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(2) Deutschland im Wahljahr: Angst vor der Wahrheit?

Steckt Deutschland wirklich in der Krise? Wenn ja, wie müsste Deutschland reagieren? Sind für unbequeme Programme und Reformen überhaupt politische Mehrheiten zu finden? – Fragen und Antworten aus der Feder eines erfahrenen Politikers.

Das Wahlergebnis vom 18. September 2005 und seine Folgen werden uns noch lange begleiten. Es wird vermutlich so sein, dass CDU und CSU, nach erfolgreicher Regierungsbildung mit der SPD, kein ausgeprägtes Interesse mehr daran haben werden, die Frage zu diskutieren, warum die Union zum dritten Mal in Folge bei einer Bundestagswahl signifikant weniger als 40 Prozent der abgegebenen Stimmen erhalten hat. Aber die Befürchtungen im In- und Ausland sind ja nicht länger zu überhören, dass Deutschland nach diesem Wahlergebnis und mit dieser zu erwartenden Regierung den Weg aus der Krise nicht herausfinde. Norbert Blüm meldet sich lautstark und triumphierend aus dem Ruhestand zu Wort und bietet Wetten an auf das nahe Ende des «neoliberalen Irrwegs». Der «Wahlkampf der Ehrlichkeit» sei falsch gewesen, so heisst es, und im Grunde sei die Lage ja gar nicht so dramatisch, Agenda 2010 und ein bisschen mehr werde schon reichen, um die Lage unter Kontrolle zu bekommen.

Die Antwort auf drei Fragen könnte für etwas mehr Klarheit sorgen in diesem Schwebezustand, in dem sich das Land und diejenigen befinden, die es demnächst wohl regieren werden. Erstens: Gibt es wirklich eine Krise? Zweitens: Wenn ja, welches ist – auch im Vergleich zu anderen Ländern – darauf die richtige Reaktion? Und schliesslich drittens: Kann man für unbequeme Antworten, was immer man darunter verstehen mag, bei Wahlen noch eine politische Mehrheit in Deutschland gewinnen?

Versuchen wir in der Reihenfolge der Fragen Antworten zu geben. Die Antwort auf die Frage nach der Krise ist naturgemäss relativ. Der deutschen Bevölkerung geht es immer noch (relativ) gut. Der Wohlstand breiter Bevölkerungsschichten ist beachtlich, die öffentliche Infrastruktur besser als in den meisten Ländern Europas. Der Rechtsstaat funktioniert weitgehend korruptionsfrei, das politische System ist stabil. «Nur» die Arbeitslosigkeit ist halt ein bisschen hoch, aber – so hat Gerhard Schröder im Wahlkampf immer wieder gesagt – seit April steigt die Beschäftigung und die Arbeitslosigkeit sinkt. Also: Weiter so? Wird es langsam besser?

Ein Blick auf die Lage der Staatsfinanzen eröffnet ein anderes Bild. Die Verschuldung des öffentlichen Gesamthaushalts hat ein historisches Höchstmass erreicht. Bund, Länder, Gemeinden und Sozialversicherungen sind mit 1,4 Billionen Euro verschuldet. Statistisch betrachtet, ist dies eine Verschuldung von 17’500 Euro pro Kopf der Bevölkerung. Die inzidente Staatsschuld, also die Summe bereits feststehender, zukünftiger Zahlungsverpflichtungen, die nicht durch Rücklagen gedeckt sind, beträgt noch einmal rund das Dreifache der offen ausgewiesenen Staatsverschuldung. Trotz extrem niedrigen Zinsen ist Besserung nicht in Sicht – im Gegenteil. Die Lücke zwischen laufenden Einnahmen und laufenden Ausgaben des Staates liegt mittlerweile bei mindestens 100 Milliarden Euro pro Jahr, und die Finanzierungslücke wird in fast allen Teilen des öffentlichen Gesamthaushalts grösser. Mit Einsparungen oder gar Steuererhöhungen ist diese Lücke – das zeigen alle Erfahrungen der letzten Jahre – nicht zu schliessen, von einer Schuldentilgung spricht ohnehin niemand mehr.

Geht man den Ursachen dieser Entwicklung der Staatsfinanzen nach, führt der Weg zurück in die siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Im Verlauf der letzten dreissig Jahre gibt es nämlich eine unübersehbare Koinzidenz, einen sich wechselseitig verstärkenden Automatismus im Entwicklungs- und Wirkungszusammenhang zweier Sachverhalte. Beginn und beständige Vergrösserung der strukturellen Arbeitslosigkeit, also der Arbeitslosigkeit, die unabhängig vom Konjunkturverlauf grösser wird, fallen zusammen und stimmen völlig überein mit dem Beginn und der beständigen Ausweitung der Verschuldung des deutschen Staates. Die Verschuldung geht zurück auf den Beginn der Arbeitslosigkeit, sie wächst mit ihr und umgekehrt: mit der Arbeitslosigkeit beginnt und steigt auch die Verschuldung.

