(2) Von der Schwierigkeit, ein Leuchtturm zu sein
Die Gründer der Universität Zürich waren von der Vision der Volksbildung beseelt. Wie bewältigt die Universität heute den Spagat zwischen kantonaler Hochschule mit Bildungsauftrag und Ausbildungsstätte in der globalisierten Wissensgesellschaft? Eine Zwischenbilanz.
Der Begriff «Exzellenz» ist an Universitäten im deutschsprachigen Raum relativ neu. Wie so vieles andere auch, wurde er aus dem Angelsächsischen importiert, wo sich vorab auch private Hochschulen mit dem werbewirksamen Prädikat «center of excellence» schmücken. Es stellt sich die Frage, welche Merkmale eine exzellente Universität auszeichnen – ist es ein beeindruckender Campus, sind es spektakuläre Forschungserfolge, vielbeachtete Publikationen, preisgekrönte Professoren, Internationalität, bedeutende finanzielle Zuwendungen, gesponserte Lehrstühle und Forschungsprojekte, glänzende Karrieren der Alumni oder die Anzahl der Spin-offs?
Wohl auch, doch ist das nicht genug. Der Weg zur Exzellenz führt vorab über die Mentalität, den genius loci eines Lehr- und Forschungsortes; im akademischen Biotop muss auf allen Ebenen der Wille zur Leistung, die wissenschaftliche Neugier, Vorurteilslosigkeit und Kooperation über fachliche und geographische Grenzen hinaus, Begeisterung für die wissenschaftliche Arbeit mit jungen Menschen und permanente Weiterbildung der Lehrer mit Vorbildfunktion den Ton angeben. Aufwendige Nebentätigkeiten wie Verwaltungsratspräsidien und Mitwirken in Parlamenten dürfen nicht dazu führen, dass die Studenten ihre Professoren praktisch nur vom Hörensagen kennen.
Exzellenz beginnt demnach mit einer rigorosen Selektion des Lehrkörpers, wobei die Habilitation der Professoren ein absolutes Muss darstellt. Auch versteckte Quotenregelungen haben darin keinen Platz; Fachkompetenz und Persönlichkeit sollen die bestimmenden Faktoren sein. Ferner muss die Universität die Freiheit haben, für Studenten Aufnahmeverfahren sowie quantitative und qualitative Zulassungsbeschränkungen und angemessene Studiengebühren festzulegen. Exzellenz sehe ich nicht als einen stabilen Zustand, sondern als Prozess, mithin als subtiles Zusammenspiel der Rahmenbedingungen, der zu erfüllenden Aufgaben und der darin agierenden Individuen in Interaktion mit der Gesellschaft.
Im schweizerischen Kontext werden die Begriffe «Exzellenz» und «Elite» mit grosser Zurückhaltung verwendet – sie sind beinahe tabuisiert; die helvetisch-demokratische Bravheit misstraut prinzipiell allem Herausragenden, der politische Wille verlangt Homogenisierung. Wieviel Exzellenz ist nun der Zürcher Universität zuträglich? Darf sie sich, anders gefragt, als Einrichtung des öffentlichen Rechts zur Elite-Schmiede trimmen? Gelingt ihr in einem internationalen und kompetitiven Forschungs- und Bildungsmarkt der Spagat zwischen ihrem Bildungsauftrag als kantonaler Hochschule einerseits und den Erfordernissen einer globalisierten Wissensgesellschaft anderseits?
Ein Streifzug durch die Geschichte der Universität Zürich offenbart eine Institution, die seit ihrer Geburtsstunde mit durchaus exzellenten Ereignissen aufwarten kann. Die Gründung reicht in die für den Kanton Zürich zukunftsweisende Ära der Regeneration und die am «Ustertag» 1830 beschlossene neue Verfassung zurück, die unter anderem zur Einführung der Gewaltenteilung und Volkssouveränität, zur politischen Gleichstellung aller Kantonsbürger und zur Säkularisierung der Volksschule führte. Die durch Zusammenschluss einzelner höherer Schulen ins Leben gerufene Universitas Turicensis stellte ein europäisches Novum dar, war sie doch die erste universitäre Gründung eines auf demokratischer Verfassung ruhenden Staatswesens. Sie umfasste eine theologische, juristische, medizinische und philosophische Fakultät. Ganz Kinder ihrer Zeit, liessen sich die Gründerväter – allen voran Johann Caspar von Orelli – von der Vision der «Bildung des Volkes» leiten, die von einer gesamtschweizerischen Hochschule zürcherischer Provenienz ausgehen sollte. Letztere wurde dann nicht im Rahmen der Universität Zürich, sondern in dem im Jahre 1855 geschaffenen Eidgenössischen Polytechnikum – heute ETH – verwirklicht.
