(1) Wenn der Durchblick fehlt…
Je unübersichtlicher die Lage ist, desto inflationärer sind die Lösungsvorschläge. Die Ideologen sind in ihrem Element. Dabei wäre Realismus gefragt. Aber was heisst Realismus?
Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat viele Liberale in ihren Gewissheiten tief verunsichert; sie hat aber noch mehr den Übermut der Staatsgläubigen fast grenzenlos werden lassen. Was müssen sich Liberale doch alles anhören, vom Desaster der marktwirtschaftlichen Ökonomie bis zum Ende des Liberalismus, vom Versagen des Marktes bis zur Jahrhundertkrise des Systems, von der Entlarvung der Fratze des Kapitalismus bis zum endlich fälligen Regimewechsel.
Für die in der Politik und in den Medien dominierende Gruppe der Staatsanbeter ist die Lage klar, das Rezept eine logische Folge daraus: der Markt hat versagt, jetzt kommt der Staat endlich zu seinem Recht, kann der Primat der Politik sich durchsetzen. Für sie ist die Krise die Gelegenheit, jene Ordnungsvorstellung zu verwirklichen, die sie immer für richtig hielten und die nun im politischen Prozess weniger Widerstand findet. Sie sehen der Zukunft freudig entgegen. Nach überstandener Krise wird eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung herrschen, in der Freiheit und Individuum wenig Gewicht haben werden, Staatsapparat und Zwangssolidarität um so mehr.
Ebenso klar ist die Situation für die kleine gesinnungsethische Gruppe der Libertären oder Anarcholiberalen: der Staat hat versagt, er ist an fast allen Übeln dieser Welt schuld, auch an der Krise. Deshalb darf man den Bock nicht zum Gärtner machen, sondern muss das Unvermeidliche geschehen lassen, die Bereinigung der Strukturen, den Zusammenbruch von Banken, den Anstieg der Arbeitslosigkeit, Konkurse von Privaten und Firmen. Daraus wird eine neue, gesündere und nachhaltigere Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung entstehen.
Schwieriger stellt sich die Einschätzung der Situation und erst recht die Rezeptur für jene Liberalen dar, die sich im Dreieck von marktwirtschaftlicher Überzeugung, Verantwortungsethik und Realismus bewegen und überzeugt sind, dass Nichtstun kurz- und mittelfristige ökonomische Folgen hätte, die nicht zu verantworten wären. Diese Liberalen wollen – Stichwort Systemstabilität – verhindern, dass der Zusammenbruch einer Bank die ganze Wirtschaft in den Abgrund zieht, und sie wollen jene Spirale des Misstrauens brechen, die ebenfalls in den Abgrund führen kann. Beide Argumente werden zwar auch von den Staatsanbetern vorgebracht und schamlos missbraucht, doch macht dies die Argumente nicht ungültig. Auch wenn der Vergleich mit der Grossen Depression zumindest teilweise auf Panikmache hinausläuft, bleibt die Krise beängstigend, wobei die politische Dimension der Krise fast noch besorgniserregender ist als die ökonomische. Die sozialistische Hydra, die überall ihr Haupt erhebt und die sich auch in ein national-sozialistisches Ungetüm verwandeln kann, wird man nicht mit einer dogmatischen Radikalposition bekämpfen können, sondern nur, wenn es gelingt, die schlimmsten Folgen früherer Fehlentwicklungen halbwegs schmerzfrei zu überwinden. Und auch möglichen sozialen Unruhen sowie Populismus von Links oder Rechts wird man nicht mit doktrinärer wirtschaftspolitischer Abstinenz die Zähne ziehen können.
