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100 Jahre Psychoanalyse in Zürich, ein Überblick

Zürich war nach Wien einer der wichtigsten Orte, an denen die Ideen Freuds aufgegriffen, diskutiert, angewandt und weiterentwickelt wurden. Der Fokus «Zürich – Stadt der Seelenkunde» wird sich in einer Folge von sieben Beiträgen mit der wechselvollen Geschichte der Rezeption der Psychoanalyse in Zürich, von Anfang des letzten Jahrhunderts bis in die Gegenwart, auseinandersetzen.

Neben Wien, der Wirkungsstätte Freuds, war Zürich der wichtigste Ort für die Rezeption und Ausbreitung der Psychoanalyse Anfang des 20. Jahrhunderts. Freud selbst dachte daran, ihren Mittelpunkt hierher zu verlegen, wie er in einem Brief an C.G. Jung 1910 schrieb; denn hier hatte sich unter dem Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Burghölzli, Eugen Bleuler, eine Gruppe von Ärzten zusammengefunden, die sich in ihrer klinischen Arbeit engagiert mit der Psychoanalyse auseinandersetzten.

Eugen Bleulers Offenheit gegenüber der neuen tiefenpsychologischen Theorie war es zu verdanken, dass sie lebhaft diskutiert wurde. Er bestätigte Freuds Entdeckung des Unbewussten und wandte die «mit Hilfe der Psychoanalyse für den Traum und die Neurosen» erkannten Mechanismen auf psychotische Symptome an. Geleitet von seiner prinzipiellen Forderung, dass alle psychischen Symptome verstehbar sein müssten, stellte er in seinem grossen Werk über die Schizophrenie (1911) die psychoanalytische Betrachtungsweise gleichberechtigt neben die klinisch-systematische.

So wurde Zürich zu einem der wichtigsten Orte für die Beziehung zwischen Psychiatrie und Psychoanalyse und für die Diskussion über das Verständnis seelischen Leidens und menschlicher Existenz. Die unter dem Einfluss der Psychoanalyse entstandene «Psychodynamische Psychiatrie» verbreitete sich in den folgenden Jahrzehnten weltweit und hatte einen grossen Einfluss auf die psychiatrische Praxis. Die «Schweizer Monatshefte» werden in diesem Jahr, Ausgabe für Ausgabe, Beiträge veröffentlichen, die sich mit der Geschichte der Psychoanalyse in Zürich und dem sich wandelnden Verständnis der menschlichen Psyche befassen.

Freuds Interesse daran, der Psychoanalyse eine institutionelle Verankerung zu geben, ihr wissenschaftliche Anerkennung zu verschaffen und eine klare therapeutische Vorgehensweise zu entwickeln, führte unter ihren eigenständigen Rezipienten zu lebhaften wissenschaftlichen Diskussionen. In allen Vereinigungen, Gruppen und Ausbildungsseminaren, die in den folgenden Jahrzehnten entstanden, führten die Mitglieder heftige Auseinandersetzungen um Grundfragen der Psychoanalyse, und es entwickelte sich eine Dynamik von Integration und Ausschluss. Der im Anschluss an diesen überblick folgende erste Beitrag von Bernhard Küchenhoff, Leitendem Arzt am Burghölzli, wird Eugen Bleulers Beziehung zu Freud zum Thema haben.