Damit wird klar, dass das Verschuldungsproblem in Deutschland – wenn überhaupt – nur lösbar wird, wenn die Beschäftigungskrise Schritt für Schritt überwunden wird. Aber dafür gibt es bei einem jährlichen Verlust von gegenwärtig etwa 400’000 Industriearbeitsplätzen nicht den Ansatz eines Anzeichens. Der von Schröder im Wahlkampf beschworene Beschäftigungsaufbau war rein saisonaler Natur. Im Jahresvergleich sinkt die Beschäftigung nach wie vor von Monat zu Monat. Das aber ist eine wirklich ernsthafte Lage, es ist eine tiefe strukturelle Krise unserer Volkswirtschaft, die das Potential in sich trägt, die gesellschaftliche Ordnung des Landes schon mittelfristig zu destabilisieren.

Damit kommen wir zur zweiten Frage: Wie reagiert ein Land auf eine solche Krise richtig, was ist überhaupt «richtig»? Vor allem die Sozial-politiker verlangen ein Ende des «Sozialabbaus» und der «Umverteilung von unten nach oben». Die letzten Jahre einer Politik des Abbaus von Arbeitnehmerrechten und einer ungebremsten Hinwendung zum Shareholder-Value hätten doch belegt, dass diese Politik nicht erfolgreich sei. Doch zeigt schon der flüchtige Blick auf andere Länder, die wachsende Beschäftigtenzahlen ebenso ausweisen können wie wenigstens annähernd ausgeglichene Haushalte, dass wir in der Leistungskraft unserer Volkswirtschaft im ganzen immer noch viel zu schwach sind. Natürlich ist manches besser geworden. Niemand trägt mehr ernsthaft vor, dass die Arbeitszeit weiter verkürzt werden solle. Aber der Arbeitsmarkt bleibt überreglementiert wie in kaum einem anderen Industrieland der Welt. Überstunden sind trotz hohen Lohnzuschlägen häufig billiger als Neueinstellungen. Die vollständige Liquidation eines Unternehmens in der Krise ist einfacher möglich als die Fortführung eines Teils des Unternehmens mit reduzierter Belegschaft. Und nicht zuletzt: die Eigenkapitalausstattung der Unternehmen in Deutschland, vor allem im gewerblichen Mittelstand, steht in krassem Gegensatz zu dem, was Wettbewerbsfähigkeit, Innovationsfähigkeit, Kapitalmarktfähigkeit und nicht zuletzt Krisenresistenz verlangen. 40’000 Unternehmensinsolvenzen im Jahr sind die Folge und wohl kaum ein Hinweis auf «zu viel Kapitalismus».

Jeder internationale Vergleich, jede Benchmark gemessen an denen, die erfolgreicher sind als wir, zeigt: nur mit einem offenen und flexiblen Arbeitsmarkt, nur mit dezentraler Arbeitsmarktpolitik und mit dezentralen Lohnfindungssystemen, nur mit mehr Wettbewerb und mehr Leistung kommen wir aus der Krise heraus, letztendlich nur mit mehr Freiheit und mehr individueller Verantwortung für jeden einzelnen, für den Unternehmer genauso wie für den angestellten Manager und für jeden einzelnen Arbeitnehmer. Wer zurück will in die Kuschelecke der Bequemlichkeit, des Schutzes vor Wettbewerb und vor offenen Märkten, wer heute noch allen Ernstes glaubt, dass wir im globalen Wettbewerb etwas langsamer gehen lassen dürfen, der macht im besten Fall sich selbst etwas vor, bei einigermassen vorhandenem Verstand versündigt er sich an der Zukunft unserer Kinder. Unsere Kinder werden dann aus eigener Kraft in Deutschland den Wohlstand nicht mehr erarbeiten können, den ihre Eltern einmal hatten.

Und damit sind wir bei der entscheidenden dritten Frage: Kann man dies alles einem politikkritischen Volk in einer Wahl noch vermitteln? Oder sind gerade die Deutschen mittlerweile so ängstlich und so zaudernd, so wenig einsichtsfähig, dass dies alles nicht mehr geht? Hat das deutsche Volk mittlerweile vor der Freiheit und ihren Chancen so viel Angst, dass jede politische Partei gut beraten ist, Wahlkämpfe nur noch nach Gefälligkeiten und Medienperformance des Personals auszurichten?

Nach meiner festen Überzeugung wäre dies die denkbar falscheste Schlussfolgerung aus dem deutschen Wahljahr 2005. Sie käme einer Selbstaufgabe erst des politischen Führungspersonals und dann des Volkes gleich. Mit voranschreitender Überalterung der Bevölkerung werden ehrliche Wahlkämpfe vermutlich nicht leichter. Aber die jüngeren wie die älteren Wählerinnen und Wähler erwarten – und alle Umfragen zeigen dies – mehr Ehrlichkeit, mehr Glaubwürdigkeit, mehr Authentizität der handelnden politischen Akteure. Wir müssen heute viel mehr erklären und über Zusammenhänge informieren. Die Globalisierung ist in ihrer Komplexität und ihren Auswirkungen eben nicht selbsterklärend. Aber wer heute Zusammenhänge erklären und die sich daraus unabweisbar ergebenden Schlussfolgerungen richtig vermitteln kann, der gewinnt Vertrauen und aus Vertrauen Wählerstimmen. Das Ergebnis der Bundestagswahl in seiner Unklarheit und seiner Ambivalenz ist gerade dafür auch ein Beleg!

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