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(2) So nah und doch so fern

Die Schweiz und Deutschland geben ein ziemlich ungleiches Paar ab. So ähnlich die beiden Bundesstaaten auf den ersten Blick erscheinen, so unterschiedlich ist ihr Verständnis von Staat, Konkurrenz und Föderalismus. Das Konfliktpotential ist gross. Dennoch hat die Beziehung Zukunft.

Eigentlich verstehen sich Deutsche und Schweizer recht gut. Jeden Tag werden mehr als fünf gemischtnationale schweizerisch-deutsche Ehen geschlossen. Im Jahr 2006 waren das 1’969 Ehen. Dabei ist die Wahrscheinlichkeit für eine Deutsche (einen Deutschen), auf einen Schweizer (eine Schweizerin) zu treffen, in der Schweiz dreimal grösser als als umgekehrt für Schweizer in Deutschland. Es gibt also viel mehr gemischte schweizerisch-deutsche Eheschliessungen in der Schweiz als in Deutschland. Dies dürfte mitunter damit zusammenhängen, dass es in einem kleinen Land schwieriger ist, einen passenden Partner zu finden als in einem grossen Land. Die Schweizerinnen und Schweizer müssen häufiger auf Ausländer ausweichen als die Deutschen. Die alte These, dass die Schweizer die Deutschen nicht mögen, scheint aufs erste widerlegt. Beide lieben sich.

Oft endet aber die Liebe dort, wo die Politik anfängt. Vorsichtige Paare bemühen sich daher, das Thema Politik aus ihren Unterhaltungen auszuklammern. Wenn es dann aber doch einmal dazu kommt, entsteht unverhofft Gefahr für die Beziehung. Die Meinungen prallen aufeinander. Deutsche bewerten die Dinge nach dem Grundgesetz und identifizieren sich mit ihm. In vergleichbarer Weise pochen Schweizer auf ihre Institutionen. Je nachdem, durch welche Farbe seiner Brille der Partner blickt, erscheinen gleiche Fragen unterschiedlich. Daher sollen die Brillen jetzt weggelegt und ein Eindruck mit blossem Auge gewonnen werden.

Beginnen wir mit den Gemeinsamkeiten der politischen Verfassungen der Schweiz und Deutschlands. Da ist zu allererst der Bundesstaat zu nennen. Für Deutsche und für Schweizer ist es selbstverständlich, in einem aus drei autonomen Ebenen – Stadt, Land oder Kanton, und Bund – bestehenden Bundesstaat zu leben.

Zuerst wird sich der Deutsche nach seinem Wohnort als Frankfurter, Hamburger oder Berliner verstehen. Ebenso identifiziert sich auch der Schweizer: er ist Basler, Berner oder Genfer. Etwas verblichen ist in der Schweiz im Laufe der Generationen der Bezug zum ererbten Heimatort. Die Identifikation mit dem Wohnort ist, wie der Schweizer Historiker Adolph Gasser festhält, geprägt durch die den beiden Völkern eigene Gemeindefreiheit. Sowohl das deutsche Grundgesetz als auch die Schweizerische Bundesverfassung garantieren diese. Gemeinden sind nicht Verwaltungen, sondern «allzuständige» Institutionen im eigenen und übertragenen Wirkungskreis. Ihre Zuständigkeiten sind grundsätzlich unbeschränkt.

Als zweiter wichtiger Pfeiler steht in der Schweiz die direkte Demokratie (oft in Gemeindeversammlungen). Manche sagen, sie fehle auf Gemeindeebene in Deutschland. Das hat sich aber in den vergangenen zwanzig bis dreissig Jahren stark geändert. Zunehmend gibt es auch in deutschen Gemeinden Volksabstimmungen über Sachvorlagen. Typisch sind ferner in Deutschland wie in der Schweiz direkte Wahlen der Exekutiven: der Bürgermeister und der Gemeinderäte. Bis zu diesem Punkt ergeben sich also für unser neuvermähltes schweizerisch-deutsches Ehepaar keine besonderen Gefahren, sich über ihre Institutionen nicht zu verstehen.

