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(10) Gefährdet der Islam europäische Werte?

Wenn die Demographen richtig prognostizieren, wird der Anteil der islamischen an der europäischen Bevölkerung in den nächsten Jahrzehnten rasant wachsen. Ob es gelingt, den Islam mit der europäischen Moderne zu vereinbaren, wird schon allein daher zu einer eigentlichen Schicksalsfrage.

Ist die Verteidigung der Werte der Zivilgesellschaft gegen den Islam eine Diskriminierung islamischer Immigranten? Meine spontane Antwort: Die Europäischen Werte sind durch den Islam nicht bedroht, aber sie sind herausgefordert, und wenn es uns nicht gelingt, konstruktiv damit umzugehen, werden wir dadurch zunehmend bedroht.

Ich komme soeben von einer Aussprache mit führenden Politikern der Niederlande in Amsterdam. Seit der Ermordung des Filmregisseurs Theo van Gogh ist die traditionelle Toleranz der Niederländer auf eine harte Probe gestellt. Dabei seien folgende Tatsachen in Erinnerung gerufen. Es gibt eine Radikalisierung des Islams in Europa, von der auch die Niederlande nicht ausgenommen sind. Von der Million der dort lebenden Muslime sind zwar nur etwa zehn Prozent Fundamentalisten, aber der Anteil nimmt zu und der Einfluss dieser Gruppe ebenfalls, denn diese Minderheit ist sehr gut organisiert und kontrolliert die Moschee. Das Problem der islamistischen Radikalisierung existiert, und wer beharrlich auf das Virus des Djihadismus aufmerksam macht, schürt nicht etwa die Islamophobie.

Der Islam ist keine pazifistische Religion, und Djihad hat zwei Grundbedeutungen: Selbstanstrengung und Gewalt. Aber selbst im Sinn von Gewalt soll Djihad nach dem Koran stets begrenzt sein. Es dürfen keine Wehrlosen angegriffen, und der potentielle Feind muss vorgewarnt werden. Das Konzept des Djihadismus stammt aus dem 20. Jahrhundert und ist in den Dreissigerjahren entwickelt worden. Es bildet einen Markstein der Entwicklung vom Islam als Religion zum Islamismus als einer politischen Doktrin. Die Verpflichtung, die Religion weltweit zu verbreiten (Da’wa) beruht auf dem Missionsauftrag, der ja auch im Christentum enthalten ist. Wer migriert und auf dieser Wanderung (Hidjra) den Islam verbreitet, kommt nach der Verheissung des Korans ins Paradies. Die Europäer müssen wissen, dass dieser Missionsauftrag existiert und dass es die Pflicht jedes Muslims ist, andere Menschen zum Islam zu bekehren, und sie müssen sich davon distanzieren, weil dieser Auftrag in einem friedlichen Wettbewerb keinen Platz findet.

Für die Entwicklung eines nicht-aggressiven Euro-Islams ist die Unterscheidung von Islam und Islamismus von zentraler Bedeutung. Islam ist eine Religion, Islamismus eine politische Ideologie, die für eine islamistische Weltordnung im 21. Jahrhundert kämpft. Die Islamisierung Europas ist dabei eine wichtige Etappe. 1950 gab es in Westeuropa nur 800’000 Muslime, im Jahr 2000 waren es schätzungsweise 15 Millionen, heute werden gegen 20 Millionen geschätzt, und in 15 bis 20 Jahren wird die Zahl auf 35 bis 40 Millionen gestiegen sein. Die Situation wird dadurch verschärft, dass die Europäer nicht wissen, wie sie mit dem Islam umgehen sollen. Während es in den USA gelingt, in ein bis zwei Generationen aus Immigranten patriotische Amerikaner zu machen, fällt den Europäern die Integration ausserordentlich schwer.

Die Europäer brauchen die europäischen Werte, und Europa wäre ohne diese Werte nur ein multiethnisches Sammelbecken ohne Identität. In meinem Buch «Europa ohne Identität? Leitkultur oder Wertebeliebigkeit» (Neuausgabe, Berlin 2002) habe ich mich mit der Voraussage befasst, dass dieser Kontinent am Ende des 21. Jahrhunderts islamisch und ein Teil des Maghreb sein werde. Die Grundfrage lautet für mich nicht, wieviele Muslime in Europa leben, sondern welcher Islam sich in Europa entwickelt, ein aufgeklärter Euro-Islam oder ein fundamentalistischer Ghetto-Islam. Es muss gelingen, den Islam zu europäisieren. Wenn die Kontroverse versandet, der Rassismus zunimmt und der Islam zum neuen Feindbild gemacht wird, könnte Oswald Spengler mit seinem «Untergang des Abendlandes» doch noch Recht bekommen.

