(2) Eine Tür mit Schloss
Die Welt muss draussen bleiben. Wer kreativ sein will, muss den Schlüssel umdrehen und sich in die Einsamkeit seiner privaten Räume zurückziehen können. «A Room of One’s Own» – er ist noch immer nicht leicht durchzusetzen. Vor allem für Frauen.
1929 äusserte Virginia Woolf den vielzitierten Satz: «Eine Frau muss Geld und ein eigenes Zimmer haben, um schreiben zu können.» Sie hielt damals in Cambridge einen Vortrag zum Thema «Frauen und Literatur», für sie ein «ungelöstes Problem». Wie gering sie auch immer ihre Schlussfolgerungen aus ihrer Beobachtung eingeschätzt haben mag, sie hatte auf etwas hingewiesen, das nicht nur damals, sondern noch immer von grosser Bedeutung ist.
«A Room of One’s Own» wurde noch im selben Jahr gedruckt. Wie Woolf erwartet hatte, wurde der Essay als «elitär» und «feministisch» kritisiert. «Elitär», weil er sich mit begabten und nicht mit durchschnittlichen Frauen beschäftigte, «feministisch» – und das war abwertend gemeint –, weil er die Schwierigkeiten betonte, denen sich Frauen in beinahe allen kreativen Bereichen ausgesetzt sahen.
Inzwischen sind solche Bewertungen nicht mehr relevant, die Argumente von «A Room of One’s Own» sind jedoch noch immer in jeder Diskussion über weibliche Kreativität und das sie begleitende Bedürfnis nach Privatheit zentral. Finanzielle Unabhängigkeit führt, wie Woolf feststellte, zu einer seelischen Ausgeglichenheit, die für die Kreativität entscheidend sei. «Fünfhundert im Jahr [stehen] für die Macht, sich Gedanken zu machen, … ein Schloss an der Tür [bedeutet], sich eigene Gedanken zu machen…»
Auch wenn sich Woolf in einer vergleichsweise privilegierten Situation befand, so war ihr Vortrag dennoch von echter Empörung durchdrungen. Oxbridge liess damals weibliche Gelehrte zu, schränkte aber die wissenschaftlichen Grade stark ein, die diese einnehmen konnten; Besucherinnen – auch die hohe Reputation einer Woolf änderte daran nichts – durften Kapellen, Gärten und sogar Bibliotheken nur betreten, wenn sie von einem männlichen Mitglied des College begleitet wurden.
«Ausserdem … werden in hundert Jahren Frauen nicht mehr das beschützte Geschlecht sein.» Woolf hatte dies richtig vorausgesehen. Frauen sind im grossen und ganzen sowohl ökonomisch wie auch sozial und künstlerisch den Männern gleichgestellt. Die Bibliothekstüren sind ihnen nicht länger verschlossen, die Hürden sind weggeräumt.
Doch wie in den Märchen, hat auch in der Wirklichkeit jeder erfüllte Wunsch seinen Preis. Unser Schicksal, das sich zum Guten gewendet hat, ist gleichzeitig unser Fluch. Wir Frauen sind nicht länger die gelassenen Beobachterinnen am Rand, sondern wir sind mittendrin in einer zunehmend lauten, chaotischen und hektischen Welt. Wir befinden uns im Zentrum eines immer schneller rasenden Strudels von Eindrücken, der den Rohstoff für unsere Kreativität bereithält. Doch um dies alles als Kunst zu kanalisieren, brauchen wir den Rückzug. Die privaten Räume sind so notwendig wie eh und je – und in mancher Hinsicht auch so schwer zu finden wie eh und je.
Durch das Fenster des Zimmers, in dem ich gerade schreibe, habe ich einen unverstellten Blick auf eine Umgebung, wie sie für moderne Grossstädte typisch ist: die Fassade eines Gebäudes, in dem eine Zeitung hergestellt wird; Studenten, die auf Treppenstufen und Bordkanten faulenzen; Männer, die ihre Hunde spazieren führen; Eltern die ihre Kinderwagen schieben; Fahrradfahrer, die Autos ausweichen. Fast jeder hat sein mobiles Telefon ans Ohr geklemmt, einen Computerbildschirm vor seinen Augen oder irgendwelchen elektrischen Schnickschnack in der Hand: alle Aktivitäten sind begleitet von einer zwanghaften und rastlosen Kommunikation.
Im Verlauf der letzten zwanzig Jahre sind die privaten Zonen mehr und mehr erodiert. Eine Band aus dem Norden Englands hat kürzlich ein Musikvideo ausschliesslich mit Überwachungskameras aufgenommen, wie sie in Bahnhöfen, Einkaufszentren, an Strassenkreuzungen oder in öffentlichen Verkehrsmitteln überall zu unserer «Sicherheit» zu finden sind. Wir werden ständig beobachtet – und wollen ständig beobachtet sein. Leben allein genügt nicht; wir wollen dabei gesehen werden. Für andere unsichtbar und allein im eigenen Zimmer zu sitzen, wie es für einen Schriftsteller oder Künstler immer wieder über lange Zeiträume nötig ist, ist für die Reality-TV-Generation undenkbar geworden. Für sie entwertet Einsamkeit die eigene Existenz.