1907 wurde durch eine Gruppe von Ärzten in Zürich die erste «Gesellschaft für Freudsche Forschungen» gegründet. Nachdem Freud 1910 die «Internationale Psychoanalytische Vereinigung» ins Leben gerufen hatte, wurde jene zu einer Ortsgruppe dieser Vereinigung, trennte sich aber bereits 1914 wieder von ihr. 1919 kam es zur Gründung der «Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse», die sich wiederum als Zweiggesellschaft der «International Psychoanalytic Association» verstand. Angetrieben und geprägt wurden die sich bildenden Gruppen von bedeutenden Psychoanalytikern, wie etwa Raymond de Saussure, Olivier Flournoy, René Henny, Christian Müller, Bertrand Cramer, André Haynal in der welschen Schweiz und Rudolf Brun, Hans Zulliger, Ernst Blum, Philipp Sarasin, Heinrich Meng, Gaetano Benedetti, Jacques Berna, Fritz Morgenthaler, Paul Parin, Fritz Meerwein, Ulrich Moser, Martha Eicke in der deutschen Schweiz. Der Psychoanalytiker Alexander Moser wird in der kommenden Ausgabe der Schweizer Monatshefte über die Beziehungen zwischen der «Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse», den Schweizer Ausbildungsseminaren und den internationalen Vereinigungen schreiben.

Inhaltliche Differenzen zwischen Freud und einigen der ersten Psychoanalytiker führten zur Entwicklung jeweils eigenständiger psychodynamischer Richtungen. C.G. Jung beispielsweise wollte seelische Probleme nicht einfach nur im Kontext der persönlichen Geschichte deuten, sondern erweiterte Freuds Unbewusstes um die Dimension des sogenannten kollektiven Unbewussten, als dessen Inhalte er sogenannte Archetypen bestimmte. Demgemäss spielen bei seelischen Störungen nicht ausschliesslich persönliche Erlebnisse eine Rolle, sondern ebensosehr die a priori das Seelische strukturierenden Archetypen. Ein weiterer Aspekt der Differenz zwischen Jung und Freud war, dass Jung die Sexualität nur als Teiltrieb anerkannte und die Libido selbst als allgemeine Lebensenergie betrachtete. So prägte Jung eine eigene tiefenpsychologische Richtung, die «analytische Psychologie», und gründete 1917 den «Psychoanalytischen Club». Heute gibt es im Raum Zürich im wesentlichen zwei Institutionen, die seine Richtung der Tiefenpsychologie vertreten, das «Internationale Seminar für Analytische Psychologie» (ISAPZURICH) und das «C.G. Jung-Institut». Doris Lier, analytische Psychologin und Mitglied der Seminarleitung von ISAPZURICH, wird Jungs geistigen Werdegang und die institutionelle Entwicklung seiner analytischen Psychologie in einem weiteren Beitrag darstellen.

Ludwig Binswanger lernte die Psychoanalyse Freuds über seinen Doktorvater C.G. Jung am Burghölzli kennen. Theoretisch ging er schon bald auf Distanz, allerdings nicht wie die anderen Kritiker mit psychologischen, sondern mit philosophischen Argumenten. Er kritisierte das der Psychoanalyse zugrundeliegende Menschenbild als zu naturalistisch und zu deterministisch. Auf der Suche nach einem ganzheitlicheren Menschenbild wurde Heideggers Auslegung des Menschen als «Dasein» in «Sein und Zeit» für ihn zur philosophischen Basis seiner phänomenologischen Untersuchungen von an Schizophrenie erkrankten Menschen. Medard Boss, ebenfalls zunächst Psychoanalytiker, entwickelte Ende der 1940er Jahre eine neue «Daseinsanalyse», die sich der direkten Zusammenarbeit mit Martin Heidegger verdankte. Anders als für Binswanger, war für ihn die Daseinsanalyse auch eine Form therapeutischer Praxis. 1971 wurde das «Daseinsanalytische Institut für Psychotherapie und Psychosomatik» gegründet, das bis zum Jahr 2000 bestand. Heute wird die Daseinsanalyse im Rahmen des seit 1983 bestehenden «Daseinsanalytischen Seminars» gelehrt und weiterentwickelt. Alice Holzhey, Mitbegründerin und derzeitige Co-Leiterin des «Daseinsanalytischen Seminars», wird die Geschichte der Daseinsanalyse sowie ihre heutige Theorie und Praxis im vierten Teil dieser Reihe vorstellen.

