(1) Zivilgesellschaft braucht Zivilcourage
Dass die Frage nach der Gefährdung westlicher Werte immer wieder aufgeworfen wird, deutet in sich schon eine gewisse Verunsicherung an, einen Mangel an Selbstsicherheit, wie er für die Schweiz und Europa heute symptomatisch ist.
Der Verein Zivilgesellschaft hat Exponenten der Zivilgesellschaft eingeladen, sich während zweier Tage in Gruppengesprächen, in einer Plenardiskussion und anhand dreier Vorträge mit der Frage «Sind unsere westlichen Werte in Gefahr?» auseinanderzusetzen. In der Plenardiskussion, die auf den zweiten Tag des Kolloquiums angesetzt war, hatten zunächst die Leiterinnen und Leiter der Gruppengespräche Gelegenheit, aus ihrer Sicht über den Gesprächsverlauf und über dessen Quintessenz zu berichten. Anschliessend war die Debatte für alle Teilnehmer offen. Der Bericht über die Plenardebatte erscheint hier am Anfang des Dossiers, weil er einer terminologischen Klärung dient, die sich im Zusammenhang mit den Begriffen der ganzen Debatte aufdrängt. Die Veranstalter haben beim Formulieren des Themas – ganz bewusst – kontroverse Begriffe gewählt, die zunächst nach einer Klärung rufen. Was sind «Werte»? Was heisst «westlich»? Was rechtfertigt den Gebrauch des Pronomens «unser»? Zeugt die Frage nach der Gefährdung nicht bereits von einer gewissen abendländischen Verunsicherung und von einem Mangel an Selbstsicherheit, wie er für die Schweiz, für Europa und für die ganze westliche Welt symptomatisch ist?
Iso Camartin, der Leiter des Panels, erinnerte in seiner Einleitung an die 1453 erschienene Schrift «De pace fidei», «Über den Frieden, den Gläubige untereinander halten sollten», von Nikolaus Cusanus. In dieser Schrift wird von einem fiktiven Konzil berichtet, an dem die Boten der verschiedenen Glaubensgemeinschaften vor Gott Rechenschaft darüber ablegen müssen, wie sie miteinander umgehen. Nach allseitigen Klagen über die Lügen, die jeder über die anderen verbreite, gelangten die Boten zum Schluss, der Grund des Zerwürfnisses liege darin, dass jeder wolle, dass der andere so sei wie er selbst, und dies wiederum sei darauf zurückzuführen, dass Gott sich noch nicht vollständig offenbart habe und somit alle Religionen unfertige, unvollendete, korrekturbedürftige Einrichtungen seien. Damit hat Cusanus die Gewaltanwendung keineswegs gerechtfertigt, sondern eine Basis geschaffen für einen Dialog, in dem sich Toleranz mit Selbstbewusstsein verbinden kann.
Der Stellenwert der Toleranz, die nie grenzenlos ist, tauchte in zahlreichen Voten immer wieder auf. Toleranz ist die Basis des Pluralismus. Sie hat nichts mit Werterelativismus und auch nichts mit Werte-Indifferenz zu tun. Fanatiker und Fundamentalisten lehnen jede Toleranz ab, da sie im totalen Widerspruch zu ihrer Überzeugung steht. Der Terrorismus, der sich gegen Ungläubige oder Glaubensfeinde aller Art richtet und der jede Art von Kompromiss ablehnt, ist eine logische Konsequenz dieser Grundhaltung, die tatsächlich eine Bedrohung darstellt. Appelle an Offenheit, Gesprächsbereitschaft und Wandlungsfähigkeit und die Forderung nach einer besseren Streitkultur, so wurde festgestellt, seien allein noch keine wirksame Gegenstrategie. Auch der globale Kampf gegen Armut und Elend helfe nicht weiter, denn der Terror habe – entgegen einer weit verbreiteten Meinung – keine ökonomischen Ursachen, sondern ideologisch-religiöse. Immerhin sollte der kulturverbindende Aspekt der Musik und des Sportes nicht unterschätzt werden und auch in der Trivialkultur finden sich offensichtlich mehr Gemeinsamkeiten als in der Hochkultur. Auf die Frage nach den Alternativen zur Spirale von Gewalt und Gegengewalt, wurde der konsequente Rückzug aus den Kerngebieten des Terrors erwähnt, eine Lösung, die aber ihrerseits auf Widerspruch stiess und die auch nicht erfolgversprechend sein kann, weil der Terror ja seine Angriffsziele auch ausserhalb des eigenen Kulturbereichs sucht und findet.
Die optimistische Meinung, der Freihandel als Globalisierung des Tauschprinzips werde mittel- und langfristig die Gewaltanwendung zum Verschwinden bringen, weil sie sich nicht lohne, blieb nicht unwidersprochen. Immerhin kann durch Freihandel wenigstens der Migrationsdruck und das damit verknüpfte Konfliktpotential vermindert werden. Toleranz kann allerdings, wie präzisierend eingewendet wurde, nur aus einer Position der Stärke heraus praktiziert werden. Von Minderheiten, die Opfer der Repression sind, könne man keine Toleranz verlangen, da müsse man sich mit der Dialogbereitschaft begnügen.
