(1) Zu optimistisch oder bloss realistisch?
Individuen haben Interessen und verfolgen sie. Daran ist nicht Ehrenrühriges. Die Gesellschaft basiert nicht auf Menschen, wie sie sein sollten, sondern auf Menschen, wie sie sind. Bemerkungen zum liberalen Menschenbild.
In gesellschaftspolitischen Diskussionen, die über parteipolitisches Geplänkel hinausgehen, landet man irgendwann unweigerlich bei der Frage, welches Bild vom Menschen man habe. Auf das jeweilige Menschenbild lässt sich in der Tat fast alles zurückführen, was über das Zusammenleben in der Gemeinschaft gedacht wird. Nicht von ungefähr nehmen daher Kritiker des Liberalismus gerne dessen Menschenbild ins Visier. Was macht dieses Bild aus und unterscheidet es von sozialistischen, konservativen und paternalistischen Vorstellungen?
Die Beantwortung der Frage verlangt eine klare Trennung von beschreibenden und normativen Aussagen. Im wesentlichen geht der Liberalismus – exemplarisch bei Adam Smith – von der Beobachtung aus, dass Menschen hauptsächlich eigene Interessen verfolgen. Gemeint ist mit Eigeninteresse die allgemein zu beobachtende Neigung der Menschen, sich zunächst um sich und die Ihren, um Familie und Nachbarn, eben um die Nächsten, zu kümmern. Darin liegt der Realismus des liberalen Menschenbildes, und daraus ergibt sich die Erkenntnis, dass Menschen auf individuelle Anreize reagieren.
Zunächst sind dies Anreize materieller Natur, je besser die materielle Seite abgedeckt ist, aber auch solche, die mit Ansehen und Macht zu tun haben. Der Liberalismus wertet nun dieses Verhalten nicht, verdammt es jedenfalls nicht, sondern akzeptiert es vielmehr. In der Tat ist ja in einer Zeit, in der sich immer mehr Menschen mit Blick auf die Sicherstellung ureigenster individueller Wünsche und Bedürfnisse auf den Staat, die Allgemeinheit oder schlicht die andern verlassen, nichts Ehrenrühriges darin zu erkennen, dass Menschen für sich und die Ihren sorgen. Das Eigeninteresse ist also in keiner Weise gleichzusetzen mit übersteigerter Selbstsucht oder «Arroganz der Eigenliebe», wie jene Kritiker einer freiheitlichen Ordnung gerne behaupten, die sich ihr Feindbild selbst zusammenschreinern, wonach der Liberalismus einen ausser Rand und Band geratenen Egoismus geradezu fordere (und fördere).
An der akzeptierenden Haltung gegenüber dem Eigeninteresse der Menschen, wie sie sind, haben sich sowohl christliche als auch sozialistische Strömungen seit je gerieben. Nicht dass sie die Beschreibung als solche ablehnen würden, aber sie halten ihr die normative Position entgegen, der Mensch könne und müsse sich bessern, müsse die Selbstliebe überwinden. Im Christentum wurde über die Jahrhunderte hinweg Moral mit Askese und Selbstüberwindung gleichgesetzt, was bei Kant in der Auffassung gipfelte, nur Handlung aus Pflicht sei moralisch wertvoll. Ausserdem wurde und wird die Nächstenliebe über die Selbstliebe gestellt, als ob es nicht in der Bibel hiesse: «Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.»
Das Mass aller Dinge ist dort also die Selbstliebe. Der Sozialismus ist dem Christentum insofern verwandt, als auch er den Menschen verbessern, mithin einen neuen Menschen schaffen möchte – nur lieber schon in dieser Welt. Dieser soll in seiner tagtäglichen Lebensgestaltung mehr an ein grösseres Ganzes als an sich selbst und seine Nächsten denken. Der «sozialistische Mensch» ist von sozialen Tugenden durchwaltet, richtet seine Lebensperspektive einzig an den gesellschaftlichen Interessen aus und kennt kaum Besitz- und Karrieredenken ebensowenig wie Egoismus, Neid oder Hass. Zudem befindet er sich in ständiger Entwicklung auf eine ausgedachte Vollkommenheit hin. Damit verbindet dieses Menschenbild die Überschätzung des Menschen mit einer aszendenten Anthro-
pologie.