Sehr viel unterschiedlicher und als eine Quelle von Dissens kann sich aber schon die mittlere Ebene der Bundsländer bzw. Kantone darstellen. Die Zuständigkeit der deutschen Länder besteht in erster Linie in der Kulturhoheit. Mit der Kultur der Länder, einschliesslich ihrer Geschichte, identifizieren sich die Deutschen. Goethe und Schiller gehören im wesentlichen nach Thüringen, die Buddenbrooks von Thomas Mann in die norddeutsche Hanse und ihre Nachfolgeländer, und Friedrich der Grosse nach Berlin-Brandenburg. Kulturhoheit ist zwar auch den schweizerischen Kantonen eigen, aber die Dimension ist doch eher kleiner, was, wie mir scheint, oft etwas übersehen wird. Bildende und darstellende Kunst der deutschen Schweiz gehören nun einmal in den deutschen Kulturkreis, worauf die Schweizer auch stolz sein können oder sollten. Jacob Burckhardt ist zwar ein Basler, aber kulturell ein Deutscher (wenn nicht gar ein Europäer). Die französische und italienische Schweiz lassen sich demgegenüber mehr dem französischen oder italienischen Kulturkreis zuordnen, wenngleich der Genfersee und der Lago Maggiore stets eine grosse Anziehungskraft auch auf deutsche Künstler und Literaten ausübten.

Schwieriger fällt es Deutschen wie Schweizern, die Politik der Länder und Kantone zu verstehen. Die politischen Kompetenzen deutscher Länder und schweizerischer Kantone verhalten sich, grob gesprochen, umgekehrt proportional zu ihrer Grösse. Besonders deutlich kommt dies in ihren Finanzen zum Ausdruck. Die Schweizer Kantone, seien sie auch noch so klein, besitzen Finanzautonomie. Sie sind verantwortlich für ihre Einnahmen, Ausgaben und den Haushaltsausgleich. Zu diesem Zweck können sie Steuern, insbesondere die Einkommensteuer, festsetzen. Die deutschen Länder, seien sie auch noch so gross, besitzen lediglich eine Haushaltsautonomie; sie dürfen ausgeben, was ihnen an zentral beschlossenen Steuern zusteht oder ihnen an Steuerquoten und Finanzausgleich zugeteilt wird. Diese Mittel sind zwar formal nicht zweckgebunden, aber durch eine grosse Zahl von Bundesgesetzen eingeteilt. Eventuelle Haushaltslöcher dürfen die Länder, was nicht unproblematisch ist, durch Kredite stopfen und, was noch bedenklicher ist, sie konnten bis zum Berlin-Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2006 davon ausgehen, notfalls durch die Bund-Länder-Gesamtheit aus ihren Schulden ausgelöst zu werden.

Um diesen Schwachpunkt zu beseitigen, würde ein Schweizer vorschlagen: Erklärt doch die Länder für finanziell selbstverantwortlich. Dann werden sie – wie bei uns die Kantone – aus eigenem Antrieb sorgfältig haushalten. Manche werden zusätzlich Schuldenbremsen einrichten, um ihre Bonität am Kreditmarkt zu dokumentieren. Das bringt ihnen günstigere Kreditzinsen. Durch Selbstverantwortung würde der Föderalismus zu einer sich selbst steuernden Institution.

Die Idee eines Bundesstaates als Gemeinschaft sich selbst steuernder Einheiten ist freilich für viele deutsche Politiker schwer zu erfassen, ja systemwidrig. Aus der Sicht der Bundesregierung erhält der Bundesstaat erst als «unitarischer Bundesstaat» einen Sinn. Er ist ein Instrument im Wahlkalkül der Bundesregierung. Die Kanzlerin versucht, öffentliche Gelder so auf die Länder zu verteilen, dass sie wiedergewählt wird. Föderalismus wird nicht als «Autonomie», sondern als «Governance» verstanden. So lässt sich auch begreifen, dass der Bundesfinanzminister die aktuelle Föderalismusreform II zum Anlass nimmt, die Länderhaushalte verstärkt unter die Kontrolle des Bundes zu bringen. Ob er sich damit durchsetzen wird, werden die laufenden Verhandlungen zwischen Bund und Ländern zeigen.*

In Deutschland wie in der Schweiz werden die wichtigsten politischen Entscheidungen auf Bundesebene getroffen: von der Exekutive, und der Legislative in den beiden Kammern des Parlaments. Beide Staaten haben ein Zweikammersystem. Weil aber in Deutschland die Bundesregierung versucht, viele Gelder von oben nach unten, vom Bund an die Länder, zu verteilen, entsteht Streit, vor allem in der Länderkammer, dem Bundesrat. Hinzu kommt, dass im deutschen Bundesrat fast immer eine andere Couleur in der Mehrheit vorherrscht als im Bundestag und somit Entscheidungen schwierig durchzusetzen sind.

