(2/2) Tanz der Kontrolleure
Zerfall von Moral und Anstand? Ach was. Mehr Moral bedeutet bloss mehr Staat.
Gut möglich, dass Unternehmen gestärkt aus der Krise hervorgehen. Gewachsene Strukturen kommen durch die Fehlentwicklungen im Finanzmarktkapitalismus auf den Prüfstand, Produktionsprozesse und Produkte geraten unter Innovationsdruck. Die vorhandenen Kräfte werden notgedrungen intelligenter und effizienter eingesetzt.
Das bedeutet jedoch nicht, dass ökonomischer Strukturwandel allein jene intellektuellen und kulturellen Ressourcen in der Gesamtgesellschaft zu mobilisieren vermag, die für die Herausforderungen der Zukunft benötigt werden. Die Krise, in struktureller Hinsicht vielleicht ein Segen, könnte sich als kulturelle Zeitbombe erweisen. Grund dafür ist die anhaltende Erosion von Vertrauen und Legitimation. Das «Edelman Trust Barometer 2010» konstatiert ein Vertrauensvakuum, das die Märkte «regelrecht» bedrohe. Den Wunsch nach stärkerer Kontrolle durch Staat und stakeholders interpretieren die Verfasser der Studie als Hilferuf der Gesellschaft nach mehr Vertrauen. In Umfragen zur Glaubwürdigkeit verschiedener Berufsgruppen landen die Feuerwehrleute regelmässig auf Platz eins, Unternehmensführer dagegen auf dem zweitletzten Platz – vor den Politikern.
Das Vertrauensproblem hat nach den Skandalen um Enron, Worldcom & Co., nach der Finanzkrise und der «Abzocker»-Debatte auch in der Schweiz neue Brisanz erlangt. Massenkonvertierungen von Managern zu Gutmenschen, die neuerdings Eide darauf schwören, ihre Arbeit in «ethischer Weise» verrichten und dem «allgemeinen Guten» dienen zu wollen, sind ebenso ein Zeichen des stattfindenden Kulturwandels wie die wachsende Flut von Beratungs-angeboten und Bekenntnissen zu corporate social responsibility und «Nachhaltigkeit». Zugespitzt gefragt: Treiben wir in eine neue Spielart der Erziehungsgesellschaft hinein? Droht uns im Zuge der Bewältigung der Kapitalismuskrise eine neue Form der «Tyrannei der Tugend», wie Calvin sie zu Beginn des kapitalistischen Denkens etablierte?
Klar ist: der Graben zwischen Moralansprüchen auf der einen, ökonomisch sinnvoll erscheinendem Handeln auf der anderen Seite ist grösser geworden. Die unterschiedlichen Sinnsphären und Codes der sich gegenübertretenden Akteure lassen sich immer weniger vermitteln. Jeder trifft andere Unterscheidungen, jeder gelangt zu anderen Schlussfolgerungen. Die akteurspezifischen Perspektiven, etwa bei Auseinandersetzungen über Risiken und Gefahren, driften auseinander. Was für die Betroffenen dringende Gefahrenabwehr, ist für die Entscheider Ausdruck einer kreativitätsfeindlichen Risikoaversion.
Wir treiben auf neuartige Konfliktlagen zu. Dies lässt sich daran ablesen, dass die Grenze zwischen Moral und Recht immer mehr verwischt wird. Die Gesellschaft tut sich immer schwerer damit, rechtlich zu tolerieren, was moralisch zu verurteilen ist. Gemäss dem Mainzer Staatsrechtsprofessor Uwe Volkmann verkommt das Recht immer mehr zum Vehikel der jeweiligen, schnell wechselnden Mehrheitsmoral, die sich dem Staat in Spiralen medialer Aufgeregtheit und Skandalisierung unwiderstehlich aufzwingt.* Der Hang zur Vereinfachung von Sachverhalten und zur Erregung von Aufmerksamkeit begünstigt die kollektive Konstruktion empörungsträchtiger Bilder, die eine eigendynamische «Realität der Massenmedien» transportieren, die ihrerseits wiederum das gesellschaftliche und politische Handeln bestimmt. Die Wahrheit erzeugt bei komplexen Themen weder Auflage- oder Einschaltzahlen noch Fördermittel noch Zustimmungspotential. Und wodurch könnten Wissenslücken und Deutungsspielräume besser gefüllt werden als durch eine diffuse Moral?
