(2) Unser aller Erbe
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts steht Europa vor
einer entscheidenden Frage: Will es ein freier Kontinent sein oder ein neues paneuropäisches Imperium?
Das moderne Europa ist aus dem selbstverschuldeten Untergang eines überzentralisierten Imperiums – des Römischen Weltreichs – hervorgegangen. Man könnte auch sagen: aus dem Prinzip des Wettbewerbs, der eine politische und kulturelle Vielfalt hervorgebracht hat, wie sie kein anderer kultureller Grossraum kennt.
Max Weber, nach ihm Eric L. Johnson, Erich Weede, und zuletzt Philippe Nemo in seiner brillanten Studie über den «Westen», haben Europas kulturelle und politische Strukturen und die Gründe dafür analysiert, warum nur in diesem Raum der moderne Kapitalismus entstanden ist. Damit ist jenes erfolgreiche Handlungs- und Ideenmuster gemeint, das, im Zuge der Globalisierung, durch freie Zustimmung der Konsumenten einen bisher nie dagewesenen Wohlstand geschaffen und die meisten Völker der Welt für sich eingenommen hat.
Marktwirtschaftliche Arbeitsteilung, moderne Technik und freie Wissenschaft, «rationaler» Staat und berechenbares Recht sowie eine klare Berufsethik entfalteten sich vor dem Hintergrund eines politischen Wettbewerbs und drängten überall Traditionalismus, Monopole (auch geistig-religiöse) und magische Welteinstellungen zurück. Schon Athen und das antike Griechenland waren wettbewerbsmässig formiert. Der Agon, der griechische Wettstreit, wurde nicht nur im Sport verherrlicht. Das römische Privatrecht arbeitete die Kategorien von Eigentum und individueller Person scharf heraus. Die jüdisch-christliche Botschaft überhöhte den Individualismus religiös: jeder in Unmittelbarkeit zu Gott – ein wichtiges Vermächtnis an den späteren Liberalismus. Nicht «der Staat» (oder sonst ein Kollektiv), so ist die Botschaft, darf das letzte Wort haben oder kann der letzte Wert sein.
Höhepunkte der europäischen Geschichte waren immer jene Zeiten, in denen der Wettbewerb besonders intensiv war: nicht nur das antike Griechenland, auch das hohe Mittelalter mit seinem Polyzentrismus, mit seiner prachtvollen Städtekultur, das agonale Italien der Renaissance gelten mit Recht – ebenso wie später die Aufklärungsperiode und schliesslich das goldene Zeitalter des Freihandels – als Kulminationspunkte der Kulturgeschichte. Schon der Feudalismus als Prinzip äusserster politischer Nonzentralisation, der den spätrömischen Terrorstaat ablöste, war der Freiheit ebenso günstig wie später die Konkurrenz von Staat und Kirche, Imperium und Sacerdotium. Die Konkurrenz hat den Staat entheiligt und den omnipotenten Cäsaropapismus – wiederholten Bemühungen der deutschen Kaiser zum Trotz – verhindert.
Die weltweite Expansion europäischer Macht lässt sich nur vor dem Hintergrund des Wettbewerbs der Staaten und Nationen verstehen. Es waren die konkurrierenden, immer ausgeprägteren Kollektivindividualitäten der Nationen, die in neueren Jahrhunderten den Reichtum Europas ausmachten. Der Historiker Hermann Heimpel stellte zu Recht fest: «Dass es Nationen gibt, ist das Europäische an Europa.» Doch es ist gewiss nicht zutreffend, in der besonderen Begeisterung Herders für die Vielfalt der Völker und seiner heftigen Ablehnung des Römischen Reiches den Ursprung des späteren nationalistischen Dämons zu sehen.
Alle Versuche, das nachrömische Europa mit bürokratischen oder militärischen Zwangsmitteln wieder zu vereinigen (Karl der Grosse und einige seiner romantischen Nachfolger, etwa Karl V., Napoleon, Hitler oder Stalin), scheiterten spektakulär. Spektakulär ist auch die Liste gescheiterter Vielvölkerstaaten in Europa: Österreich-Ungarn, Jugoslawien, Tschechoslowakei, Sowjetunion und demnächst vielleicht Belgien. Zweifellos haben die mörderischen «Bruderkriege» das wettbewerbliche Europa im 20. Jahrhundert geschwächt. Aber diese geschwächten Nationen waren nach dem Zweiten Weltkrieg unter der Führung der grossen europäischen Tochternation Amerika klug genug, ihre Kräfte zu bündeln, um sich gegen jenes totale Imperium zu behaupten, das einen grossen Teil Europas mit Waffengewalt unterjocht hatte und mit seiner konstruktivistisch-kommunistischen Ideologie das zu zerstören drohte, was eben «europäisch» an Europa war – das Sowjetreich unterlag im globalen Wettbewerb. Das Schicksal des Römischen Reiches, der langsame, jahrhundertelange Niedergang, blieb ihm dank der überlegenen Konkurrenz durch den Westen erspart.
