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(2) Leseförderung in der Schweiz

Die Anforderungen an die Lesekompetenz steigen ständig. Während früher nur eine Elite lesen und schreiben konnte, müssen heutzutage immer komplexere Texte von immer mehr Menschen verstanden werden. Gezielte Leseförderung, abgestimmt auf unterschiedliche Voraussetzungen und Möglichkeiten, ist daher nötig.

Das Thema «Lesen» ist präsent – in den Medien, in der Lehrerausbildung, überall wird das vergleichsweise schlechte Abschneiden der Schweizer Jugendlichen im Pisa-Lesetest beklagt, es werden Erklärungen gesucht, und es wird energisch und phantasievoll versucht, Abhilfe zu schaffen – beispielsweise durch Leseförderungsprogramme wie das deutsche Antolin (www.antolin.de). Bisher hat Antolin 13’000 Jugendromane und Sachbücher erfasst und zu jedem Buch 15 Fragen ins Netz gestellt, die nur beantworten kann, wer das Buch genau gelesen und verstanden hat. Für die richtigen Antworten gibt es Punkte, und, in am Projekt beteiligten Schulklassen wird belohnt, wer viele Punkte hat.

Der Wettbewerb um Lesepunkte macht vielen Kindern Spass und soll ihnen helfen, genügend Lese- und Spracherfahrungen zu sammeln, um in der heutigen Welt bestehen zu können. In der deutschen Schweiz ist es das Zentrum «Lesen in Aarau» (mit Andrea Bertschi-Kaufmann), das sich der Leseförderung verschrieben hat und dabei den Motivationen zum Lesen und den Emotionen grosse Aufmerksamkeit schenkt, die dabei entwickelt werden.

Die Anforderungen der Gesellschaft an die Lese- und an die Schreibfähigkeiten der Menschen waren noch nie so hoch. Wer im 19. Jahrhundert mit seinem Namen unterschreiben konnte, galt damals als alphabetisiert. Wer heute nur seinen Namen schreiben kann, hat in keiner Art und Weise teil an den vielfältigen Aspekten der Schriftlichkeit, an der sogenannten literacy der heutigen Informationsgesellschaft. Als das Lesen und Schreiben in der europäischen Gesellschaft eine Rolle zu spielen begann, konnten nur wenige – in Klöstern, an Höfen und in anderen Institutionen jener Zeit – differenzierte, schwierige Texte schreiben; nur die Elite konnte

adäquat lesen. Heute jedoch sollten nach Möglichkeit mindestens 90 Prozent einer Gesellschaft einen Text mittlerer Komplexität verstehen, Zusammenhänge zwischen Textteilen herstellen und diese zum Alltagswissen in Beziehung setzen können (Niveau 3 des Pisa-Tests – das mittlere Niveau). Das ist neu. Das wurde in der Geschichte des Lesens bisher so nicht verlangt, nicht überprüft – und nicht erreicht. Lesen bedeutet heute – auch nach dem Bericht Pisa 2003, 1. Bericht, 3.1. – mehr als früher Sammeln, Verarbeiten, Zusammenfassen und Bewerten von Information; dazu ist zu ergänzen: das «mehr» führt in seiner quantitativen Dominanz zu einer qualitativ neuen Anforderung.

Nicht nur haben sich die Texte vervielfacht und wird ihre Typologie immer vielfältiger; auch der verwendete Wortschatz wird immer grösser und vielgestaltiger, ein grosser Teil des Fachwortschatzes wird Teil des Allgemeinwortschatzes, und die Anforderungen an die Kenntnisse steigen ebenso, wie die Wortschatzkompetenz der einzelnen immer grössere individuelle Wortschätze umfasst. Bei Kindern lässt sich dieser Wortschatz noch am ehesten überblicken, und es lässt sich zeigen, dass er sich in den letzten 100 bis 120 Jahren fast verdoppelt hat.