In einem Punkt besteht ein fundamentaler Unterschied zwischen den beiden Staaten: in Referendum und Volksinitiative, also im Recht der Bürgerinnen und Bürger, Parlamentsbeschlüsse an der Urne noch einmal zu überprüfen und über die Urne neue Vorlagen für den politischen Prozess bindend einzubringen. Solche direkten Abstimmungsrechte werden von 75 Prozent der Deutschen befürwortet.** So will es im Prinzip auch das Grundgesetz, wo es im zentralen Art. 20 Abs. 2 heisst: «Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.» Bis heute ist jedoch der Passus «und Abstimmungen» nicht eingelöst worden. Was einst angedacht war, wurde nach 1949 wegen des herannahenden Kalten Krieges verschoben und auch nach dessen Beendigung und der Wiedervereinigung Deutschlands nicht umgesetzt. Verbindlich sind die Volksabstimmungen häufig nicht Die etablierten Politiker und Parteien wollten ihre Macht nicht mit den Bürgern teilen. Ein Dissens besteht also hier weniger zwischen Deutschen und Schweizern als zwischen jenen und den etablierten deutschen Politikern, die immer wieder zu begründen versuchen, warum direkte Demokratie auf Bundesebene in Deutschland nicht funktionieren kann.

Unser neuvermähltes schweizerisch-deutsches Paar wird auf einem Gang durch die Walhalla berühmter Deutscher auch zu Ludwig Erhard, dem Schöpfer des deutschen Wirtschaftswunders, gelangen. Im Jahr 1948, also vor sechzig Jahren, realisierte er die Soziale Marktwirtschaft, ein Konzept, das seinerseits auf Vordenker wie Franz Böhm, Walter Eucken und Alfred Müller-Armack zurückgeht. Idee und politische Realität fallen aber nur zu oft auseinander. Dass Erhard seine Soziale Marktwirtschaft politisch umsetzen konnte, verdankt er günstigen Umständen der ersten Stunde. Wer als einfacher Deutscher 1945 vorankommen wollte, musste in erster Linie arbeiten. Vom Staat, den es damals kaum gab, konnten nur Kriegsversehrte und Flüchtlinge das Nötigste erbetteln. Nicht das Sozialprodukt als Verteilungsmasse war von Bedeutung, sondern wie jeder sich durchschlug. Daraus resultierte dann das Sozialprodukt. Erhard sah nicht den Nachteil, sondern den Vorteil dieser Situation. Seine Überzeugung war: «Je freier die Wirtschaft, umso sozialer ist sie auch.»

Seine einzigartige Entscheidung war es, 1948, einen Tag vor der Einführung der D-Mark, als Direktor der «Verwaltung für Wirtschaft des Vereinigten Wirtschaftsgebietes» Westdeutschlands alle Preisbindungen auf Gütern des täglichen Bedarfs aufzuheben. Damit war die Zeit der Rationierung überwunden, und zwar noch bevor andere Staaten, wie die Siegermacht Grossbritannien, dies schafften.

