1968 und die Gegenwart
Die grosse politische Revolution ist damals zweifellos missglückt. Doch haben viele 1968er Karriere gemacht, höchstwahrscheinlich ohne Krawatte und mit Jeans statt Buntfaltenhosen – aber sie taten es. Erfolgreich. Die Voraussetzungen hierfür waren ideal: Sie waren zumeist gut ausgebildet, wurden früh politisiert, erwiesen sich als geistig flexibel, verfügten über intakte Seilschaften. Die Revoluzzer von einst gehören heute zu den angegrauten […]
Die grosse politische Revolution ist damals zweifellos missglückt. Doch haben viele 1968er Karriere gemacht, höchstwahrscheinlich ohne Krawatte und mit Jeans statt Buntfaltenhosen – aber sie taten es. Erfolgreich. Die Voraussetzungen hierfür waren ideal: Sie waren zumeist gut ausgebildet, wurden früh politisiert, erwiesen sich als geistig flexibel, verfügten über intakte Seilschaften. Die Revoluzzer von einst gehören heute zu den angegrauten Vertretern des Establishments.Wer als Nachgeborener wie ich die Schriften der Vordenker von 1968 liest, ist erstaunt über den dogmatischen Furor – aber auch über das Bemühen um echte intellektuelle Dissidenz. In seinem «Versuch über die Befreiung» (1968) wettert Herbert Marcuse über den «korporativen Kapitalismus», also über das Zusammenspannen von Big Business und Big Government, über den «bürokratischen Wohlfahrtsstaat», über die «Pseudo-Demokratie in einer freien Orwellschen Welt». Die Linken von heute, auch die radikaleren unter ihnen, wirken in ihrer Verteidigung des Status quo von umverteilendem Wohlfahrtsstaat, semisozialistischer Wirtschaft und Demokratie wie stockkonservative Konformisten. Während die Studenten in den 1960er Jahren die «Emanzipation» aus allen ökonomischen und gesellschaftspolitischen Zwängen exerzierten, scheint heute bloss noch eine Forderung zu zählen: sich nach allen Seiten abzusichern. Der Mut zum utopischen Aufbruch ist der Abstiegsangst gewichen, an die Stelle der grossen Weigerung gegenüber dem bourgeoisen Staat ist die Verklärung desselben als universaler Problemlöser getreten. Der antiautoritäre Impetus, die Grundskepsis gegenüber Macht und Monopolen – das Erbe von 1968 ist unter linken Karrieristen besonders schlecht aufgehoben.Gehalten hat sich bis heute die Einbildung eines Teils politisch bewegter Zeitgenossen, «sie gehörten zum besseren Teil der Menschheit», wie Götz Aly einmal schrieb. Die Moralisierung des öffentlichen Diskurses gehört bis hinein in bürgerliche Kreise zum guten Ton. Und noch folgenreicher: die politischen Begriffe sind heute stark marxistisch geprägt, dank des Engagements der 1968er in Bildung, Verwaltung und Politik. «Gerechtigkeit» meint nichts anderes als «Gleichheit», und «Gleichheit» meint stets «materielle Gleichheit». Die mitteleuropäischen Gesellschaften der Gegenwart haben keinen positiven Begriff von Ungleichheit mehr, der unerlässlichen Voraussetzung für Vielfalt. Und folgerichtig kann «Freiheit» nur «Befreiung» von Ungleichheiten bedeuten, die stets auf Diskriminierungen zurückzuführen sind.Das ist die Sprache, die wir heute (fast) alle sprechen. Praktisch haben die 1968er versagt. Aber auf der Ebene der Deutung haben sie viel erreicht. Für mich viel zu viel. Denn sind es nicht die Deutungen, die unser Handeln bestimmen?