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23. Oktober 1956: einmalige Welle der Solidarität

Den ungarischen Flüchtlingen wurde in der Schweiz unbürokratisch und stark geholfen. Die ungarische Revolution prägte eine ganze Generation.

23. Oktober 1956: einmalige Welle der Solidarität

23. Oktober 1956: das Radio bringt erste Meldungen über einen Aufstand. Ausgelöst worden war er von Studenten, die zunächst Versammlungen abhielten, Rechte forderten, die für uns selbstverständlich sind, wie Meinungsäusserungsfreiheit, Versammlungs- und Redefreiheit. Zu den friedlich demonstrierenden Studenten gesellten sich rasch Arbeiter und weitere Kreise der Bevölkerung. Der Aufstand war weder geplant noch organisiert. Doch dann fielen die ersten Schüsse, und die seit Jahren aufgestaute Wut explodierte.

Gebannt hing ich am Radio. An das Studium war nicht mehr zu denken. Zu aufgewühlt war ich von dem Geschehen. Würde es nach dem Scheitern des Aufstandes in Ostberlin vom 17. Juni 1953 endlich einem Volk gelingen, das kommunistische Joch abzuschütteln, und könnte das sogar zu einem Dominoeffekt führen? Rasch fand sich eine Gruppe von Studenten zusammen mit dem Ziel, ihre ungarischen Kommilitonen im Kampf gegen die sowjetische Besatzungsmacht zu unterstützen. Anfänglich schien der Aufstand Erfolg zu haben. Doch dann kehrten die sowjetischen Panzer am 4. November zurück. Die Hauptexponenten des Aufstands, Imre Nagy und Pál Maléter, wurden verhaftet und später hingerichtet. Wir waren erschüttert, frustriert auch über die eigene Machtlosigkeit. Hunderttausende Ungarn flohen unter gefährlichsten Bedingungen. Viele verloren dabei ihr Leben. Die verzweifelten Hilferufe aus Ungarn verhallten ohne Antwort. Der Westen konnte nicht eingreifen, wollte er nicht einen Flächenbrand riskieren. Wir beschlossen, wenigstens den Studenten zu helfen, die ihren Weg in die Schweiz gefunden hatten.

Für viele von uns war es das erste Mal, dass wir von den Auswirkungen des kommunistischen Regimes auf den Einzelnen so unmittelbar erfuhren. Da standen Studenten in unserem Alter vor uns, die gefoltert worden waren, in Gefängnissen gesessen hatten, die bespitzelt und verfolgt worden waren und in ständiger Angst hatten leben müssen.

Eine einmalige Welle der Solidarität und Hilfsbereitschaft erfasste die schweizerische Bevölkerung. Für eine Abbruchliegenschaft, die wir Studenten zu einem Heim für Flüchtlingsstudenten herrichteten, bekamen wir alles, was wir brauchten, geschenkt: Möbel, Wäsche, Kücheneinrichtung, Werkzeug. In kürzester Zeit war das Haus bezugsbereit. Zahlreiche Familien nahmen einen Flüchtlingsstudenten auf, Zahnärzte und Ärzte behandelten kostenlos Flüchtlinge, bis die versicherungsrechtlichen Fragen geklärt waren. Unbürokratisch wurde auch von Seiten der Behörden und der Armee gehandelt.

Was waren die Wurzeln dieser Solidarität? Waren es Erinnerungen an die eigene Geschichte, die Bewunderung des Mutes der Aufständischen, die ihr Leben für die Freiheit riskierten? Der Kalte Krieg war auf dem Höhepunkt angelangt, in einem Jahrhundert, das wie keines zuvor gezeichnet war von zwei wahnwitzigen Ideologien, die für Millionen von Menschen unvorstellbares Leid zur Folge hatten. Der Kalte Krieg und besonders die ungarische Revolution prägte auch eine ganze Generation in der Schweiz.

Kaum dreijährig beim Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, erfasste ich das Ausmass der Katastrophe erst später. Den Ungarn-Aufstand dagegen erlebte ich knapp 20jährig und im Kontakt mit den Flüchtlingen intensiv. Wenn ich es nicht schon vorher war, wurde ich damals lebenslänglich gegen jede Form von Totalitarismus geimpft.

Die Ereignisse in Ungarn schärften meinen Sinn für die Werte einer freiheitlichen und sozialen Demokratie, festigten die Überzeugung, dass dem Schutz der Menschenrechte oberste Priorität eingeräumt werden muss. Dafür wollte ich mich einsetzen. Ich wurde hellhöriger dafür, wenn auch in unserem Staat rechtsstaatliche Prinzipien verletzt werden. Die weitgehend fehlende Verfassungsgerichtsbarkeit, die mangelnde Unabhängigkeit unserer Richter, der Vorrang des demokratischen vor dem rechtsstaatlichen Prinzip waren Themen, die mich fortan begleiteten.

Die Demokratie sei die schlechteste Staatsform mit Ausnahme aller anderen, meinte Churchill einmal. Demokratie ist aber nicht zuletzt die Staatsform, die am ehesten in der Lage ist, Menschenrechte auf Dauer zu garantieren. Da, wo der Gemeinschaftssinn schwindet und die Bereitschaft abnimmt, sich für die Allgemeinheit einzusetzen, wird der Demokratie das Fundament entzogen. Auch das sollten wir uns im Gedenken an den Freiheitskampf der Ungarn vor 50 Jahren vor Augen halten.

Elisabeth Kopp, geboren 1936, war von 1984 bis 1989 Vorsteherin des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements.

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