Vierunddreissig Jahre brauchte es, bis die erste Frau im deutschen Sprachraum, Nadesha Suslowa, im Jahre 1867 an der Universität Zürich in Medizin promoviert wurde. 1901 entstand die Veterinärmedizinische Fakultät, als weltweit erste ihrer Art. Als Winston Churchill am 19. September 1946 in der Aula der Universität mit seiner Rede an die «Akademische Jugend der Welt» die mentale Aufarbeitung des faschistischen Traumas einläutete und dem kriegswunden Kontinent sein heute wieder hochaktuelles Vermächtnis «Let Europe arise» zurief, blickte die Welt gebannt nach Zürich.
Exzellenz dokumentieren auch die bisher zwölf an der Universität Zürich lehrenden Nobelpreisträger, wovon fünf in Physik, vier in Chemie, zwei in Medizin und einer in Literatur. Darunter finden sich weltberühmte Namen wie die Albert Einsteins, Theodor Mommsens und Wilhelm Conrad Röntgens. Der 1996 mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnete Rolf M. Zinkernagel forscht und lehrt bis heute in Zürich. Die 1992 vorgenommene Trennung der bis da als Einheit geführten rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät in zwei unabhängige Fakultäten löste Institutsgründungen mit vertieften Forschungsaktivitäten aus. Im Jahre 1994 lancierte die Universität Zürich das Reformprojekt «uni 2000» mit dem Ziel, die Strukturen den gestiegenen Anforderungen anzupassen.
Nur kurz sei hier das rasante quantitative Wachstum der grössten Schweizer Hochschule skizziert. Im ersten Studienjahr immatrikulierten sich 161 Studenten, betreut von gesamthaft 55 Lehrern. Im hundertsten Jahr ihrer Gründung – 1933 – war die Hörerschaft auf 2’033 Studenten angewachsen, vierzig Jahre später frequentierten bereits 10’000 «Babyboomer» die Zürcher Universität. Mit der von deutschen Universitäten in den 1960er Jahren inspirierten Forderung des «Rechts auf Bildung» schwappte auch erstmals der Begriff der Massenuniversität in die Schweiz über. In den letzten fünfunddreissig Jahren hat sich die Zahl der Studenten mit rund 24’000 mehr als verdoppelt, der Forschungs-, Lehr- und Dienstleistungsbetrieb wird von 413 Professoren geführt, unterstützt von 2’370 Personen im wissenschaftlichen Mittelbau sowie 1’622 administrativen und technischen Mitarbeitern. Damit ist die Universität Zürich für schweizerische Verhältnisse zum akademischen Grossbetrieb angewachsen. Lassen sich schnelles Wachstum und Grösse mit Exzellenz vereinbaren?
Im Jahr 1998 verabschiedete das Stimmvolk des Kantons Zürich das neue Universitätsgesetz, das der Hochschule eine eigene Rechtspersönlichkeit verleiht, sie mit einem Globalbudget versieht und ihr grösstmögliche Freiheiten in Forschung und Lehre garantieren soll. Als kantonale Einrichtung ist die Universität Zürich dem Interesse der Allgemeinheit verpflichtet. Dementsprechend breit sind die Immatrikulationsvoraussetzungen angelegt; die anschwellenden Studentenzahlen bedingen die Vergrösserung des Lehrkörpers und damit eine Herabsetzung der Eintrittsschwelle für Dozenten – die Spirale dreht sich. Damit einher geht die Steuerung sämtlicher strategischer Entscheide durch politische Gremien und die Reduktion der Kompetenzen der Universitätsleitung auf den operativen Betrieb von Forschung, Lehre und Dienstleistungen. Man erinnere sich der jüngsten Episode, als der Versuch gründlich misslang, die Zürcher Universität (wieder) zum Hort der schweizerischen Spitzenmedizin zu machen – Egoismen und Kleinkariertheit wussten das effizient zu verhindern. Der Weltruf der Zürcher Herzchirurgie, Augenheilkunde und Psychiatrie ist Vergangenheit, der Glanz verblichen. Das Universitätsgesetz schreibt detaillierte Regelung der Aufgabenverteilung vor; so sind etwa Professoren verpflichtet, bei administrativen Aufgaben mitzuwirken. Solch bieder-provinzielle Disziplinierungen sind kein Lockstoff für international ausgerichtete Wissenschafter.