Die Profiteure moralischer Sturmfluten sind Klimaforscher, Gesundheitsexperten, Pharmakonzerne und, allen voran, Politiker. Die Moralindustrie läuft auf Hochtouren. Sogar Staatsanwaltschaften sind angesichts der moralischen Aufladung des Rechtsempfindens mittlerweile darauf aus, den publizistischen Mehrwert ihrer Aktionen abzuschöpfen. Die Unverhältnismässigkeit des Vorgehens der Staatsgewalt im Falle des Steuersünders Klaus Zumwinkel oder des Fernsehmoderators Jörg Kachelmann ist in lebhafter Erinnerung.
Wie das Recht zunehmend moralisch aufgeladen wird, lässt sich an weiteren Beispielen beobachten. Schlagworte wie «null Toleranz» signalisieren, wie im Recht der Gefahrenabwehr eine Art des Begriffes öffentlicher Ordnung eine Renaissance erlebt, die auf die Verletzung ungeschriebener, also moralischer Normen bezogen ist. Bestimmte Formen der Bettelei oder auch des Alkoholkonsums, die man früher als bloss ungehörig angesehen hätte, werden in der Öffentlichkeit verstärkt polizeilich unterbunden. Und im Handels- und Gesellschaftsrecht sind Regelwerke für «compliance» oder «corporate governance» (z.B. der Sarbanes-Oxley Act in den USA) formuliert worden, die die Unternehmen verpflichten, rechtliche und ethische Standards einzuhalten. All diese Regelwerke sind in einem unklaren Zwischenbereich zwischen Recht und Moral angesiedelt.
In diesem Zwischenbereich bewegt sich auch die bereits erwähnte «Abzocker-Initiative» in der Schweiz. Sie bekämpft die «Boni-Exzesse», will mithin verhindern, was gemäss den herrschenden Vorstellungen von allgemeinem Anstand als moralisch unzulässig gilt, und leitet daraus die Notwendigkeit rechtlicher Massnahmen ab. Momentanes moralisches Empfinden wird in die Forderung nach rechtlicher Sanktion gegossen. Was der Mehrheitsmoral fragwürdig erscheint, muss qua Gesetzgebung in die Schranken gewiesen werden. Diesem Ansturm gegenüber operiert die Wirtschaft – im Kampf gegen eine Mehrheit, die wirksame Regulierungen gegen «zu hohe» Managerlöhne fordert – vermutlich bereits auf verlorenem Posten.
Oder nehmen wir die Debatte um den Ankauf geklauter Bankdaten deutscher Steuerhinterzieher. Kaum jemand dürfte bestreiten, dass sich dieser Kauf, bei unsicherer Rechtslage, zu grossen Teilen im demoskopisch abgesteckten Schattenreich moralisch aufgeladener Empörungsbereitschaft abgespielt hat. Meines Wissens hat in Deutschland niemand gegen die Aussage des SPD-Haushaltsexperten Carsten Schneider protestiert, dass die Schweiz «das moralische Recht verwirkt» habe, sich über den Ankauf gestohlener Daten aufzuregen, weil sie jahrzehntelang davon gelebt habe, die grossen Nachbarländer «auszusaugen».
Es ist müssig darauf hinzuweisen, dass es hier nicht um eine Rechtfertigung fragwürdigen Treibens von Schweizer Bankern geht, sondern um den Trend zur Remoralisierung der Gesellschaft, der den überwundengeglaubten Tugend- und Erziehungsstaat in neuer Form am Horizont erscheinen lässt. Ob sich dieser Trend mittelfristig wieder abschwächen wird, lässt sich kaum sagen. Momentan sieht es jedenfalls so aus, als befänden wir uns in der Aufwärtsphase dieser Entwicklung. Also noch mehr staatliche Eingriffe, noch mehr Bevormundung, noch mehr «Mut zur Erziehung», noch mehr politische und mediale Aufregung, noch mehr Beschädigungen dessen, was man eigentlich stärken will, nämlich den common sense, den gesunden Menschenverstand.