Das vordemokratische autoritäre alliierte Regime war für den Erfolg der Reformen wohl von entscheidender Bedeutung. Im Oktober/November 1948 wurde ein «Generalstreik» gegen Erhards Wirtschaftsreformen in der britisch-amerikanischen Bizone durch das Machtwort der Alliierten beendet. Erhard brauchte sich nicht um politische Mehrheiten zu kümmern. Das änderte sich mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1949. Nun gab es Parteien und Interessengruppen, etwa für Kohle, Landwirtschaft oder Versorgungsdienstleistungen; es gab Gewerkschaften, Rentner, öffentlich Bedienstete, die die Politik zu ihren Gunsten beeinflussen wollten. Sie alle sollten nach dem Willen Erhards im geplanten «Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen» den Regeln des Wettbewerbs unterworfen werden. Doch hier musste Erhard auf der ganzen Linie nachgeben. Erst im Jahr 1957 gelang es überhaupt, das Gesetz zu verabschieden. Auch konnten nur Kartelle und dergleichen in diesem Gesetz gebannt werden (allerdings wesentlich früher, als dies in der Schweiz gelang). Missbrauchsaufsicht und Fusionskontrolle kamen erst später. Nicht angetastet blieben und erst in den 1990er Jahren dereguliert wurden die wettbewerblichen Ausnahmebereiche von Energie, Verkehr, Transport, Gesundheit, Post und Telekommunikation. Dies waren Erbstücke der korporatistischen nationalsozialistischen Planwirtschaft der 1930er Jahre. Aber nicht nur; sie waren auch Ausdruck des korporatistischen Denkens jener späteren Zeit, und darin waren nicht nur die Deutschen, sondern auch die Schweizer befangen. Die Schweizer können sich nicht auf die Schulter klopfen und sagen: bei uns war alles anders. Denn wir finden da die gleichen wettbewerblichen Ausnahmebereiche in den Versorgungssektoren wie in Deutschland.

Damit hätten ja heute beide Staaten ganz ähnliche Wirtschaftsverfassungen, meinte darauf die Schweizerin. Nein, entgegnete der Partner. Wir haben in Deutschland mächtige Interessengruppen, beispielsweise die Gewerkschaften. Deren Macht gründet auf dem Grundgesetz und auf dem dreistufigen System der Arbeitsgerichte, die die allgemeinen Vorgaben des Grundgesetzes konkretisieren und bisweilen ergänzen. Alle strittigen Fälle von Arbeitsverhältnissen kommen vor diese Gerichte. Nicht alle werden von den Gewerkschaften gewonnen. Aber die, die gewonnen werden, kumulieren sich über die Zeit zu einem undurchdringlichen Dickicht von Arbeitsmarktregulierungen. So wurde die anfänglich paritätische Arbeitsverfassung Schritt für Schritt gewerkschaftlich dominiert. Das Günstigkeitsprinzip wurde eingeführt und ausgedehnt, die nachwirkende Bindung der Arbeitgeber an die Tarifverträge höchstrichterlich verankert, der Kündigungsschutz massiv ausgedehnt, der frühere Eckpfeiler der Friedenspflicht wurde durch die Zulassung von Warnstreiks seiner Funktion enthoben. Über Gesetz wurde schliesslich die gewerkschaftliche Mitbestimmung auf Unternehmensebene durchgesetzt.

Andere Interessengruppen verstehen es, sich bei der Regierung als «nationale Champions» zu qualifizieren, um im Gefolge subventioniert oder sonstwie industriepolitisch begünstigt, im internationalen Wettbewerb mit den Grossen anderer Staaten mitspielen zu dürfen. Beispiele finden sich in Energie, Logistik und Verkehr. Meistens enden solche Versuche in einem Fiasko für Deutschland und den deutschen Steuerzahler.

Es kommt dann zu einer neuen, heute noch weitgehend unbekannten Wirtschaftsordnung. Deutlich wird dies an der Wahrnehmung des Sozialprodukts. Dieses ist nicht mehr, wie einst zu Erhards Zeiten, die Summe individueller Anstrengungen, sondern es ist ein «Kollektivgut», das so zu verteilen ist, dass alle vertretenen Ansprüche befriedigt werden und ein gewisses Minimum an Produktionsanreizen für die industriepolitisch gewollten Branchen und Grossunternehmen der «Wirtschaft» noch erhalten bleibt.

