(10) Ich bin sicher, Schönheit überlebt
Es gibt leidenschaftliche Leser und Bibliophile. Rainer Diederichs verkörpert beide. Zu unserem Gespräch erscheint er mit einer Anzahl von Büchern unterm Arm, schönen und weniger schönen.
Herr Diederichs, warum brauchen wir schöne Bücher? Kommt es nicht allein auf den Inhalt an, den ein Text vermittelt? Und ist es daher nicht gleichgültig, wie er verlegt wird? Bleibt Schiller nicht Schiller, Keller nicht Keller, Brecht nicht Brecht, ohne durch die Gestaltung oder die Papierqualität weder etwas verlieren noch etwas gewinnen zu können?
Das stimmt so nicht, denn die Textgestaltung der Klassiker unterliegt auch der Zeit. Nehmen wir etwa den Druck «Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Otto Rilke» von Rainer Maria Rilke, den der Kranich-Verlag 1998 herausgegeben hat. Dieses Buch liebe ich, weil es wunderschön in der Hand liegt. Der weiche Einband, das leichte Büttenpapier, das sich geräuschlos blättern lässt. Papier, wie eine Schneelandschaft, so weiss und duftig. Dieses Lustgefühl beim Aufschlagen. Die Schönheit des Pressendrucks entspricht dem Zauber der Sprache. Da stimmt alles, sehen Sie hier die Typographie, den Satzspiegel, den Zeilendurchschuss, welche Sorgfalt darauf verwendet wurde. Mit solch einer bibliophilen Ausgabe bekommen Sie einen ganz anderen Zugang zum Text, solch ein Buch lesen Sie gerne.
Ihre Begeisterung ist ansteckend. Doch bekommen Buchbinder und Buchdrucker auf diese Weise nicht zuviel Einfluss auf den Inhalt des Buches? In dem Sinne, dass die Gestaltung die Atmosphäre bestimmt und suggestiv wird wie die Filmmusik beim Film?
Es gibt Wettbewerbe, in denen Buchbinder die Aufgabe haben, dem gleichen Text einen neuen Einband zu geben. Spannend ist, wie verschieden die Ergebnisse ausfallen. Es ist tatsächlich eine Gefahr, wenn Gestalter sich als Schöpfer ansehen. Denn sie müssen sich dem Text unterordnen und vermeiden, ihm eine ganz andere Note zu geben. Nehmen wir hier etwa den Gedichtband der Schweizerin Kathrin Fischer. Der Buchdrucker hat den Text so fein gestaltet und den Gedichten dadurch eine so schöne Note gegeben, dass es reizt, in dem Buch zu blättern. Es beginnt jetzt vielleicht auch jemand zu lesen, der sich sonst nicht so für Gedichte interessiert. 1995 wurde der Band im internationalen Wettbewerb mit der «Goldenen Letter» prämiiert. Als dann die Fernsehanstalten anreisten, um das schönste Buch des Jahres zu filmen, sahen sie zu ihrer Überraschung einen schlichten Lyrikband, der gar nicht telegen war.
Wann ist ein Buch schön?
Wenn es seine Individualität ausdrückt. Ein Buch ist ein geistiges Produkt und muss im entsprechenden Gewand auftreten. Ein Lyrikband muss in Typographie und Gestaltung anders sein als ein Wanderführer, ein wissenschaftliches Werk anders als ein Roman. Ein Buch ist schön, wenn es die Stärke des Textes zum Ausdruck bringt.
Und bibliophil ist das Buch, wenn es zusätzlich so erlesen und kostbar ist, dass es in der Glasvitrine aufbewahrt wird?
Die Grenze ist schwer zu ziehen, da gibt es ein weites Übergangsfeld. Bibliophil ist derjenige, der eine Leidenschaft für das Buch hat.
Wer mit Leidenschaft liest, wer das Buch weder in der Badewanne, noch beim Kochen, noch im Tram aus der Hand gibt, sodass es zum Schluss verknittert und speckig ist, der ist nicht bibliophil?
Nein, es kommt nicht nur auf die Liebe zum Text, sondern auf die Liebe zum Buch an. Man muss Konsumbücher von zu bewahrenden, kostbaren Büchern unterscheiden. Ein Buchliebhaber ist der, der versucht, das Buch auch in einer schönen Ausgabe zu haben, mit der er dann sorgsam umgeht. Leidenschaftliche Leser sind nicht immer auch Buchliebhaber.
Und Buchliebhaber nicht immer auch leidenschaftliche Leser? Sondern vielleicht Menschen, die überhaupt nicht lesen, und statt dessen das schöne Buch als dekoratives Statussymbol und zur Demonstration eines verfeinerten Lebensstils verwenden?
Jetzt provozieren Sie. Ich sage nur ungern ja. Aber es gibt diese Art von Buchliebhabern mit ihren coffee table books, die dekorativ aufgeschlagen auf dem Beistelltisch liegen und darauf warten, dass der Besuch sagt: Oh, was für ein schönes Buch! Aus dem 19. Jahrhundert stammen Karikaturen von Honoré Daumier, die diese grässlichen Bücherfetischisten zeigen, die nur auf das Äussere achten, nicht jedoch auf den Inhalt. Dieses Image haftet den Bibliophilen leider noch immer an. Aber ich muss sagen, in der Schweizerischen Bibliophilen-Gesellschaft gibt es diese Art von Bücherfetischisten nicht.