Ein Dialog zwischen Kulturrelativisten auf der einen und Neo-Absolutisten auf der anderen Seite bringt nichts Konstruktives. Wenn der Absolutist sagt: «Mein Glaube ist richtig, und alles andere ist falsch», antwortet der Relativist: «Es gibt keine Idee, die richtig ist und keine die falsch ist, alles ist relativ.» In einem konstruktiven Dialog müssen beide Gesprächspartner zu sich selbst stehen, und sie dürfen ihre Werte kompromisslos vertreten. Dabei gibt es aber Bereiche, wie die freie Meinungsäusserungs- und die Glaubens- und Gewissensfreiheit, die nicht zur Disposition stehen dürfen. Die Voraussetzung für einen konstruktiven Dialog ist die Besinnung auf das eigene ideelle Rückgrat, das es auf beiden Seiten braucht. Der kulturelle Relativismus, wie er in Europa vielerorts postuliert wird, ist abzulehnen. Es trifft zu, dass der Westen vielen nichtwestlichen Kulturen die Idee der Menschenrechte «aufdrängt». Das ist aber kein ideeller Imperialismus, sondern dient der Schaffung besserer Voraussetzungen für ein friedliches Zusammenleben. Wegleitend ist dabei Karl Poppers Grundsatz: «Im Namen der Toleranz sollten wir daher das Recht beanspruchen, die Intoleranz nicht zu tolerieren.»

Mein Konzept des Euro-Islams habe ich erstmals unter dem Titel «Über die Alternative Euro-Islam oder Ghetto-Islam» in Paris 1992 vorgelegt und später weiterentwickelt. Das Konzept wird in ergänzter und überarbeiteter Form auch in meinem neuesten Buch «Mit dem Kopftuch nach Europa?» (Darmstadt 2005) dargestellt, sowie in meiner Abhandlung «Gibt es eine islamische bzw. islamistische Herausforderung an die Identität Europas?» in der Fachzeitschrift «Religion-Staat-Gesellschaft» (Heft 1/ 2005).

Die unumgänglichen Grundlagen der politischen Kultur der europäischen Moderne sind vierfach. Als erste erwähne ich – aus Überzeugung und nicht als Geste gegenüber unserem Gastgeber – die Zivilgesellschaft. Die demokratische Zivilgesellschaft bildet den Rahmen für eine rechtlich und institutionell abgesicherte Trennung zwischen öffentlicher und privater Sphäre. In einer Zivilgesellschaft geniessen muslimische Migranten die verfassungsrechtlich geschützte Freiheit der Religionsausübung in der Moschee und in ihrem Privatbereich. In der Öffentlichkeit der Zivilgesellschaft sind Muslime Bürger wie alle anderen und dürfen keinerlei Sonderrechte beanspruchen, wie etwa die Anwendung der Schari’a. Ein Anspruch auf Sonderrechte – auch für Minderheiten – steht meines Erachtens im Widerspruch zum Konzept der Zivilgesellschaft. Es gibt muslimische Autoren, die die Zivilgesellschaft einen «westlichen Traum» nennen, der auf die islamische Denkweise nicht übertragbar sei. Ich teile diese Auffassung nicht, da sie einem Brückenschlag zwischen Islam und Europa entgegensteht.

Die zweite Grundlage ist das Bekenntnis zum Pluralismus. Der Pluralismus befürwortet die Vielfalt im Rahmen eines der kulturellen Moderne verpflichteten Konsenses. Er ist nicht mit totalem Werterelativismus zu verwechseln. Ein Bekenntnis zu eigenen Werten ist, im Rahmen der Toleranz gegenüber anderen Bekenntnissen, möglich und erwünscht. Die Anerkennung des Pluralismus verlangt aber auch von den Muslimen einen Verzicht auf den Missionierungsauftrag der Da’wa. Dem Fernziel einer «Islamisierung Europas» muss eine klare Absage erteilt werden. Das Bekenntnis zu einem säkularen pluralistischen Europa ist hingegen von jeder Doppelzüngigkeit zu befreien. Der Euro-Islam sollte sich eindeutig auf die Seite einer Politik der Integration stellen.

Die dritte Grundlage ist die Toleranz als Bestandteil der kulturellen Moderne. Toleranz bedeutet im Sinne der Aufklärung mehr als nur «Duldung», nämlich Respekt und Gleichwertigkeit. Die Muslime wollen in Europa keine Minorität von nur geduldeten «Schützlingen» sein. Besonders in Deutschland tut man sich schwer mit der Integration von Nicht-Deutschen. Der Begriff «Ausländer mit deutschem Pass» hat vor allem für integrierte Immigranten, die sich kulturell und psychologisch als Deutsche fühlen, etwas Diskriminierendes.

Die vierte Grundlage ist der säkularisierte Staat, der Religion und Politik klar trennt. In Frankreich ist der Laizismus zum Bestandteil der politischen Kultur geworden. Säkularität und Islamismus stehen sich als unvereinbare Optionen gegenüber. Das Gerede von einer «postsäkularen Gesellschaft» verschleiert die Tatsache, dass es weder eine halbe Demokratie noch eine halbe Säkularität gibt.

Es gibt eine zivilisatorische Identität Europas. Europäer sollten aufhören, das zu bestreiten. Europäische Identität muss im Bündnis mit Muslimen bewahrt werden, die man auch «Pro Democracy»-Muslime nennen könnte. Wenn das nicht gelingt, hat Europa keine Zukunft.

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