Die neue Bedrohung des Europäischen kommt heute nicht aus dem imperialen Machtstreben einer einzelnen europäischen Nation oder eines an den Grenzen drohenden, totalitären Imperiums, sondern sie hat sich aus jenem funktionellen Hilfsorgan entwickelt, das sich die führenden europäischen Nationen nach dem Zweiten Weltkrieg gaben, um Kriege und Gewalt unter sich auszuschalten und einen Raum freien Austausches und Handels wiederherzustellen, beginnend mit der Montanunion und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Dieses Hilfsorgan – die heutige Brüsseler Euro-Bürokratie – fand schon in der Anfangsphase die Kritik echter Liberaler, wie Wilhelm Röpke einer war: «Wenn wir versuchen wollen, Europa zentralistisch zu organisieren, einer planwirtschaftlichen Bürokratie zu unterwerfen und gleichzeitig zu einem mehr oder weniger geschlossenen Block zu schmieden, so ist das nicht weniger als Verrat an Europa und am europäischen Patrimonium. Wir zerstören gerade das, was wir zu verteidigen haben und was uns selber Europa ebenso liebenswert wie der ganzen freien Welt unersetzlich macht. Eine blosse Verschiebung des Sitzes der Souveränität lässt das Problem des Übermasses unberührt, ja verschärft es noch.» Es war eben von Anfang an das Muster einer bürokratischen Integration von «oben», statt einer organischen Integration durch freien Handel (man denke besonders an das Beispiel der Agrar-«Ordnung»).
Diese Bürokratie hat inzwischen eine ungeahnte Dynamik angenommen. Der noch nicht gültige, von den meisten Politikern kaum wirklich überschaute Vertrag von Lissabon, der camouflierte Nachfolger des gescheiterten Verfassungsvertrags, ist ein vorläufiger Höhepunkt in dem Bemühen, fast alle einer Nivellierung europäischer Vielfalt entgegenstehenden Schranken zu sprengen, auch wenn er die Beruhigungspille eines Austrittsrechts vorsieht. Schon die einheitliche europäische Währung – der Euro – setzt einen einheitlichen Grossraum oder ein Imperium voraus; ebenso ein Binnenmarkt-Konzept, das mehr sein will als Freihandel, indem es zwecks «Senkung der Transaktionskosten» die Standardisierung nicht nur vieler Sitten, Bezeichnungen, Gebrauchsnormen, sondern allen Rechts, inklusive des Zivil-, Handels-, ja selbst des Strafrechts, ins Auge fasst.
Dieses Gebilde hat sich sogar die Kompetenz-Kompetenz gegeben. So gibt es praktisch keinen Politikbereich mehr, auch nicht mehr im Sozial- oder Arbeitsrecht, der nicht, sei es direkt und ausschliesslich, sei es immerhin konkurrierend, das imperiale Projekt vorantreibt, dabei unterstützt durch die zentralisierende Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes. Was hat das Gerede von «Subsidiarität» angesichts dieser entfesselten Zentralisierungsdynamik noch zu bedeuten? Die schwächlichen nationalen Rechte, die der Lissabonner Vertragsentwurf zugunsten der Subsidiarität vorsieht, werden diesen imperialen Zug nicht aufhalten. Der eigentliche Souverän, die europäischen Völker, sind kaum mehr Herren der Verträge.
Ja, Brüssel, wie man statt «Europa» sagen sollte, scheut nicht davor zurück, als Sittenwächter selbst das individuelle Verhalten der Europäer zu modellieren und damit tief in ihr Privatleben einzudringen. Denken wir beispielsweise an die irreführend so genannte Antidiskriminierungs-Gesetzgebung, an das utopisch-überhebliche sogenannte Gender Mainstreaming, an den sogenannten Verbraucherschutz insgesamt, an eine Familienpolitik, die etwa europaweit die Länge des Mutterschutzes bestimmt, oder auch an die europaweit fixierte Höchstarbeitszeit und den Mindesturlaub. Der begleitende sogenannte Bologna-Prozess sucht die Vielfalt der europäischen Bildungssysteme gleichzuschalten: ein und derselbe vergleichbare Bachelor- und Master-Abschluss statt gegenseitiger Anerkennung und freien Wettbewerbs der Nationen um das beste System. Auf europäischer Ebene etabliert sich zudem um die EU-Kommission herum die Herrschaft einer «politischen Korrektheit», die alle abweichenden Ansichten der Zensur, ja fast Inquisition, zu unterwerfen sucht – auch die Kritik am «Europäismus».