Sie selbst sind Mitglied dieser Gesellschaft. Erzählen Sie mehr…
Die Gesellschaft wurde 1921 in Bern gegründet, ihr Sitz wechselte später nach Basel und kam Ende der fünfziger Jahre nach Zürich. In ihr versammeln sich Leute – meist aus dem bürgerlichen Mittelstand –, die gerne auf schöne Bücher aufmerksam gemacht werden wollen. Die ein Kulturverständnis haben, zu dem die Wertschätzung erlesener Bücher gehört. Die Gesellschaft besucht Ausstellungen, in denen Bibliotheken oder private Buchsammler ihre Schätze zeigen. Alles Kostbarkeiten, die einem das Herz öffnen. Ausserdem gibt die Gesellschaft dreimal jährlich das «Librarium» heraus.
Nun fange auch ich an zu schwärmen. Der Umschlag der Zeitschrift schmeichelt der Hand, die Aufmachung ist zurückhaltend und edel. Schlage ich sie auf, dann bestechen sogleich das feine Papier, das harmonische Layout und die perfekt gedruckten Faksimileseiten. Ingesamt wirkt das «Librarium» historisch, ein Anachronismus in der Runde der meist schrillen Hochglanzmagazine. Die Beiträge beschäftigen sich mit Büchern und Drucken, die alle schon mindestens ein halbes Jahrhundert alt sind. Ihre Leser gehören, wie die Mitglieder Ihres Vereins, meist zu der älteren Generation. Sie sind der verantwortliche Redaktor des «Librariums».
Glauben Sie an die Zukunft Ihrer Zeitschrift?
Es ist wie bei der Germanistik an der Universität; man setzt sich erst einmal damit auseinander, was als gesichertes Kulturgut gilt. Ich bin mir gewiss, dass sich das «Librarium» in fünfzig Jahren auch mit der heutigen Buchproduktion befassen wird. Rückblickend ist es einfacher, interessante Strömungen und damit die Zeichen der Zeit zu sehen.
Zwischen den Zeilen scheint mir bei Ihnen einige Skepsis gegenüber der aktuellen Produktion mitzuschwingen. Durch das Desktop-Publishing kann ja inzwischen fast jeder auf seinem Computer ein Buch bis zur Druckvorlage gestalten, es gibt viel mehr Verlage als je zuvor, noch nie wurden so viele Bücher produziert wie in der Gegenwart. Ist da nicht auch viel Schönes oder gar Bibliophiles dabei?
Die Bücher sind preiswerter geworden. Sie haben sich demokratisiert. Das finde ich sehr gut. Was ich beklage, ist die Schnelligkeit, mit der heute Bücher produziert werden müssen. Das geht auf Kosten der gestalterischen Sorgfalt; sie sind oft liederlich gemacht. Gute Buchgestaltung braucht Zeit. Und gerade unsere schnellebige Gesellschaft sollte sich diese nehmen. Das Medium Buch muss sich vorteilhaft abheben von der Medienkonkurrenz, vom Internet, von den ganzen elektronischen Angeboten.
Lässt sich ein Text auf dem Bildschirm nicht ebenso gut lesen?
Keineswegs. Bücher haben viel mehr Möglichkeiten als das Internet und andere elektronische Medien, um den Text gut zur Geltung zu bringen. Das ist ihre Stärke, die sie ausspielen müssen. Doch wie viele Bücher sind heutzutage schlecht gemacht, wie etwa dieses Taschenbuch hier vom Rowohlt Verlag. Der Durchschuss zu klein, der Satzspiegel zu gross, die Zeilen so lang, dass man sich beim Lesen verheddert und den Anschluss zur nächsten Zeile nicht findet, zu wenig Freiräume, bei denen sich das Auge ausruhen könnte, und die Opazität zu gering, sodass die Bilder der nächsten Seite durchschimmern. Fürchterlich. Solche Bücher verweigern sich dem Leser.
Gelten diese hohen Ansprüche nicht vor allem für Lyrik und Belletristik, die von Menschen mit einem Auge für Gestaltung in ihrer Freizeit gelesen werden? Ist der Bildschirmtext hingegen nicht die beste Wahl für den rationalen und rationellen Leser im Berufsalltag? Diskreditiert sich der Leser wissenschaftlicher Berichte nicht sogar, wenn er zugibt, dass er nicht nur einen informativen Text, sondern auch einen schön gestalteten lesen will?
Im Gegenteil. Ein schönes Buch erleichtert das Lesen. Der Leser ermüdet weniger schnell und erfasst dafür den Inhalt schneller. Weil es billiger ist, schreibt der Wissenschafter seinen Text meist selbst am Computer und gibt die Vorlage dann dem Verlag, der sie unbearbeitet drucken lässt. Die Bücher, die so entstehen, sind meist nicht gut gestaltet. Deshalb nehmen die Leser den Inhalt nicht leicht auf. Sie legen das Buch schneller wieder weg. Das passiert weitgehend unbewusst, und so bleiben viele Tagungsbände und wissenschaftliche Bücher ungelesen in den Regalen. Bücher sollen deshalb schön sein – als Dienst an der Lesbarkeit.
Ein vergleichsweise funktionales und unsentimentales Argument für einen Buchliebhaber wie Sie einer sind!
Ich bin sicher, Schönheit überlebt. Und daher mit ihr auch das gut gemachte, schöne und bibliophile Buch.