Wenn es um die Fähigkeiten zur Schriftlichkeit geht, ist es wichtig, das Lesen und Schreiben als Einheit zu sehen. Das gilt nicht nur für das Lesenlernen – das mit der Methode des Lesens durch Schreiben gute Erfolge erzielt –, sondern auch darüber hinaus. Lesen und Schreiben fördern sich gegenseitig in ihrer Entwicklung und ihrem Gebrauch. Lesen und Schreiben sind – historisch gesehen – ausgeprägt elitäre Tätigkeiten, verglichen mit dem alltäglichen Sprechen und Zuhören. So gesehen, tragen wir heute noch immer elitär geprägte Konzepte von Schreiben und Lesen mit uns herum. Diese Konzepte sehen Lesen und Schreiben prototypisch als einsame, konzentrierte, längerdauernde, mit Planung und Korrekturen verbundene und als Arbeit empfundene Tätigkeit. Das «süchtige» eskapistische Lesen, das vor allem Leserinnen zugeschrieben wird, gilt zwar nicht als anstrengend, aber immerhin ebenfalls als einsam und längerdauernd. Das entsprechende Pendant beim Schreiben, die Schreibsucht hingegen – die sich unter anderen den Zeitungsredaktionen in Form von Leserbriefen bemerkbar macht – ist seltener als das süchtige Lesen, wird eher von Männern praktiziert und wird mit Einmischung und (einsamem) Kämpfen assoziiert – nicht selten auf extremem oder verlorenem Posten.

Natürlich können sowohl Lesen als auch Schreiben solch einsame, konzentrierte, eher anstrengende Tätigkeiten sein, sie müssen es aber nicht. Für die breite Verankerung in der Bevölkerung ist es wichtig, auch die alltäglichen Funktionen des Lesens und Schreibens wahrzunehmen und ihren Wert für den privaten und beruflichen Alltag zu erkennen; zu formulieren und damit auch aufzuwerten. Das Zeitungslesen am Küchentisch – eingebettet in bewertende Kommunikation der Küchengemeinschaft – oder das Schreiben von Notizen ist für die Ausbildung eines selbstverständlichen Gebrauchs der Lese- und Schreibfähigkeiten ebenso wichtig wie das Lesen und Schreiben von Büchern, das nicht für alle Mitglieder der Gesellschaft eine Rolle spielt oder spielen kann. Die Selbstverständlichkeit des Gebrauchs ist der Weg zu stärkerer sprachlicher Dekontextualisierung, die schwierigere Texte oft auszeichnet. Dekontextualisierung eines Textes bedeutet, dass er aus der Situation herausgelöst und dadurch in sprachlicher Hinsicht komplexer wird. Es gibt weniger Verweise auf die Situation und mehr Verweise innerhalb des Textes. Dafür werden sprachliche Mittel der Vertextung verwendet, wie Pronomina, textstrukturierende Zeitformen, Verweise über mehrere Sätze hinweg und andere mehr.

Das Leseverständnis in Pisa ist im Kontext der Pisa-Initiative zu sehen, die von der OECD ausging und für die Mitgliedstaaten Indikatoren zur Evaluation der Bildungssysteme erfassen sollte. Pisa ist ein Kooperationsprojekt für die Evaluation von 15jährigen am Ende ihrer obligatorischen Schulzeit. Die Erhebung war in den Zyklen 2000, 2003 und 2006 geplant. 2000 war das Lesen Schwerpunktthema, wurde aber auch 2003 und 2006 evaluiert (vgl. Pisa 2003, 1.Bericht, 1.2.). Es wird als eine gesellschaftsorientierte Kompetenz verstanden: «Lesekompetenz ist die Fähigkeit, geschriebene Texte zu verstehen, zu nutzen und über sie zu reflektieren, um eigene Ziele zu erreichen, das eigene Wissen und Potential weiterzuentwickeln und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.» Nicht berücksichtigt werden allerdings Motivationen und Emotionen im Zusammenhang mit dem Lesen, auch nicht die Möglichkeit, das Gelesene in Gesprächen einzusetzen, noch auch die individuelle Funktionalisierung und damit die Heterogenität der Zugänge zum Lesen und Schreiben.