Die neuen Technologien werden aggressiv als etwas vermarktet, das uns kreativer machen soll. Doch ironischerweise führen sie zum Gegenteil. Denn E-Mail, SMS, Facebook und die Chat-Dienste machen uns 24 Stunden am Tag verfügbar und anfällig für Unterbrechungen und Ablenkungen. Doch wenn Kreativität gefragt ist, können Unmittelbarkeit und Verfügbarkeit kontraproduktiv werden.
Eines der Lieblingsrezepte meiner Mutter war Boston Baked Beans. Dafür mussten die Bohnen einweichen, köcheln und schliesslich kochen – insgesamt acht Stunden lang. Dieses Rezept ist für mich das kulinarische Äquivalent zum Schreiben eines Romans. Man stellt die Ingredienzen zusammen und bereitet sie dann mit Sorgfalt und Aufmerksamkeit zu. Wenn man beginnt, sich zu beeilen, dann setzt man das ganze aufs Spiel. Doch es gibt einen entscheidenden Unterscheid: kochen kann man zusammen, schreiben muss man allein.
Für eine Frau des 21. Jahrhunderts ist es nicht länger nahezu unmöglich, sich einen privaten Raum zu beschaffen. Doch es verlangt weiterhin eine bewusste Entscheidung. Und ab und zu grosse Anstrengungen, sich dann auch wirklich dorthin zurückzuziehen. Unsere Welt fordert lautstark unsere ständige Aufmerksamkeit. Sie streckt via E-Mail und Telefon die Finger nach uns aus, auch in unsere privaten Räume. Doch Romane werden nur selten in Augenblicken geschrieben, Symphonien nicht in den kurzen Pausen zwischen zwei Telefonanrufen komponiert. Grosse kreative Arbeit braucht hohe Konzentration, die Welt um uns herum muss ausgesperrt werden.
Am meisten eingeschränkt werden Frauen wohl weiterhin durch die Ansprüche, die ihre Familien stellen. Wenn die kreativen und familiären Bereiche aufeinanderstossen, haben Männer meist noch immer die besseren Karten. Als John Steinbeck damit beschäftigt war, «Grapes of Wrath» zu schreiben, ärgerte er sich über die Geräusche der Waschmaschine; als Schostakowitsch dabei war, seine siebte Symphonie zu beenden, beklagte er sich über die ständigen Diskussionen, die seine Frau und seine Schwiegermutter über Essensrationen führten. Man fragt sich, was passiert wäre, wenn die beiden sich selbst um Abwasch und Essen hätten kümmern müssen.
«Wir haben … geboren,… erzogen und gewaschen und belehrt», schrieb Woolf. Und wegen der biologischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern hat sich hier nicht viel verändert. Wenn eine Frau ihre eigenen Bedürfnisse vor die ihrer Familie stellt, ist das auch heutzutage meist genauso inakzeptabel wie 1810, als Jane Austen sich gezwungen sah, ihre Manuskripte unter Löschpapier zu verstecken, wenn sie pflichtbewusst ihre Verwandten unterhielt, die zu Besuch kamen.
Heutzutage müssen wir unsere Romane nicht länger unter nichtweiblichen Namen publizieren, wie noch die Brontë-Schwestern, oder uns ein männliches Pseudonym zulegen, wie George Eliot. Doch in unseren Rollen als Ehefrau, Mutter, Tante oder Grossmutter wird weiterhin von uns erwartet, dass wir raten, trösten und helfen. Wodurch uns Zeit für Kreativität verlorengeht. Um solche zu erhalten, müssen wir lernen, dass künstlerische Bedürfnisse von den persönlichen getrennt, dass sie supra- oder extrapersönlich sind. Wir müssen unser Selbst verleugnen, um wirklich kreativ zu sein. Woolf nannte das den androgynen Geisteszustand, von dem sie glaubte, dass ihn nur echte Künstler erreichen. In logischer Schlussfolgerung hiesse das: der Anspruch des Künstlers nach Privatheit ist nicht egoistisch.
Virginia Woolf schrieb in einer kleinen hölzernen Hütte in ihrem Garten in Sussex. Vita Sackville-West zog sich in einen hohen Turm zurück. Katherine Mansfield nahm in einem Pariser Hotel ein anderes Zimmer als ihr Mann, um ungestört schreiben zu können. Keine von ihnen hatte deswegen ein schlechtes Gewissen. Für uns Frauen heutzutage ist in der Enge des urbanen Lebens solch ein physischer Rückzug nicht immer möglich. Ein privater Arbeitsraum ist ein Luxus; eher haben wir eine abgeteilte Ecke, arbeiten wir am Küchentisch. Doch um kreativ zu sein und die bestmöglichen, reichsten und komplexesten Werke zu schaffen, müssen wir uns versenken können, ohne die ständige Furcht, gestört zu werden.
Ein eigenes Zimmer. Es bleibt ein Traum, ein Ziel, eine Notwendigkeit für Kreativität. Wir müssen lernen, uns nicht zu verurteilen, wenn wir der Welt den Rücken zudrehen. Denn nur dann können wir ihr auch etwas geben.