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(2) Als Fachperson sehe ich Schwächen, als Privatperson bin ich gerührt

Der Konsument will umschmeichelt, der Citoyen herausgefordert werden. Und die Filmbranche will international reüssieren. Das Filmfestival Vision du Réel möchte allen etwas bieten. Stichworte für die Zutaten zum Erfolg sind: Rituale, Verführung, Fachkompetenz und croissance zéro.

Herr Perret, Sie sind Direktor des internationalen Filmfestivals Visions du Réel in Nyon. Im Internet stellen Sie es als Aufgabe des Festivals dar, «Freiheit vom Mainstream» zu schaffen. Was haben Sie gegen den Mainstream?

Kultur wird heutzutage meist konsumiert. Die Kulturmanager organisieren sie als erfolgsorientiertes Event. Sie machen alles, um die Aufmerksamkeit zu bündeln. Schaffen Orte, an die jeder kommen soll. Das Problem damit ist, dass etwas angeboten wird, was schon bekannt ist. Mainstream also. Der Konsum bestätigt den Leuten das, was sie schon wissen. Es gibt kaum einen Erfahrungsprozess, keine Entwicklung und selten eine Entdeckung.

 

Ihr Festival bietet stattdessen Unbekanntes, Randständiges?

Kunst darf das Publikum nicht fragen, was es will. Man muss Risiken eingehen. Als Künstler, als Schriftsteller, Sie mit Ihrer Zeitschrift und auch ich als Festivalleiter. Man muss dem Publikum Vorschläge machen. Und auch das Publikum muss etwas wagen. Es muss sich der Gefahr des Unbekannten aussetzen. Es muss bereit sein, Neues zu entdecken. Dafür braucht es den Citoyen, nicht den Konsumenten.

 

Was hat der Citoyen, was der Konsument nicht hat?

Der Citoyen will seine Gefühle bereichern und seine Intelligenz herausfordern. Der Konsument hingegen will umschmeichelt werden. Dann gibt er sein Geld aus und dann kauft er Dinge, die er nicht braucht. Offroaders zum Beispiel. Der Citoyen dagegen nimmt Dinge auf, um sich zu verwurzeln, in seiner Kultur, in seinem Land, in seiner Stadt. Er ist neugierig, er geht Risiken ein. Zwischen dem Citoyen und denjenigen, die sich an ihn wenden, muss es eine Dialektik geben.

 

Und doch organisieren Sie die Visions du Réel als Festival, als ein Event auch für den Konsumenten. Keine Verrat am Citoyen und an Ihren eigenen Ansprüchen?

Ein Festival als Event zu organisieren heisst für uns nicht, den Mainstream zu bedienen. Sondern er heisst für uns, eine Geschichte zu erzählen, eine Dramaturgie aufzubauen, vom ersten bis zum letzten Tag des Festivals und vom ersten bis zum letzten Tag des Jahres. Ein Festival ist wie eine Musikpartitur, es gibt verschiedene Themen, Leitmotive, Rhythmen. Die Filme sind mal kurz, mal lang, die Debatten dauern mal eine halbe, mal drei bis vier Stunden. Wir bieten Experimentalfilme, Filme in klassischer Erzählform, Ich-Filme und Filme, die sich zwischen der Kunst- und der Cinemawelt bewegen. Eine breite Auswahl also. Jean Vilar, der Gründer des Festival d’Avignon, sagte einmal «Nous voulons être élitaire pour tous.» Es ist daher das schönste Kompliment, wenn mir die Leute sagen: «Wir gehen auf das Festival, ohne zu wissen, was wir sehen werden. Aber wir wissen, dass das, was wir dann zu sehen bekommen, uns überzeugt oder zumindest interessiert.»

 

Und wie ist es Ihnen gelungen, diese Leute zu motivieren, sich auf die Visions du Réel einzulassen?