Je mehr interveniert wird, desto mehr muss kontrolliert und «nachgesteuert» werden. Jeden kann es treffen: Raucher, Trinker, Manager, Dicke, Dünne, Arbeitslose, (Risiko-) Sportler und couch potatoes. Wir werden pausenlos gewarnt, aufgeklärt und «informiert», zum Beispiel über «gute» und «böse» Lebensmittel. Alle müssen ohne Unterlass an sich arbeiten, um bessere Menschen zu werden. Unser Verhalten soll einem moralisch definierten Mehrheitsmass zustreben, dem zu entsprechen als notwendige Voraussetzung gesellschaftlicher Integration hingestellt wird.
Die Frage ist nicht leicht zu beantworten, welche gesellschaftlichen Akteure für die Entstehung von Hauptströmungen öffentlicher Erregung verantwortlich sind. Man könnte vermuten, dass sich diejenigen Vorstellungen durchsetzen, von denen machtbesitzende Akteure am meisten profitieren; dass die Mächtigen die Diskurse und Diskussionen über die von ihnen beherrschten Medien und Parteien in die gewünschte Richtung steuern. So einfach liegen die Dinge jedoch nicht.
Kulturelle Prozesse, wie der Wandel von Institutionen, Einstellungen und Werten, entwickeln sich nämlich genau so eigendynamisch wie die Prozesse der Erhaltung und Verfestigung struktureller Macht. Akteure ohne gesellschaftliche Macht können denen, von denen sie manipuliert zu werden drohen, die Legitimation verweigern, indem sie kulturelle Innovationen und neue Werte in grösseren Gruppen verbreiten und politische Bewegungen bilden. Unter gewissen historischen Bedingungen können daraus Legitimationskrisen und letztlich sogar Revolutionen entstehen.
Zwischen (Macht-)Struktur und Kultur herrschen jedenfalls stetig Spannungen. Macht muss sich stets aufs neue legitimieren. Deshalb bleibt machtausübenden Akteuren zur Verminderung ihres Legitimationsdefizits häufig nichts anderes übrig, als die neuen Inhalte des öffentlichen Wertediskurses für sich zu vereinnahmen und damit den «anschwellenden Bocksgesang» zu verstärken. Es entstehen gesellschaftliche Mythen, die in Spiralbewegungen aufsteigen und wieder vergehen. Lösen sich diese Mythenspiralen in immer rascherer Folge ab, spricht man in der Soziologie von «Kulturanomie», das heisst, es erodieren die für gesellschaftliche Integration notwendigen geistigen Grundlagen.
Ist die Sehnsucht nach Bekräftigung der moralischen Grundlagen wirtschaftlichen Handelns also deshalb so gross, weil wir ahnen, wie wenig davon übriggeblieben ist? Im Gegensatz zu den Wirtschaftsethikern halte ich es für müssig zu fragen, wie die «Tugenden des ehrbaren Kaufmanns» wiederherzustellen und neue Werteverbindlichkeiten im Rahmen einer «kulturübergreifenden, universalen moral community» (Peter Ulrich) aufzurichten seien. Es gibt kein Zurück zum Wertekanon der frühen Kapitalisten, die von den heute vorherrschenden varieties of capitalism noch keine Vorstellung hatten, schon gar nicht von der Variante des modernen Finanzmarktkapitalismus. Auch die Klage über die «Krise der Werte» führt nicht weiter, wie sie seit Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise regelmässig erhoben wird. Einer solchen Krise kann man auch nicht durch Aufrichtung eines Tugendstaates begegnen, sondern nur durch produktive Formen eines aufgeklärten unternehmerischen Experimentalismus – also letztlich durch mehr Markt und nicht durch mehr Moral und Kontrolle.
Nicht die Suche nach einer einheitsstiftenden Wertedimension, nicht Moral ermöglicht einen sinnvollen Umgang mit drängenden gesellschaftlichen Problemen, sondern Moralabstinenz. Wir müssen uns um Distanz zu jenem «Imaginären» (Cornelius Castoriadis) bemühen, das die kritischen Fragen, die kreative Suche nach Alternativen und die Entfaltung neuer Ideen unterbinden möchte. Die entscheidende Frage ist, wie eine kritische Grundhaltung zum «Zeitgeist» und zu jenen herrschenden mentalen Modellen und normativ geforderten Orientierungen durchzuhalten sei, die hinter dem Rücken der Akteure dafür sorgen, dass Kommunikation funktioniert – um den Preis der Fortschreibung des Unsinns.