Diese Entwicklung läuft weitgehend an den Völkern und den Errungenschaften ihrer politischen Selbstbestimmung vorbei. «Brüssel» ist fern, das Interesse an der parlamentarischen Fassade gering. Selbst die leitenden Politiker der Nationen sind kaum mehr in der Lage, dieses Projekt zu überblicken, das sie in Gang gesetzt haben. Von mächtigen ökonomischen Interessen abgesehen, wird es getragen von einer politischen Klasse egalitärer Technokraten, die unter dem Titel «Harmonisierung» in Wirklichkeit die Standardisierung europäischer Vielfalt forcieren. Die Hoffnung, dass der Beitritt möglichst vieler Länder, namentlich zuletzt der ost-/mitteleuropäischen, diese Entwicklung aufzuhalten und die immer weitergehende «Vertiefung», will sagen Zentralisierung («ever closer union») zu begrenzen vermöchte, hat sich – trotz allen mutigen Warnrufen von Vaclav Klaus und polnischem Widerstand – bisher nicht bestätigt. Die bei Wohlverhalten winkenden Umverteilungsmittel aus den grossen europäischen Umverteilungsfonds schwächen offenbar jeden Widerstand gegen diesen politischen Enteignungsprozess.
Die Frage heute ist, ob die internationale Finanzkrise diesen Zentralisierungsprozess unterbricht oder ihn noch verstärkt. Jedenfalls dürfte der Stabilitätspakt des Maastrichter Vertrages bald ebenso Makulatur sein, wie das Versprechen des deutschen Finanzministers, den Haushalt bis 2011 zu konsolidieren, es bereits ist. Mit der Unabhängigkeit und Stabilität des Euros wird es vermutlich bald vorbei sein, da Unabhängigkeit und Stabilität dem Inflationsstreben der Regierungen im Wege stehen – ein Bruch heiliger Versprechen, aber die natürliche Konsequenz politisierter Geldproduktion, die Friedrich August von Hayek so heftig kritisiert hat.
Mit «Liberalismus» hat dieses europäische Projekt wenig zu tun. Es war immer die Ambition der Liberalen, Macht einzuschränken, zu verteilen, möglichst nach unten zu verlagern, nicht sie bei volksfernen Behörden zu massieren. «Lissabon» ist genau wie sein Vorgänger abgelehnt worden, wenn es auch nur ein kleines Volk war, das diesmal die Gelegenheit hatte, sich zu äussern. Es ist zu fordern, dass die Völker in Abstimmungen über jeden weiteren Schritt mitbestimmen, der ihre politische Substanz bedroht. Es gibt nun einmal kein «europäisches Volk», wie es sich einige «Europäisten» als Ergebnis ihrer Nivellierungsbemühungen erträumen. Auch ein imperiales Weltmachtstreben verträgt sich grundsätzlich nicht mit der liberalen Botschaft. Das europäische Projekt, wie es gegenwärtig abläuft, ist sowohl antiliberal als auch antidemokratisch.
Was kann ein liberaler Freund Europas in dieser Lage hoffen? Er wird für ein anderes Europaideal werben: das Europa des Wettbewerbs, der Subsidiarität und Nonzentralisation. Er wird sich die Macht eher nach unten als nach oben wünschen. Er wird wünschen, dass im letzten die Völker, anstelle einer politischen Klasse, mittels Referenden die Entscheidungen über ihre Zukunft treffen. Er wird das gesetzgeberische Initiativmonopol der EU-Kommission und die angemasste Kompetenz-Kompetenz auf dieser Ebene zu beseitigen suchen. Niemals wird er zugeben, dass ein paneuropäisches Steuer-, Sozial-, Meinungs- und Sittenkartell die Finalität der europäischen Geschichte sein dürfe. Er wird sich auf das Europäische an Europa besinnen.
So haben wir heute die Möglichkeit, einen europäischen Bund souveräner Staaten auf der Grundlage einer freiheitlichen Verfassung zu wählen. In ihm würde ein auf allen Ebenen bestehender Wettbewerb als disziplinierende Kraft wirken und die europäische Vielfalt erhalten. Die einzelnen Staaten würden, durch Konkurrenz und Kooperation untereinander, aus Europa einen Hort der freien Marktwirtschaft machen, der letztlich auch den freien Handel in der ganzen Welt fördern und einen Beitrag zu einer offenen Weltordnung leisten würde. Die andere Möglichkeit ist die eines interventionistischen, bürokratischen Systems, dessen Geschicke von Brüssel aus geleitet werden: der imperiale europäische Wohlfahrtsstaat, das Ende jenes Europa, das uns am Herzen liegt.