Mit Bezug auf das Lesen unterscheidet Pisa fünf verschiedene Kompetenzniveaus, die sich in der Schweiz bei Pisa 2003 (2004 und 2005 veröffent­licht) in folgender Verteilung fanden: mindestens auf Niveau 4 («Schwierige Texte meistern und kritisch beurteilen, sprachliche Feinheiten verstehen») befinden sich 30 Prozent der Schweizer Jugendlichen (im OECD Schnitt 28 Prozent). Gut 60 Prozent erreichen das Kompetenzniveau 3 («Einen Text von mittlerer Komplexität verstehen, Zusammenhänge zwischen Textteilen herstellen und diese zum Alltagswissen in Beziehung setzen»); knapp 40 Prozent der 15jährigen in der Schweiz erreichen dieses Niveau also nicht. Der OECD-Mittelwert beträgt 42 Prozent, aber in Finnland, Korea und Kanada sind es nur 21 bis 27 Prozent, die dieses Niveau nicht erreichen. Die Ergebnisse sind damit praktisch gleich wie in Pisa 2000. Die Schweiz befindet sich im breiten Mittelfeld. Das wird angesichts der Bildungsausgaben, die in der Schweiz vergleichsweise sehr hoch sind, als nicht befriedigend empfunden. Die öffentliche Hand zahlt pro Schüler/Studenten mehr als jedes andere OECD-Land; in Prozenten des Bruttoinlandprodukts liegt die Schweiz an fünfter Stelle. Aufwand und Ertrag scheinen auseinanderzuklaffen in einem Land, das traditionsgemäss der Bildung eine grosse Bedeutung zumisst – auch, weil es über keine materiellen Ressourcen verfügt.

In allen Ländern, die sich an Pisa 2003 beteiligten, sind die Mädchen besser im Lesen. Ihre Lese-leistungen sind mit einem grösseren Leseengagement verbunden. In der Schweiz war der Unterschied im Leseengagement zwischen den Geschlechtern besonders gross. Während sich bei Pisa 2003 herausstellt, dass im Hinblick auf den Erwerb von Lesefähigkeiten die Mädchen über günstigere Lernvoraussetzungen verfügen, sind es bei der Mathematik die Buben, die häufiger auf erfolgversprechende Lernmuster zurückgreifen (vgl. Pisa 2003, 2., Kap. 4.8.).

Wie verhält es sich mit der föderalistischen Prägung und Strukturierung der Leseleistung? Die Ergebnisse zeigen, dass die Leistungsunterschiede zwischen den Sprachregionen statistisch signifikant sind. In der Deutschschweiz werden die besseren Leistungen erbracht als in der französischen Schweiz, und beide Landesteile sind besser als die italienische Schweiz. Für die Differenzierung innerhalb der Schweiz sind jedoch die kantonalen Mittelwerte von grösserer Bedeutung als die sprachregionalen.

Das Ergebnis wird im wesentlichen vom Kanton – das heisst vom Schulsystem und der Struktur der Schülerschaft – bestimmt. In den meisten deutschsprachigen Kantonen sind die Effekte des Migrationshintergrunds auf die Lesekompetenz wesentlich grösser als in den französischsprachigen Kantonen und im Tessin, die gleichzeitig die höchsten Anteile an Jugendlichen der ersten Generation bzw. von im Ausland Geborenen zählen. Dennoch sind im Durchschnitt die Leseleistungen in den deutschsprachigen Kantonen wegen der stark ­segregierenden Wirkung ihres dreiteiligen Schulsystems am höchsten. Dies legt nahe – gerade in der deutschen Schweiz –, auch die Differenz zwischen Dialekt und Standardsprache und ihre Bedeutung in die sich anschliessenden Überlegungen miteinzubeziehen.

