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2/2 Der Pionier

Eine Replik auf Ulrich Bröckling – und eine Verteidigung des Unternehmertums

Ulrich Bröckling hat eine kreative und damit sehr unternehmerische Interpretation der Schattenseiten der Unternehmergesellschaft geliefert. Mit dem «Flaschensammler» als Illustration von Israel Kirzners Theorie des findigen Unternehmers hat er eine gewinnversprechende rhetorische Innovation auf den florierenden Wachstumsmarkt der Kapitalismuskritik gebracht. Das hätte der Wiener «Flaneur» Joseph Schumpeter kaum besser schreiben können. Für die Figur des Kirzner-Bröcklingschen «Flaschensammlers» würde Schumpeter freilich allenfalls mitleidigen Respekt übrig haben; denn als typischer Repräsentant einer spezifisch kapitalistischen «Unternehmergesellschaft» taugt der Flaschensammler nicht. Bei aller unkonventionellen Art denkt Bröckling den Unternehmer allzusehr entlang den Linien des ökonomischen Mainstream und geht damit einer allzukonventionellen Sicht des Kapitalismus auf den Leim.

Die ökonomische Zeitströmung tut sich nach wie vor schwer mit dem Unternehmertum, weil sie einem deterministischen Weltbild aufsitzt. Auf den kapitalistischen Märkten herrscht keine reine Harmonie, kein Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage. Es ist gerade nicht so, dass Produkte, Präferenzen und Produktionsmöglichkeiten einfach «gegeben» sind – gleichsam unverändert und bekannt; und es ist auch nicht so, dass Wirtschaftsrecht, Werthaltungen und Wirtschaftssysteme unveränderlich sind – «wertneutral» und von aussen «vorgegeben». Schön wär’s, es wäre so einfach! Dann brauchte man bloss der mathematischen Logik zu vertrauen, die den perfekten Gleichgewichtspreis im vollkommenen Wettbewerb berechnete.

Es ist nicht so, aber wie ist es dann? Kirzners Frage geht tiefer: wie kommt es zu einem Marktpreis, zu einem Gleichgewicht, bei dem all die Möglichkeiten gegenseitig vorteilhaften Tausches tatsächlich ausgeschöpft werden? Noch dazu, wenn man weiss, dass nicht jeder alles vorab wissen kann? Das Gleichgewicht aus eindeutig «gegebenen» Zustands-Annahmen schlichtweg herzuleiten, ist ihm zu billig. Sein Anliegen besteht darin, zumindest eine «Tendenz zum Gleichgewicht» aus realistischen Annahmen über menschliches, nicht vorhersehbares und daher notwendig spekulatives Handeln zu erklären.

Bröckling hat schon recht: ein solches Arbitrage-Unternehmertum («Arbitrage» bezeichnet die Nutzung von Preisunterschieden für gleiche Waren) illustriert der Flaschensammler ebenso wie etwa der Finanzmakler oder der Auktionator, der sich darauf spezialisiert hat, bisher nicht genutzte Preisdifferenzen zwischen Angebot und Nachfrage zu entdecken. Die von anderen entweder wegen geringeren Wissens oder höherer Opportunitätskosten ungenutzten Tauschvorteile können von jedermann genutzt werden – zum eigenen Vorteil, und vor allem: zu niemandes Nachteil. Dadurch, dass Kirzners Flaschensammler-Unternehmer bisher unerkannte oder ungenutzte Tauschmöglichkeiten entdeckt, erklärt und befördert er zumindest ein wenig die theoretisch rein unterstellte Tendenz zu einem Koordinationsgleichgewicht der Märkte.

Dies mag bereits mehr Licht auf die Schattenseiten städtischen Unternehmertums werfen. Der Flaschensammler ist schattenwirtschaftsanalog zum gewinnsteuerpflichtigen Arbitrage-Unternehmer: er verdient sich etwas zusätzlich, indem er von der gewollten oder ungewollten Nachlässigkeit und Wegwerfhaltung anderer «profitiert», die auf ihre subjektive Ertrags- (nicht: Gewinn-)Maximierung (oder Kostenminimierung) freiwillig verzichten. Ein Regime erzwungener Pfandertragseinlösung durch die Käufer oder verbotener Pfandeinlösung durch unternehmerische Dritte würde dem städtischen Unternehmer seine Geschäftsgrundlage nehmen, und dies notabene, ohne jemand anderem zu nützen.

Kommen wir nun zum entscheidenden Punkt. Der Flaschensammler ist eigentlich gar kein Unternehmer im freien Wettbewerb, sondern schlicht «Preisnehmer» und «Mengenanpasser»: der Preis ist staatlich festgesetzt (etwa auf 25 Cent je Pfandflasche). Hierin liegt wenig eigentümlich «Kapitalistisches»; es geht schlicht um die Nutzung greifbarer, «gegebener» Ertragsmöglichkeiten, die im Prinzip in jedem anderen Wirtschaftssystem ebenso anfallen. Ich weiss nicht, wieviele Flaschensammler in Nordkorea ungestört unterwegs sind. Es könnten aber weniger sein, solange Nordkoreaner einer planwirtschaftlichen Arbeitspflicht unterliegen, die keine «unternehmerischen» Zusatzeinkommen duldet – einmal angenommen, die nordkoreanische Umweltpolitik hätte ein vergleichbar ökologisch motiviertes Pfandflaschensystem eingeführt. Ganz abgesehen davon, dürfte abseits der reichen, also kapitalistischen Länder recht wenig Geld «auf der Strasse» zu entdecken und einzulösen sein.