So schwierig es sein mag, aus dem jeweils verbindlichen kulturellen Bezugsrahmen auszubrechen, um Fehlentwicklungen in der Gesellschaft zu erkennen und zu benennen, so notwendig ist es, in die Suche nach Alternativen zum jeweils dominanten Spiel sowie in die Ausbildung der geeigneten Erkenntnisinstrumente zu investieren. Nur so lässt sich jene kreative Rationalität, jene Fähigkeit zur Erfindung und Entdeckung von Alternativen verwirklichen, die wir an Unternehmern immer so bewundert haben. Sie wissen, wie man in die Welt, wie sie ist, Freiheiten hineinkonstruiert, die man nicht aus ihr herauslesen kann – angetrieben von der Hoffnung, dass die glatten Ränder der Welt plötzlich Risse zeigen, dass Lücken im «stahlharten Gehäuse der Hörigkeit» (Max Weber) sichtbar werden, die Gelegenheiten zum Eindringen und zur Entdeckung neuer Modelle und Märkte bieten. Das geht natürlich nur, wenn man Reibung nicht scheut, dem Konflikt nicht aus dem Wege geht und jede Spannung als Heuristik begrüsst.
Es geschieht jedoch das genaue Gegenteil. Der Tanz der Kontrolleure hat zum Ziel, die Bürger vor den Anforderungen der experimentellen Gesellschaft zu schützen. Die Kontrolleure appellieren an den Wohlfahrts- und Gerechtigkeitsstaat und erwarten von ihm die institutionalisierte Sorge um die Entwicklung unseres Selbst sowie die Befähigung zur Wahrnehmung der uns zustehenden Rechte und die Steigerung unserer Ansprüche.
Es ist naiv zu glauben, dieser Appell an den Staat würde zu moralischeren Menschen oder wenigstens zu moralischerem Verhalten führen. Was es braucht, ist vielmehr Renitenz. Wir müssen uns von jenen moralischen Kriterien verabschieden, nach denen wir die Gesellschaft in die Pflicht für das eigene Wohlergehen nehmen; verabschieden von der Frage, ob die Gesellschaft den Wünschen und «Bedürfnissen» der Individuen gerecht werden kann. Nur so können wir der Vereinnahmung durch immer neue Kontrollillusionen seitens von Politik und Gesellschaft begegnen. Und nur so können wir uns das liberale Naturell des «schöpferischen Zerstörers» zu eigen machen, der die Fähigkeit und Bereitschaft aufweist, überraschende Wendungen, Versagungen, Ungewissheiten und Enttäuschungen zu ertragen und neue Optionen auszudenken.
Die moderne Gesellschaft kennt keine allgemeingültigen normativen und kognitiven Orientierungen mehr, auf die sich die individuelle Lebenspraxis verlässlich gründen liesse. Daher sollte der Umgang mit Desorientierung und Stabilitätsverlust eingeübt werden – anstatt verzweifelt nach «Visionen einer stabilen Zukunft», «tragfähigen Menschenbildern», «gemeinsamen Sinnfundamenten» und Wegen zur ethisch-moralischen Zähmung der offenbar wildgewordenen Moderne zu suchen.
Entsprechend macht die modische Rede von «empowerment» nur Sinn, wenn damit gemeint ist, eine Intelligenzform zu etablieren, die mit sich und der Welt experimentiert und die weiss, dass Experimente, im Wortsinne, nicht nur in die Gefahr hinein, sondern auch aus ihr herausführen. Eine solche Intelligenz lässt uns die allgegenwärtigen «Sinnzusammenbrüche» immer wieder überstehen und ermutigt uns, nicht nur weiterzumachen, sondern anders weiterzumachen.
Moralgesteuerte Kontrollprojekte dagegen sind unverantwortlich. Sie blockieren jene kognitive Mobilisierung, die für die Ausbildung einer experimentellen Intelligenz unerlässlich ist.
* Uwe Volkmann, «Gute policey oder das Recht als Vehikel der Mehrheitsmoral», Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29.04.2008, S. 9