen hat oberste Priorität

Sparen ist eine Tugend, die wir mit dem Sparschwein schon als Kinder gelernt haben. Die heutige dritte Säule ist die langweilige Erwachsenenversion des Sparschweins; in digitalen Zeiten könnte sie dieses sogar schon in Kindertagen ersetzen und so einen fliessenden Übergang schaffen von der Zeit, wo Sparen Spiel ist, hin zum Ernst des Lebens. So sollten wir die Spartugend zum obligatorischen Hauptpfeiler unserer Altersvorsorge machen. Ähnlich wie wir heute eine obligatorische Krankenversicherung abschliessen müssen, sollten alle verpflichtet sein, ein persönliches Vorsorgesparschwein zu haben.

«Ähnlich wie wir heute eine obligatorische Krankenversicherung

abschliessen müssen, sollten alle verpflichtet sein, ein persönliches

Vorsorgesparschwein zu haben.»

Den Anbieter und das konkrete Instrument könnte man gemäss den individuellen Ansprüchen wählen. Anstatt wie heute einen Maximalbetrag müssten Erwerbstätige einen prozentualen Minimalanteil des Lohnes jährlich ansparen und könnten bis zu einem Maximalbetrag von steuerlicher Begünstigung profitieren. Nichterwerbstätige könnten ebenfalls ­einzahlen. Auch könnte man darüber diskutieren, schon im Kindesalter mit dem disziplinierten Ansparen zu beginnen.

Das Kapital sollte zudem flexibler bezogen werden können, beispielsweise für (Weiter-)Bildung. Für Personen, die Familienmitglieder – jung wie alt – betreuen, ist es in einem individuellen System Privatsache, zu entscheiden, wer wie viel und wann einzahlt; auch Nachzahlungen sollten erlaubt sein. Ausserdem sollte man nicht verpflichtet sein, erst bei ­Erreichen des Rentenalters den gesamten Betrag zu beziehen, sondern sollte über den Ruhestand hinweg kleine Beträge auflösen können.

In den meisten Fällen wäre dieser private Sparbatzen bei Rentenbeginn dem Pensionskassenguthaben ebenbürtig – vorausgesetzt, er wird diszipliniert investiert und profitiert vom Zinseszinseffekt. Die Priorisierung der dritten Säule würde das Gesamtvermögen bei Rentenbeginn für den Grossteil der Bevölkerung im Vergleich zu heute aufstocken.

Ein solches Modell hätte mehrere Vorteile. Erstens erlaubt es, die eigene Zukunft in die Hand zu nehmen, bietet mehr Entscheidungsmöglichkeiten und fördert auch mehr finanzielle Bildung. Zweitens bietet es mehr Transparenz über die eigene Vorsorge; beides erhöht das Vertrauen ins System. Drittens würden ein grösserer Markt und erhöhter Wettbewerb das Angebot verbessern.

Zurück zur Versicherung

In seinem Ursprungsgedanken war das Vorsorgesystem eine Versicherung gegen das Alter und die Gebrechen, die damit verbunden sind und die individuelle Erwerbsleistung erschweren oder verunmöglichen. Über die Jahre hat sich der Eindruck verbreitet, dass das Erreichen eines bestimmten ­Alters Grund genug sei, nicht mehr zu arbeiten, und dass der Staat dann Renten leiste. Im ökonomischen und gesellschaftlichen Umfeld Mitte des 20. Jahrhunderts konnte man sich das leisten. Im heutigen Umfeld mit tiefem Produktivitätswachstum und weniger Nachkommen ist die Finanzierung aber sehr viel teurer.

Eine staatliche Rentenversicherung bleibt auch in Zukunft ein wichtiger Teil eines breit abgestützten Vorsorge­systems. Allerdings sollte sie zu ihrem ursprünglichen versicherungstechnischen Charakter zurückkehren und damit auch individuell abgeschlossen werden können. Versicherung bedeutet kollektive Risikoübernahme: Man erkauft sich Unterstützung vom Kollektiv für den Fall, dass ein Risiko eintritt, für das man selbst nicht aufkommen kann.

«Eine staatliche Rentenversicherung bleibt auch in Zukunft ein wichtiger Teil des Vorsorgesystems. Allerdings sollte sie zu ihrem ursprünglichen versicherungs­technischen Charakter zurückkehren und damit auch

individuell abgeschlossen werden können.»

Der Versicherungsumfang wäre in verschiedenen Stufen wählbar. Ob beispielsweise Hinterbliebenenrenten ausbezahlt werden oder nicht, würde den Preis der Versicherung beeinflussen. Solidarität könnte aufrechterhalten werden, indem ein steuerfinanzierter staatlicher Zustupf dazu beitrüge, die Versicherung erschwinglich zu halten.

Auch die zweite Säule könnte von Reformen profitieren. Doch sollte sie als berufliches Vorsorgegefäss das mittlere Standbein in einem starken Dreisäulensystem bleiben. Das Vorsorgesystem in seiner aktuellen Form hat mit zum heutigen Wohlstand beigetragen. Damit aber auch zukünftige ­Generationen diesen Wohlstand (und noch mehr) geniessen können, braucht es Mut zu einem angepassten, individuelleren Vorsorgesystem.

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