Neben der Toleranz stand das Spannungsfeld von Wertebewusstsein und Selbstbewusstsein zur Debatte. Wer von «unseren Werten» spricht, zeigt dabei Selbstbewusstsein, das aber auch die Tendenz haben kann, in Arroganz umzukippen. Der im Plenum umstrittene Begriff «Leitkultur» wurde von Bassam Tibi, seinem Erfinder, dahingehend präzisiert, dass er damit nie die Vorbildlichkeit oder Vorherrschaft einer bestimmten Kultur in einem bestimmten Raum postuliert habe, sondern lediglich das gemeinsame Akzeptieren von Richtlinien, von Grundwerten des Zusammenlebens, von denen sich jede pluralistische Gesellschaft leiten lassen sollte, weil sie unerlässlich seien. Dazu gehöre die Anerkennung der Glaubens- und Gewissensfreiheit und der freien Meinungsäusserung sowie die Achtung vor der Person. Wer unter Leitkultur einen generell verordneten Kulturkatechismus verstehe, verletzte die Glaubens- und Gewissensfreiheit. Unbestritten blieb, dass ein so verstandener Begriff der Leitkultur dann unbedenklich ist, wenn er mit der Maxime verbunden wird, dass in allen Zweifelsfällen die Freiheit Vorrang hat.
Inwiefern sind «wir» berechtigt, von «unseren westlichen Werten» zu sprechen? David Hume hat darauf hingewiesen, dass sich der Fortschrittsgrad einer Zivilisation daran messen lasse, wie viele Menschen sich mit einem «Wir» identifizieren. Mehrfach wurde darauf aufmerksam gemacht, dass die weltweite Rezeption von Toleranz, Individualismus, Rechtsstaat und Menschenrechten eigentlich eine Erfolgsstory sei, die sich auch darin spiegle, dass die «westliche Welt» ein begehrtes Immigrationsziel sei. Der Pessimismus der Philosophen, die stets die Neigung haben, einen Zerfall von Werten und eine Zunahme von Rücksichtslosigkeit, Verantwortungslosigkeit, Hedonismus und Egoismus festzustellen, finde empirisch keine Stütze. Historiker und Politologen warnten allerdings vor einer allzu naiven Fortschrittsmythologie. Der Naturzustand des Kampfs aller gegen alle könne sehr schnell und auch unvermittelt wieder hervorbrechen, selbst wenn der Kulturzustand für alle weniger anstrengend und durchaus angenehmer sei. In der Weltgeschichte sei es immer wieder zu katastrophalen Zusammenbrüchen und zivilisatorischen Rückschritten gekommen.
Politik, so wurde festgestellt, werde oft «aus dem Bauch heraus» gemacht, und schon oft seien tolerante Köpfe in Volksabstimmungen von durch und durch intoleranten Bäuchen überstimmt worden.
Wenn heute von «westlichen Werten» die Rede ist, wird fast regelmässig die jüdisch-christliche Tradition angesprochen, die ja geographisch aus dem Nahen Osten stammt. Die Verknüpfung dieser Werte mit dem Toleranzgedanken und der Idee der Menschenrechte hat allerdings in Europa stattgefunden und ist, wie etwas salopp, aber sehr anschaulich formuliert wurde, «auf unserem Mist gewachsen». Immer wieder wurde betont, wir müssten lernen, damit umzugehen, dass unsere Werte nicht überall gleich gewichtet und interpretiert werden. Immerhin werde die Wertediskussion in Europas Zivilgesellschaft erfreulich sachlich geführt, und es gebe fast keine Tabus mehr. Zwischen den USA und Europa existieren aber, wie es sich im Rahmen der Gruppendiskussion und in der Plenardiskussion zeigte, markante Unterschiede. In Europa ist jener Teil der USA, der heute die Politik bestimmt, zu wenig bekannt. Die USA sind nicht mehr ein Hort des Pluralismus und der Toleranz, wobei intrakulturelle Gegensätze oft ebenso gross wie interkulturelle Unterschiede sind.
Dass «unsere westlichen Werte» durchaus verletzlich und verwundbar sind, wurde selbst von den optimistischen Vertretern der Fortschritts- und Robustheitsthese nicht bestritten. Es sei zutreffend, dass – nach einem Satz des deutschen Staatsrechtslehrers Böckenförde – die Demokratie die Voraussetzungen ihres Funktionierens nicht selbst hervorbringen und auch nicht auf die Dauer garantieren könne. Es genügt also nicht, mit Stolz auf jene zurückzublicken, die diese Werte geschaffen und weiterentwickelt haben. Man muss auch bereit sein, dafür zu kämpfen. Ob nur mit den Waffen des Geistes, wie an diesem Kolloquium, oder auch mit andern Mitteln, blieb als Frage offen.