Leopold Szondi, der Vater des Literaturwissenschafters Peter Szondi, war von 1927 bis 1941 Professor für Psychopathologie und -therapie an der Ungarischen Hochschule für Heilpädagogik in Budapest. Nach seiner Internierung im KZ Bergen-Belsen gelang ihm 1944 die Flucht in die Schweiz. In Zürich widmete er sich der von ihm begründeten Schicksalsanalyse, einer weiteren Richtung der Tiefenpsychologie. Auch seines Erachtens spielen die unbewussten Motive für Diagnose und Therapie psychischer Erkrankungen eine entscheidende Rolle, wobei er ausser der Wirkung eines individuellen und eines kollektiven Unbewussten die eines familiären Unbewussten betonte. Das Schicksal des Menschen sieht er in lebensbestimmenden Wahlhandlungen. 1970 wurde in Zürich unter seiner Leitung das «Lehr- und Forschungsinstitut für Schicksalspsychologie und allgemeine Tiefenpsychologie» gegründet. Karl Bürgi-Meyer, engster Mitarbeiter Leopold Szondis und langjähriger Studienleiter am Szondi-Institut, wird über die Grundgedanken der Schicksalsanalyse und ihren therapeutischen Ansatz schreiben. Seine Ausführungen werden als fünfter Beitrag zu lesen sein.

Nach dem Zweiten Weltkrieg gab der Sohn und spätere Nachfolger Eugen Bleulers, Manfred Bleuler, wie sein Vater 40 Jahre zuvor, der Psychoanalyse am Burghölzli viel Raum. Gustav Bally und Medard Boss, beides Mitglieder der «Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse», erhielten den Auftrag, die Assistenzärzte in die Psychoanalyse einzuführen. Sie leiteten gemeinsam das «Institut für ärztliche Psychotherapie». Und Gaitano Benedetti setzte zusammen mit Christian Müller und Balthasar Staehelin seine Untersuchung der Möglichkeit psychoanalytischer Therapie Schizophrener fort.

Nach dem Vorbild der legendären «Wiener Mittwochsgesellschaft» in Freuds Praxis hatte sich zur gleichen Zeit eine Gruppe von Psychoanalytikern um Fritz Morgenthaler, Paul Parin und Goldy Parin-Matthèy zusammengefunden. Aus diesem «Kränzli» kam es 1958 zur Gründung eines «Psychoanalytischen Seminars für Kandidaten». Es wurde im Zuge der politischen Bewegungen der 68er Jahre 1970 in administrativen Belangen von den Studenten selbst übernommen und geführt, was jedoch in den folgenden Jahren zu zunehmenden Konflikten mit der «Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse» und der «Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung» führte, worauf die «Schweizerische Gesellschaft für Psychoanalyse» 1977 mit seiner Schliessung eingriff. Ein Teil der ehemaligen Mitglieder führte unter dem traditionellen Namen «Psychoanalytisches Seminar Zürich» die kultur- und gesellschaftskritisch ausgerichtete politische Tradition erst an der Tellstrasse, später an der Quellenstrasse weiter; die der «Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse» näherstehende Gruppe arbeitete fortan unter dem Namen «Ausbildungszentrum der SGPsa» und später «Freud-Institut Zürich». Der Psychotherapeut Thomas Kurz wird den dramatischen Vorgang der Trennung des «Psychoanalytischen Seminars» von der «Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse» im sechsten Artikel der Reihe schildern.

Im siebten und letzten Beitrag werden sich Daniel Hell, Ärztlicher Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik (Burghölzli), und Heinz Böker, dort Leitender Arzt, zur aktuellen Situation psychotherapeutischer Theorie und Praxis äussern.

Barbara Handwerker KÜCHENHOFF promovierte in Philosophie und ist freie Lektorin in Zürich. Für die Schweizer Monatshefte betreut sie den Fokus «Zürich – Stadt der Seelenkunde».

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