Zwar ist die Situation von Kindern, die in eine ausgeprägt dialektale Varietät des Deutschen als alltägliche Umgangssprache hineinwachsen, schulisch gesehen nicht genau dieselbe wie diejenige von Kindern, die mit einer standardnahen Umgangssprache aufwachsen. Dennoch ist das Hochdeutsche als gelesene und geschriebene Sprache in der deutschen Schweiz absolut unbestritten – und durch schweizerdeutsche SMS in keiner Art und Weise «gefährdet». Auch sind die deutschschweizerischen Kinder, die mit dem Schweizerdeutschen aufwachsen, in der Schule gegenüber deutschen Kindern nicht benachteiligt. Untersuchungen haben gezeigt, dass sich die Vor- und Nachteile bis zur fünften Primarklasse ausgleichen. Trotzdem wurden als Folge der Pisa-Leseergebnisse Forderungen nach einer umfassenderen Sprachförderung laut. Die Pisa-Steuerungsgruppe des Aktionsplans aus dem Jahre 2003 verlangt unter anderem einen «vermehrten, früheren und anspruchsvolleren Gebrauch der Standardsprache» (EDK 2003, 30). Schon die Ergebnisse der Pisa-Studie des Jahres 2000 führten zu einem erneuten Aufflammen der Diskussionen um die Deutschkenntnisse der Schüler und zu Veränderungen im Lehrplan, beispielsweise im Kanton Zürich. Es ist sicherlich kein Schaden, sondern im Gegenteil sehr begrüssenswert, wenn die standardsprachlichen Kenntnisse aufgenommen werden, die Kindergartenkinder – gesteuert durch die Medien, durch Vorlesen und Nachbarskinder – erwerben und in die Schule mitbringen, aber an den Hochdeutschkenntnissen liegt es nicht, dass die Jugendlichen in der Schweiz im Pisa-Lesetest nicht besonders gut abgeschnitten haben, wobei allerdings eine besondere Sprachsituation entsteht für Kinder, die in ihrer Familie weder Schweizerdeutsch noch Hochdeutsch sprechen. Diese Sprachsituation ist – wie man sich leicht vorstellen kann – zunächst einmal ungünstig; sie lässt sich jedoch überwinden und von einem Nachteil in den Vorteil der Mehrsprachigkeit ummünzen. Sprachförderung für Kinder und Jugendliche mit ungünstigen Lernvoraussetzungen ist deshalb notwendig. Generell nimmt die Segregation der Schülerpopulation nach bildungsrelevanten Merkmalen zu und schränkt das Lernen der Sprache in der natürlichen Umgebung ein.

In anderen Ländern, wie Kanada, hat es sich gezeigt, dass es weniger die sozioökonomischen Faktoren sind, die einen starken Einfluss auf die Leistungen haben, sondern die Frage, ob in der Familie die Testsprache gesprochen wird. Diese Tatsache spricht klar dafür, auch die Migrationsfamilien in Programme zur Sprachförderung aufzunehmen – dabei sind durchaus auch zumutbare finanzielle Eigenleistungen vorzusehen. Die in der Schweiz angelaufene anwendungsorientierte Forschung konzentriert sich zu Recht nicht nur auf die Förderung des Lesens schlechthin, sondern auch auf die Förderung von Migrantenkindern in der Unterrichtssprache und auf gezielte Leseförderung schon im Vorschulalter.

Die Schweiz hat eine lange Tradition des Abwehrens. Das Lesen und Schreiben vor der Schule, Hochdeutsch schon im Kindergarten, ein frühes Schulalter, eine elitär ausgerichtete Förderung sowie die Verteidigung und Stärkung eines demokratischen Bildungssystems stiessen zu ihrer Zeit alle auf Abwehr. Die schlechten Pisa-Resultate haben ein Überdenken traditioneller Positionen möglich gemacht und die anwendungsbezogene Forschung und die Möglichkeiten der Umsetzung gestärkt. Die Bewegung, die dadurch in die Lehrpläne kommt, hat ihre positiven Seiten.

Literatur:

EDK (Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren) (2003): «Aktionsplan ‹Pisa 2000›».

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