Die Politik hat die Universität fest im Griff, nimmt Einfluss durch die Oberaufsicht des Kantonsrates und durch die allgemeine Aufsicht des Regierungsrates. Auch der Universitätsrat als oberstes Organ wird durch den Regierungsrat aus einem Kreis von Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Kultur, Wirtschaft und Politik gewählt und ist somit «verpolitisiert». Immerhin darf die Universitätsleitung mit beratender Stimme an den Sitzungen des Universitätsrates teilnehmen. Indem die Universität solchermassen am finanziellen Tropf und am Gängelband des Staates hängt, wird das Freiheitsideal doch arg strapaziert und das Streben nach Exzellenz zum Spiessrutenlauf durch die politischen Instanzen. Unter diesen Prämissen ist die gebetsmühlenartig repetierte Feststellung, Wissen sei der wichtigste Exportartikel unseres rohstoffarmen Landes, nachgerade daran, zum Stammtisch-Spruch der «Bildungspolitiker» zu verkommen.
Das Leitbild der Universität Zürich illustriert das Bestreben, gleichermassen der Exzellenz und der Bildung des Volkes gerecht zu werden. Ihre Identität liegt in der universitas, gegeben durch Grösse und Interdisziplinarität, sowie in der Freiheit und Öffentlichkeit der Wissenschaft. Ziele und Aufgaben sind zum einen auf «hohe Qualität», «höchste internationale Standards», «Forschung auf höchstem Niveau» sowie auf «wissenschaftliche Arbeit unbeeinflusst von externen Zwängen und ideologischen Einflussnahmen» ausgerichtet, zum anderen wird wiederholt auf die Verantwortlichkeit gegenüber der Öffentlichkeit und deren Bedürfnissen hingewiesen. Die «Chancengleichheit auf allen Stufen» wird zum Grundsatz erklärt und die Öffnung «für alle Personen mit den erforderlichen Qualifikationen» zum Prinzip erhoben. Sie möchte die Chancen des Standorts Zürich nutzen und zu dessen Entwicklung beitragen, «bemüht» sich um die Rekrutierung einer internationalen Dozentenschaft und um die Attraktivität für Studenten aus dem Ausland und «fördert die nationale und internationale Zusammenarbeit in Forschung und Lehre» – soweit das Selbstverständnis der Universität Zürich, datierend aus dem Jahre 2001.
Blicken wir über die Grenze. Die in Deutschland lancierte «Exzellenzinitiative» zur Förderung der universitären Forschung stellt für die Jahre 2006 bis 2011 1,9 Milliarden Euro zusätzliche Mittel für drei abgestufte Förderlinien bereit. Es sollen «Leuchttürme der Wissenschaft in Deutschland entstehen, die auch international ausstrahlen». Damit wurden unserem Nachbarland nun neun mit dem Exzellenz-Prädikat für «Zukunftskonzepte zum projektbezogenen Ausbau der universitären Spitzenforschung» ausgezeichnete Universitäten beschert. Das Gerangel um die staatlichen Lorbeeren ist entschieden; nun darf man gespannt sein, wie sich die prämiierten Zukunftskonzepte der Spitzenforschung im Langzeitversuch bewähren.
Und die Universität Zürich – darf sie nun elitär sein, oder darf sie nicht? Ginge es nur nach dem Willen der Politik, dürfte sie nicht. Sie wäre eine Volksbildungsanstalt für die dank herabgesetzten Anforderungen immer zahlreicher werdenden Maturanden, sie wäre also – man verzeihe mir den Ausdruck – ein akademischer Discountmarkt. Zahlreiche Wissenschafter, Vertreter aus Wirtschaft und hellhörige Zeitgenossen sind sich darin einig, dass das Streben nach Exzellenz nicht nur nice-to-have, sondern eine conditio sine qua non zur Bewältigung der an einen Wissenschaftsbetrieb des 21. Jahrhunderts gestellten Anforderungen ist. Die staatlichen Fesseln sind zu lockern, die Rahmenbedingungen müssen das intellektuell-kreative Klima der akademischen Freiheit fördern, das die Guten und Besten aller Disziplinen anlockt. Dank Innovationsgeist, Leistungsfreude und Fachkompetenz hat es der Wirtschaftsstandort Zürich zur Weltgeltung gebracht; nun ist es an der Zeit, auch für den Wissenschaftsbetrieb die mit einem Tabu behaftete «Exzellenz» zum Programm zu erklären, damit dereinst eine geistige Elite, herausgewachsen aus der Universität Zürich, unsere Gesellschaft vorwärts bringt. «Think global, act local» könnte das Rollenverständnis der Zürcher Universität sein. Das kommende Bundesgesetz über die Förderung der Hochschulen und die Koordination im schweizerischen Hochschulbereich böte dazu die Chance.