Die meisten Liberalen haben durchaus Sympathie für die menschlichen Qualitäten, die Christentum wie Sozialismus hochhalten. Eine Welt mit besseren Menschen wäre ohne Zweifel eine menschlichere Welt. Weil aber Liberale kein aszendentes Menschenbild vertreten, basiert ihr Gesellschaftsentwurf auf den Menschen, wie sie sind – nicht, wie sie sein sollten. In einer liberalen Gesellschaft werden traditionell als negativ angesehene Züge des Menschen, wie Habsucht, Geiz, Neid, Stolz, Koketterie oder Herrschsucht, nicht unterdrückt – im Wissen, dass das ohnehin nur begrenzt möglich sei –, sondern zum Nutzen der Allgemeinheit umgemünzt und kanalisiert. Das gilt erst recht für das Eigeninteresse, das in einer liberalen Gesellschaft insofern nicht nur nicht unmoralisch ist, sondern indirekt moralisch, als es letztlich – geleitet von der «unsichtbaren Hand» des Marktes – anderen zum Nutzen gereicht. Der an den einzelnen gerichtete christliche Appell zur moralischen Anstrengung ist mit dem liberalen Entwurf solange vereinbar, als er nicht zur Basis staatlicher Lenkung und kollektiven Zwangs gemacht wird. Eine liberale Gesellschaft geht mit den knappen Gütern der Nächstenliebe und der Moral einfach haushälterisch um; sie lehnt sie nicht ab, im Gegenteil: wären diese Güter dank «besserer» Menschen weniger knapp, wäre dies ohne Zweifel von Vorteil.
Nicht vereinbar sind mit dem Liberalismus hingegen Weltanschauungen, die ihr Gesellschaftsmodell auf einem unrealistischen Menschenbild aufbauen, auf einer Art Paradies auf Erden, einem Nirwana. Und nicht vereinbar ist der Liberalismus auch mit Gesellschaftsentwürfen, die darauf ausgerichtet sind, die Menschen zu moralischem Wohlverhalten zu zwingen. Der Sozialismus verbindet beide Tendenzen, freiheitliches Denken lehnt beide ab, wegen des erwähnten Irrealismus, wegen des Zwangs, der mit utopischen Entwürfen verbunden ist, wegen des Mangels an Zukunftsoffenheit, der sich daraus ergibt, und wegen der Überzeugung, dass nur freiwilliges Handeln moralische Qualität
besitzt.
Verwandt mit diesen Überlegungen ist die liberale Absage an jeglichen gesellschaftlichen Paternalismus. Weil sich das Eigeninteresse nicht objektiv und wissenschaftlich definieren lässt, sondern weil jedes Individuum selbst am besten weiss, was ihm frommt und was nicht, gibt es keinen Platz für den Schutz des Menschen vor sich selbst, für Dostojewskis bevormundenden Grossinquisitor.
Der Einwand liegt auf der Hand, dass Menschen oft unvernünftig handeln, also Dinge tun, die sie im Nachhinein bereuen und mit denen sie sich – von aussen gesehen – schädigen. Das kann dann zu solch anmassenden und unliberalen Aussagen führen wie – stellvertretend für viele – jener von Hillary Clinton im Zusammenhang mit ihrer Gesundheitsreform: «We just can’t trust the American people to make those types of choices … Government has to make those choices for people.»
Der Liberalismus sagt im Gegensatz dazu Ja zur Unvollkommenheit des Menschen. Er geht zwar nicht davon aus, dass sich Menschen nie unvernünftig oder unklug verhalten, aber er akzeptiert dies, solange daraus keine Schädigung von Dritten, sondern nur Selbstschädigung resultiert. Dafür gibt es mehrere Gründe. So ist das Eigeninteresse selten klar erkennbar und definierbar. Wer will schon wissen, ob jemand, der ungesund lebt oder Extrem-Alpinismus betreibt, damit gegen seine Interessen verstösst? Er will es so und nicht anders. Ferner widerspricht die Vorstellung, die einen wüssten, was den anderen gut bekomme, der liberalen Annahme, dass Menschen durch ihr Handeln ihre Interessen zum Ausdruck bringen – selbst dort, wo sie vermeintlich «nicht wissen, was sie tun». Schliesslich ist die wohlmeinende Sorge um andere – um die Schwachen, Unwissenden, Unklugen – immer ein gefährliches Einfallstor für Machtausübung. Deshalb muss man auf der Hut sein vor allen, die behaupten, die Interessen anderer zu vertreten. Sie vertreten fast immer auch eigene, meist sogar hauptsächlich eigene Interessen.