Nur, wo kommt das Geld her, das auf diesen Strassen liegt? Der «Parasit» an den «Exkrementen» des Kapitalismus braucht auch einen «Wirt». Einer muss auch etwas schaffen, damit ein anderer etwas liegenlassen kann. Den eigentlichen Wert des Unternehmers und den schlagenden Witz des Kapitalismus hat ausgerechnet der in Phasen neo-marxistische Österreicher Joseph Schumpeter erkannt. Schumpeters Unternehmer ist in fast allen Aspekten das genaue Gegenteil zu Kirzner-Bröcklings Flaschensammler. Er ist nicht «Arbitrageur», sondern «Créateur». Er ist nicht Entdecker und damit Reduzierer gegebener Gewinnchancen, sondern Durchsetzer neuer Güter, Dienstleistungen, Organisationsformen und vieles anderen mehr, und damit Produzent neuer Gewinnchancen. Als erfolgreicher Pionier bringt er «schöpferische Zerstörung» über hergebrachte Routinen und wird dafür mit angreifbaren Monopolgewinnen belohnt. Er zerstört damit auch immer wieder die Tendenz hin zu gleichgewichtigen Ruhelagen, auf die der Arbitrage-Unternehmer hinwirkt.

Gerade für die «so allgemein bekannten Gestalten der Männer, die Wirtschaftsgeschichte gemacht haben, oder auch nur den ersten besten Mann, der ganz in seinen Geschäften aufgeht», gilt – so Schumpeter in «Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung» –, dass sie nicht dem Bild des penibel materiellen Eigennutz maximierenden «Wirtes» entsprechen. Vielmehr ist da «zunächst der Traum und der Wille, ein privates Reich zu gründen, … das Raum gewährt und Machtgefühl … Da ist sodann der Siegerwille. Kämpfenwollen einerseits, Erfolghabenwollen andrerseits … Freude am Gestalten endlich ist die dritte solche Motivfamilie … Das kann sowohl blosse Freude am Tun sein … als auch speziell Freude am Werk, an der Neuschöpfung als solcher.»

Kirzners Flaschensammler-Unternehmer und Schumpeters Pionier-Unternehmer sind somit schon einmal sehr unterschiedliche Typen; auch wenn ihre «Träume» ähnlich sein mögen. Unsere emotionale Einstellung zu beiden dürfte auch unterschiedlich sein: Mitleid oder Sympathie mit dem namenlosen Flaschensammler und Missgunst oder Bewunderung für den machtvollen Pionier-Unternehmer. Beide aber haben eine Funktion im freien Wettbewerb. Kirzners Unternehmer hilft, bestehende, aber bisher unerkannte Potentiale einer verbesserten Koordination von Plänen und Erwartungen zu entdecken und zu nutzen; Schumpeters Unternehmer schafft neue Potentiale (und zerstört alte Routinen).

Ohne Arbitrage, also ohne das laufende Aufspüren und Überbrücken der in komplexen, dynamischen Systemen immer wieder neuentstehenden Koordinationslücken, könnten Wettbewerb und das Preissystem ihre koordinierende Informations- und Lenkungsfunktion weniger gut wahrnehmen. Ohne Innovation, ohne das laufende Hervorbringen von Neuerungen würden Wettbewerbsprozesse und mit ihnen die wirtschaftliche Entwicklung insgesamt im statischen Gleichgewichtszustand verkümmern.

Die «Unternehmergesellschaft» dient somit – erstens – der Entdeckung und Nutzung von bestehendem, verstreuten, individuellen Wissen über vorübergehende lokale Gegebenheiten, Präferenzen und Fähigkeiten (Koordination: Kirzner); aber auch – zweitens – der Schaffung von neuem, verallgemeinerbarem und übertragbarem Wissen (Innovation: Schumpeter). Genau gesagt, dient die Unternehmergesellschaft nicht vorbestimmten Funktionen. Vielmehr dienen Unternehmer, Makler wie Pioniere, wider Willen anderen, unbekannten Menschen: den Konsumenten. Freilich gilt dies nur im wettbewerblichen und von staatlichen Privilegien freien Kapitalismus.

Keiner hat dies klarer formuliert als Kirzners Lehrmeister, Ludwig von Mises, in seiner «Nationalökonomie»: «Nur der kann Unternehmer werden und Unternehmer bleiben, der sich täglich von Neuem als vollkommenster Vollstrecker der Befehle der Verbraucher bewährt … Die Notwendigkeit, Gewinne zu erzielen, zwingt den Unternehmer, sich den Wünschen der Verbraucher, die auf dem Markte geäussert werden, so schnell und so vollkommen als möglich anzupassen. Wenn er das nicht vermag, oder wenn er sich dagegen auflehnt, wird er über kurz oder lang aufhören, Unternehmer zu sein.»

Der anonyme Flaschensammler und der berühmte Bill Gates – beide sind spekulative Unternehmer und damit ungewollt Diener. Der Flaschen- oder Lumpensammler sieht sicher mehr wie ein Diener aus (auch wenn er letztlich eher ein notgedrungener Selbstbediener in Form einer Ich-AG bleibt). Dagegen ist der Pionier-Unternehmer jener, der vielen fremden Herren (und Damen) dient; er sieht nur deshalb wie ein Herrscher aus, weil seine Dienste von anderen herrschaftlich honoriert werden. Faktisch aber sind beide Diener ohne Dienstvertrag, deren Glück davon abhängt, was wir ihnen übriglassen oder abkaufen wollen.

Michael Wohlgemuth, geboren 1965, ist habilitierter Ökonom und geschäftsführender Forschungsreferent am Walter Eucken Institut in Freiburg i.B.

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