Als Festivaldirektor bin ich nicht der Typ, der gute Dokumentarfilme aussucht und vorführt, mit Einführung und anschliessender Debatte. Nur das machen zu können, das wäre für mich das Schönste. Aber heutzutage funktioniert das allein nicht mehr. Du musst Kulturmanager werden und das Ganze kommunizieren. Wer wir sind, was wir für Ansprüche haben. Da habe ich einiges lernen müssen. Nachdem ich 1995 das Festival übernommen und völlig neu konzipiert hatte, zeigte ich 1997 zur Eröffnung am ersten Abend den Film «Die Salzmänner von Tibet». Ein Film von Ulrike Koch, fast zwei Stunden, lange Einstellungen, wunderbare Landschaften. Da kommt etwa eine Karawane links ins Bild, zieht langsam durch die gesamte Landschaft, bis zum Schluss… sehr schön. Doch ich habe gelernt, dass es ein Fehler war, diesen Film an diesem Abend mit all den offiziellen Gästen zu zeigen. Ein Fehler für den Film und für das Publikum. Ich weiss heute, dass es das nicht gibt: das eine Publikum. Es gibt stattdessen… des publics. Für diese verschiedenen Arten von Publikum müssen wir ein Programm entwickeln.

 

Was heisst «Nie wieder eine Karawane zur Eröffnung!»?

Inzwischen machen wir einiges anders. Wir suchen etwa Filme aus, die wir früher nicht genommen hätten, weil sie uns zu sehr Filme für das grosse Publikum waren. Wir wissen inzwischen, dass diese Filme, auch wenn es Einschränkungen bei der Qualität gibt, eine einnehmende Wirkung haben. Dieses Jahr haben wir einen deutschen Film gezeigt, «El Sistema». Einen Film mit grossem Herz, viel Musik, sehr gut gemeint. Aber der Schnitt, der Rhythmus… das müsste man überarbeiten. Doch dafür war er ein Riesenerfolg. Als Fachperson sehe ich Schwächen, als Privatperson bin ich gerührt. Nicht, dass Sie jetzt denken, das sei ein Kompromiss, wenn wir Filme dieser Art vorführen. Sondern das heisst, das wir inzwischen mit mehr Erfahrung, Sensibilität und Achtung auf das Publikum eingehen.

 

Filme, die auch Sie als Fachperson geniessen können, tauchen dann nach Art eines blinden Passagiers unversehens mitten während des Festivals auf?

Ja, ja, natürlich. Man muss folgendes wissen: zur Dramaturgie gehören Rituale, Empfangsrituale, Eröffnungsrituale, VIP-Empfänge. Wir wollen ja keinen Krieg zwischen uns, den Puristen, und etwa den Behörden, von denen wir abhängig sind. Wir brauchen deren Anerkennung, politisch wie finanziell. Und ich denke, das Kino hat ein so breites Angebot, dass wir all seine Mittel verwenden sollten, um die Leute zu interessieren und zu informieren.

 

Ein wenig erinnert mich das an eine fleischfressende Pflanze, die mit süssem Duft erst die Insekten anlockt und sie dann in ihren Kelch hinabschlittern lässt, ob sie wollen oder nicht. 

Ja und nein. Das ist eine Frage des Verbindens, des Verwebens. Ich beginne mit einem rituellen Abend. Die Öffentlichkeit weiss nach 15 Jahren, wer ich bin und was die Visions du Réel sind. Und nur weil ein Eröffnungsfilm zugänglich ist, glaubt noch niemand, das ganze Festival sei jetzt ein Event mit lauter – in Anführungszeichen – einfach gemachten Filmen. Das ist alles eine Frage des Stils.

 

Dass Sie das Publikum mit Charme um den Finger wickeln können, will ich gerne glauben. Doch gehen Sie nicht umgekehrt auch dem Publikum auf den Leim? Etwa den Behördenvertretern, von denen Sie, wie sie vorhin sagten, politisch wie finanziell abhängig sind? 