Das liberale Menschenbild ist nur insofern normativ, als es postuliert, der Mensch müsse sein Schicksal selbst in die Hand nehmen. Der Mensch ist aus dieser Perspektive ins Leben geworfen, ist mit mehr oder weniger Begabungen und Gaben ausgestattet, hat Glück oder Pech. Sein Leben ist das Ergebnis solcher «Zufälle» und dessen, was er daraus macht. Voraussetzung dafür, dass er etwas aus seinem Leben machen, dass er Selbstverantwortung wahrnehmen kann, ist allerdings, dass man ihm die Früchte seiner Arbeit belässt und sie nicht mittels Zwang umverteilt. Sie schaffen nämlich Raum für die wohlverstandene Wahrung der Eigeninteressen, aber auch für freiwillige Hilfe und Mäzenatentum.
Der Mensch hat also Anrecht auf die Erfolge seines Tuns. Hingegen besitzt er keine Anspruchsrechte aller möglichen Art, etwa auf Arbeit, Freizeit, Wohlstand, Gesundheit oder Bildung. Deswegen ist auch nicht die Gesellschaft für das Wohlergehen des einzelnen verantwortlich. Jeder ist seines Glückes Schmied, ist zur Selbstverantwortung verurteilt. Das bedeutet jedoch nicht, dass er hilflos sich selbst überlassen bleibe. Die Menschen sind soziale Wesen und helfen im Rahmen ihrer Möglichkeiten von sich aus auch etwas «entfernteren» Mitmenschen, zumal, wenn diese ohne eigenes Zutun in schwere Not geraten sind, etwa durch Krankheiten oder Schicksalsschläge. Nur gehört nicht jeder Fehlentscheid – etwa für den falschen Beruf, die falsche Frau, den falschen Geschäftspartner – in diese Kategorie. In einem gewissen Ausmass muss also jeder die Konsequenzen seines Handelns selber tragen.
Erstaunlicher- und fast etwas paradoxerweise wirft man dem Liberalismus, dem man einerseits ein zu negatives Menschenbild vorhält, anderseits vor, er sei in diesem seinem Glauben an die Selbstverantwortung zu optimistisch. Der Ruf nach Selbstverantwortung stelle eine Überforderung des Menschen dar. In dieser Kritik steckt allerdings eine gehörige Portion Utopismus. Natürlich handeln Menschen oft nicht vernünftig. Doch nur in einer Gesellschaft, in der unvernünftiges Handeln mit Sanktionen bestraft wird, in der die Menschen gerade nicht vor ihrem Fehlveralten geschützt werden, entwickelt sich mit der Zeit ein klügeres und vorsichtigeres Verhalten der Menschen. Dieser (gewissermassen didaktische) Umgang mit dem Mangel an Selbstverantwortung ist nachhaltiger und realistischer als der Versuch, Menschen vor sich selbst zu schützen. Es gibt zu einer Gesellschaft, die davon ausgeht, die Menschen handelten selbstverantwortlich – auch wenn dies nur beschränkt zutrifft –, keine humanere und liberalere Alternative.
Das Fehlen von Eigenverantwortung da und dort ist somit kein Anlass, an einer freiheitlichen Ordnung Abstriche zu machen. Im Gegenteil muss die Antwort in einer klaren Wettbewerbsordnung, wenig regulierten Märkten und in Offenheit bestehen. Nur in einer Gesellschaft, in der die Menschen als mündige Bürger behandelt werden, die sowohl die positiven als auch die negativen Konsequenzen ihres Tuns selbst tragen, wird sich Mündigkeit und ein reifer Umgang mit der Freiheit entwickeln. Wo die Menschen dagegen am staatlichen oder kooperatistischen Gängelband geführt und vor allem und jedem – sogar vor sich selbst – geschützt werden, muss jegliche Eigenverantwortung notwendigerweise verkümmern.
Grundlage des Liberalismus ist das natürliche Verhalten des Normalmenschen. Der Mensch wird so akzeptiert, wie er ist, «ni ange, ni bête», wie es bei Blaise Pascal heisst. Die liberale Ordnung funktioniert also unter den Bedingungen des Durchschnitts und verlangt weder den Übermenschen noch ein besonderes gesellschaftliches Bewusstsein oder ein ethisches Mindestniveau. Dieser Realismus des Menschenbilds zählt zu den zentralen Vorteilen des Liberalismus. Statt die Schwächen der Menschen überwinden zu wollen – was selbst im besten Fall nur sehr langsam und evolutiv möglich wäre –, spannt er diese Schwächen vor den Karren des Gemeinwohls und wird damit jener Anforderung gerecht, die Michael Novak einmal an eine funktionsfähige Wirtschaftsordnung gestellt hat, nämlich «stets den sündigen Charakter des Menschen in Betracht (zu) ziehen». In diesem Realismus liegt die Tugend des Liberalismus.