Besonders deutlich kommt dieses «Kollektivgut-Modell» des Sozialprodukts im Teilbereich der Energiewirtschaft zum Ausdruck. Die Subventionierung erneuerbarer Energien kostete die Bundesbürger im Jahr 2006 etwa 3,2 Milliarden Euro, wofür die deutsche Stromwirtschaft EU-Umwelt-Zertifikate einspart, die dann verkauft und in anderen Industrien oder Staaten verbraucht werden. Der Nettoeffekt auf die CO2-Bilanz ist exakt null. Es wird dort verbraucht, was hier eingespart wird. Aber die durch die Einspeisung erzielten Subventionen kommen einer neuen Klasse von Interessengruppen der Umweltindustrie zugute. Schon ganze Windmühlenwahlkreise leben von diesen Subventionen und stellen durch ihre Stimmkraft sicher, dass die Subventionspolitik perpetuiert wird. Subventioniert werden ferner politisch gefügige Klima-Think-Tanks, die die Politik der Regierung «politisch korrekt» unterfüttern und sich so ihre Finanzierung sichern. Es entsteht ein in sich geschlossener «politisch-industrieller Komplex». Die Soziale Marktwirtschaft kann heute, sechzig Jahre nach ihrer Gründung durch Ludwig Erhard, als politisch tot bezeichnet werden.

Gibt es solche Tendenzen auch in der Schweiz? Natürlich, antwortet die Schweizer Partnerin. Auch in der Schweiz finden sich die bekannten korporatistischen Interessengruppen, von der protegierten Landwirtschaft über Gewerbe, Arbeit, Verkehr bis zu öffentlichen Diensten und dem Gesundheitswesen. Nur der Kohlebergbau fehlt. Auch sie sind typische Inlandindustrien, die das Sozialprodukt als Kollektivgut betrachten. Aber es bestehen doch Unterschiede zu Deutschland. Erstens gibt es wegen des Föderalismus in der Schweiz keine bundeseinheitliche Meinung, sondern mindestens 26 kantonale Meinungen. Die Macht ist verteilt. Innovationen können auf kantonaler Ebene ausprobiert und bei Erfolg von den Nachbarn übernommen werden. Zweitens ist die Schweiz in stärkerem Masse als Deutschland vom Export abhängig. Wettbewerbsfeindliche Interessenpolitik schlägt sich unmittelbar in der Wettbewerbsfähigkeit der Schweizer Unternehmen nieder, die sich dann gegen politische Experimente wehren. Drittens sind die sogenannten «Anspruchsrechte» in der Schweiz in geringerem Ausmass formal verankert als in Deutschland. Gewerkschaften haben deutlich weniger zu sagen. Eine SP-Initiative zur unternehmerischen Mitbestimmung wurde 1976 von Volk und Ständen abgelehnt. Von flächendeckender Anwendung von Lohn- und Gehaltstarifen wird abgesehen, wenn eine strikte Einhaltung für das Überleben eines Unternehmens gefährlich wird. Viertens scheitern regulierende oder stark umverteilende Gesetzesvorlagen oft an der Volksabstimmung, so etwa die «Kapitalgewinnsteuer» von 2001, die Initiative «Gesundheit muss bezahlbar bleiben» aus dem Jahr 2003 oder die wöchentliche Höchstarbeitszeit im Jahr 2005. Fünftens wurden einige wettbewerbshemmende Regulierungen, wie beispielsweise das Arbeitsvermittlungsmonopol, in der Schweiz gar nie eingeführt.

Solche Schranken verhindern es bislang, dass in der Schweiz das Sozialprodukt in grösserem Umfang zum «Kollektivgut» wird. Bestrebungen, es politisch zu plündern, können sich bislang nur beschränkt durchsetzen. Manche Debatte, die in Deutschland verbissen geführt wird, läuft in der Schweiz ins Leere. Der Föderalismus wirkt wie ein Wellenbrecher: die Wogen der oft aus Deutschland stammenden Ideologien werden vom föderalen Pluralismus abgebremst, und von den grossen Debatten bleibt am Schluss nur noch ein Schäumchen übrig. So war es auch mit unserem jungen Paar. Stillschweigend kamen sie überein, nicht immer alles gleich grundsätzlich lösen zu wollen, sondern Probleme pragmatisch Schritt für Schritt anzupacken.

* Charles B. Blankart und Erik R. Fasten: «Föderalismusreform auf der Kippe». FAZ vom 29. März 2008.

** In einer von Spiegel Online vom 5. April 2001 angeführten repräsentativen Umfrage sprachen sich 75 Prozent der Bürger für direkte Demokratie auf Bundesebene aus.

 

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