Wir haben mit dem Bundesamt für Kultur, Sektion Film, Dreijahresverträge abgeschlossen. Die Bedingungen sind klar, aber nicht einengend. Das Bundesamt will eine gute Zusammenarbeit mit dem Festival erreichen.

 

Erreichen? War das früher nicht so?

Kaum.

 

Sie haben früher die Förderung beantragt und umstandslos bekommen?

Sozusagen.

 

Keine Erfolgskontrolle oder ähnliches?

Nie. Also nicht im Sinne einer wissenschaftlichen Aufarbeitung oder Analyse. Ich habe selbstverständlich einen Jahresrapport geschrieben. Das war’s. Aber nie einen Kommentar darauf erhalten.

 

Und jetzt? Gibt es jetzt einen Kriterienkatalog, um die Qualität Ihres Festivals zu kontrollieren?

Nicht, um uns zu kontrollieren, sondern um besser mit uns zusammenzuarbeiten. Der Bund hat eine Verantwortung, einen Kulturauftrag, den er mit verschiedenen Partnern umsetzt. Er ist abhängig von dem, was wir anbieten, von unserer Fachkenntnis. Andererseits hören wir darauf, was er sagt. Wir sind ein Instrument des service publique.

 

Ist denn der Bund mit seinem service publique nah genug an dem, was die Stimmbürger an Kultur wirklich wollen?

Die Gewählten sind nicht das Sprachrohr des Volkes. Die Regierungen sind verantwortlich dafür, ihre Intelligenz einzubringen, neue Ideen zu entwickeln und neue Projekte umzusetzen. Sie müssen die Zukunft träumen und organisieren. Sie haben Mittel, die das Volk nicht hat. Es ist ja nicht Aufgabe des Volkes, grosse Projekte wie Kulturfestivals zu entwerfen oder zu fördern.

 

Warum denn nicht? Ist Kultur nicht auch und vor allem Sache der Kultur? Und Sache des Volkes? Besteht nicht die Gefahr, dass träge wird, wer sich auf die finanzielle Unterstützung des Staates verlässt? Wie hoch ist eigentlich der Prozentsatz an öffentlichen Geldern an Ihrem Budget?

45 Prozent. Aber all das ist viel weniger komfortabel, als Sie das jetzt darstellen. Wir müssen unsere Versprechungen einhalten, wir müssen unseren eigenen Ansprüchen gerecht werden und die Erwartungen erfüllen. Wenn wir sagen, dass wir das wichtigste Festival für den Dokumentarfilm in Europa sein wollen, dann brauchen wir dafür Mittel. 10 Prozent unseres Budgets stammt aus den Einnahmen, also den Eintrittsbillets und dem Katalogverkauf. 45 Prozent von Privaten, von unseren Sponsoren La Poste und neu La Mobilière. Und die restlichen stammen von der öffentlichen Hand, dem Bund, dem Kanton und der Stadt. Der Bereich des Kinos ist ohne staatliche Unterstützung nicht möglich.

 

Warum nicht?

Audiovisuelle Produktionen sind teuer. Der Privatmarkt allein würde diese Summen nicht aufbringen können. Sicher gibt es auch in China oder in den arabischen und südamerikanischen Ländern, also dort, wo es keine staatliche Filmförderung gibt, ein sehr kreatives Filmschaffen. Die unabhängigen Filmemacher machen dort alles mit ihrem Blut und fast ohne Geld. Doch das ist eine Verausgabung von einzelnen, das hält keiner lange durch, das führt zu keiner Kontinuität, keiner Tradition.

 

In der Schweiz haben wir diese Tradition?

