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113 Hits, Füller und Nieten

Franz Hohler (Hrsg.): «112 einseitige Geschichten». München: Luchterhand, 2007.

Das Vorwort zu diesem Band ist kurz, frech, ehrlich und überflüssig. Hier folgt der komplette Wortlaut: «Ich habe 112 Geschichten gesammelt, die nicht länger als eine Druckseite sind, und lege sie Ihnen hiermit unter dem Titel ‹Einseitige Geschichten› zur Lektüre vor. Zürich, Februar 2007, Franz Hohler».

Wenn dem Herausgeber selbst zu all den Miniaturen nichts Verbindendes einfällt, wozu gibt es dann dieses Vorwort? Möchte er nur sagen: «Das Büffet ist eröffnet»? Anfangs scheint es sich überwiegend um leicht absurde Texte zu handeln, doch dann gibt es viel zu viele Abweichungen von diesem möglichen Konzept. Auch die Qualität dessen, was Hohler gesiebt und gesucht hat, schwankt stark. Nun ist es nicht gerade schwierig, vielleicht eine Stunde lang am eigenen Bücherregal entlangzuschlendern und eine ganze Menge Kurztexte planlos zu versammeln, ausserdem einige Freunde um Originalbeiträge zu bitten, erst recht nicht, wenn auch noch Ausschnitte aus Romanen dabei sein dürfen oder Aphorismen oder belehrende, wie für Kinder geschriebene Episoden. Und schliesslich erlaubt sich der Herausgeber, gleich zwei eigene – leider schwache – Texte mit aufzunehmen. Obwohl also die Idealform einer solchen Anthologie nicht annähernd erreicht wurde, bleibt trotzdem ein guter Eindruck zurück. Wie geht das?

Eine Art Häppchenservice für den eiligen Leser mit dermassen kurzen Proben lässt das Starke besser zur Geltung kommen. Er hat den wirklich schwachen Zehntel rasch hinter sich, überblättert achselzuckend das Mittelmass, denn beides stiehlt wenigstens nicht viel Zeit. Wie in einem Pop-Album überstrahlen die wenigen Hits die vielen Füllstücke und die Nieten. Und über der Freude einiger Neu- oder Wiederentdeckungen geht vergessen, dass diese Anthologie nicht mehr Zusammenhalt bietet als die Willkür des Herausgebers.

Zu den Hits gehört etwa die Geschichte der Lyrikerin Sarah Kirsch, die auf wenigen Zeilen eine makellose Kürzestgeschichte hinzaubert, so, als hätte sie nie etwas anderes geschrieben. Eine verwandte Entdeckung ist die nicht ganz geschlossene Miniatur von Else Lasker-Schüler, ein konzentrierter wehmütiger Selbstnachruf. Oder Wolfdietrich Schnurre: der Mann hat gefälligst wiederentdeckt zu werden. Luigi Malerbas «Das Huhn und die Mafia» liest sich wie ein weltbekannter Klassiker. Büchners Märchen aus dem Woyzeck wirkt isoliert sehr stark, diese tränenselige Skizze von dem im Weltall verlorenen Kind muss als eine Urzündung des Existenzialismus gelten. Urs Widmer verhilft prügelbereiten Polizisten zu ihrem Ziel, und auch Martin R. Dean steuert einen starken Text über das Verhalten schweizerischer Behörden bei.

1981 erschienen, ebenfalls im Luchterhand-Verlag, Franz Hohlers «111 einseitige Geschichten». Ein Vierteljahrhundert später springt der Zähler also einfach um eins weiter, auf 112 einseitige Geschichten. Doch nein, tatsächlich wurden es 113 Geschichten. Auch das passierte vermutlich ohne Absicht.

vorgestellt von Marcus Jensen, Berlin

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