Ja, auf sehr hohem Niveau und mit grosser internationaler Ausstrahlung. Wir erreichen durch das Filmfestival eine Vernetzung und eine Kommunikation, die die Kreativität der Branche weltweit fördern. Und die auch dazu geführt haben, dass es überdurchschnittlich viele gute Dokumentarfilme in der Schweiz gibt. Die Visions du Réel haben die Köpfe der Bevölkerung für den Dokumentarfilm weiter geöffnet. «La Fortresse» etwa, ein Film aus der Suisse romande, der seit diesem Frühjahr in den Schweizer Kinos ist, hat bisher schon 50’000 Zuschauer gehabt. Ohne die Förderung der öffentlichen Hand wäre dies alles nicht möglich gewesen.

 

Welche Visionen verbinden Sie mit dem film du réel?

Meine Vision ist es, den film du réel für ein grösseres Publikum zugänglich zu machen. Im ersten Jahr hatten wir 4’000 Zuschauer, inzwischen, 15 Jahre später, sind es 32’000. Zusammen mit Gabriela Bussmann, der stellvertretenden Direktorin von Visions du Réel und Leiterin des professionellen Teils, Doc Outlook International Market, möchten wir mit Publikum und Fachleuten einen place d’excellence teilen. Also einen Platz, wo wir gute Zeit verlieren. Perdre du temps, sagen wir immer. Man trifft sich hier, um zu entdecken, dass man die Welt vielfältig und anders erzählen kann, anders als es die Massenmedien tun. Diese Erfahrung ist wichtig. An die Rede vom global village glaube ich nicht. Daran, dass durch die Globalisierung die Unterschiede schwinden. Das ist doch Unsinn. Die Differenzen bleiben. Und das Interessante ist diese Distanz zwischen mir und dem anderen, dieses Spannungsfeld. Ein Filmemacher der Visions du Réel erfindet die Differenz.

 

Erfindet? 

Natürlich.

 

Nicht entdeckt? 

Nein.

 

Verliert ein Dokumentarfilmer, der erfindet, nicht den Boden unter den Füssen?

Was er erzählen will, muss durch eine Vision aufgearbeitet werden. Es gibt auf Französisch einen Unterschied zwischen réel und réalité. Réel ist das Unartikulierte, das, was noch keinen Sinn macht, das, was erst durch den Blick des Filmemachers in die réalité herein aufgearbeitet wird. Dafür braucht es eine Vision, eine Distanz und eine construction dramatique. Der réel leistet Widerstand, es ist nicht einfach, ihn zu filmen. Wie nennt man den Unterschied auf Deutsch?

 

Die Alltagssprache bietet da keine scharfe Unterscheidung. Wirklichkeit und Realität würde ich sagen, oder auch Wirklichkeit und Zugrundeliegendes. Visions du Réel müsste dann wohl mit Visionen der Wirklichkeit übersetzt werden. Sagen Sie mir noch, wie Sie die Visions du Réel in der Zukunft sehen?

Croissance zéro. Nullwachstum. Wir müssen den Partnern des Festivals auch nein sagen können. Die wünschen sich, das ist normal, immer mehr. Grösser, lauter, bunter, schneller. Auch die Presse fragt mich jedes Jahr: was gibt es Neues? Wo sind die Superlative? Dabei ist es doch schon sehr schwierig, das zu halten, was man erreicht hat. Nullwachstum heisst, dass wir nicht immer noch grösser werden wollen und doch an Verbesserungen arbeiten: mehr Plätze etwa für das Publikum, da oft Leute bei den Vorstellungen draussen bleiben mussten, weil sie ausverkauft und alles belegt war. Wir wollen die Vielfalt des cinema du réel darstellen. Aber wir werden trotzdem weniger Filme zeigen. Croissance zéro heisst für uns croissance maîtrisée, gemeistertes Wachstum.

 

Und Ihre Geldgeber beschweren sich nicht?

Madame, ich bin Franzose! Ich bin ein Sohn der Republik der Aufklärung! Es geht um unseren Geist. Um die Förderung unseres Geistes. Das ist für mich service publique. In Zusammenarbeit mit unseren Partnern. Da gibt es keine Beschwerden.

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