Im Gegensatz zu den Libertären messen liberale Realisten die Ideale der Zukunft an den Leiden der Gegenwart; zudem halten sie den Staat zwar für den Hauptverursacher der Krise, aber deswegen als Nothelfer gleichwohl nicht für völlig ungeeignet. Im Gegensatz zu den notorischen Kollektivisten wiederum ist für sie die Aussicht auf mehr Staat als Folge der Bekämpfung der Krise alles andere als erbaulich. Aus diesem Dilemma gibt es keinen Ausweg. Das Leben ist voll solcher Dilemmata. Die Medizin, die zur Vermeidung der totalen Katastrophe verabreicht wird, hat gravierende Nebenwirkungen und wird Langfristschäden verursachen. Deshalb muss das Ja zur Nothilfe, die keinem Liberalen Freude machen kann, die Langfristfolgen dieser Nothilfe stets mitdenken und entsprechend frühzeitig angehen. Es sind mindestens vier solche Langfristfolgen, die es zu erkennen und gegen die es in einem frühen Stadium anzutreten gilt.
Die erste und wichtigste Langfristfolge ist das Ausufern des Staates. Was immer der Staat tut, ob er (Teil-)Verstaatlichungen vornimmt, eine «bad bank» gründet, den Banken billige Kredite gibt, sich für die diversen Programme verschuldet oder Steuern erhöht – sein Umfang wird steigen. Gegensteuer zu geben ist schwierig. Immerhin: bei einer Teilverstaatlichung ist der Weg zurück leichter als bei einer Totalverstaatlichung, Kapitalbeteiligung an einer Bank verlangt nicht unbedingt Mitsprache im Verwaltungsrat, und fiskalpolitische Stimuli können durch saubere Schuldenabbauplanung oder gesetzlich festgelegte Schuldenbremsen etwas in Zaum gehalten werden. Geschieht das nicht, wird mit der Nothilfe der Grundstein für die nächste Blase, ein staatliches Ponzi-System erster Güte, gelegt.
Gerade der Finanzsektor ist jedoch zugleich ein Beispiel dafür, dass man gelegentlich nicht ohne Staatsintervention auskommt und es nur darum gehen kann, wie man diese möglichst sinnvoll gestaltet. So profitieren in praktisch allen reichen Ländern grosse Banken von einer Art impliziter Staatsgarantie. Nicht nur die Manager, auch die Aktionäre und Obligationäre einer Deutschen Bank oder einer UBS wissen, dass ihre Bank «too big to fail» ist. Das führt zu Verzerrungen des Verhaltens, der Preise und der Risikoprämien. Während bei explizitem Staatsschutz diese Garantie in der Regel irgendwie abgegolten wird, schaffen implizite Staatsgarantien eine Rente für die jeweilige Bank. Wenn man im Gefolge der Krise über Reformen nachdenkt, gibt es auf «too big to fail» eigentlich nur zwei – staatliche – Antworten. Die eine ist die Offenlegung der impliziten Garantie, was in extremis auf eine Verstaatlichung hinausläuft. Die andere ist eine Art Wachstumsstop, der verhindert, dass Unternehmen, zumal Banken, in die Dimension «too big to fail» hineinwachsen. Dieser zweite Ausweg ist aus liberaler Sicht der weniger schlechte.
Die zweite Langfristfolge, kaum minder verheerend, ist die Inflation, vielleicht sogar Hyperinflation. Je mehr Vertreter von Zentralbanken und wirtschaftspolitische Regierungsberater behaupten, die bisherige Geldpolitik sei nicht inflationär, desto mehr Zweifel muss die Behauptung wecken. Wenn man, da man bei der Zinspolitik mit Sätzen gegen Null am Ende der Fahnenstange angelangt ist, nun «quantitative easing» – ein Euphemismus für das Bedienen der Notenpresse – betreibt, ist kaum vorstellbar, dass dies nicht zu Inflation führt. Natürlich wirkt sich in einer Phase, in der Unternehmen und Haushalte zu hoher Kassahaltung und zum Horten neigen, die Liquiditätszufuhr der Notenbanken nicht preistreibend aus – weder im Konsum noch bei Vermögenswerten. Aber wenn die Geldpolitik und die anderen Massnahmen zu wirken beginnen, wird sehr wohl Inflationsdruck entstehen. Spätestens in jenem Moment müssten die Notenbanken anfangen, Geld aus dem System herauszunehmen. Das wird indessen politisch fast unmöglich sein; denn nach einer Rezession, die tief und lang ist – zumindest eines von beidem –, werden die Geldbehörden zu hören bekommen, man dürfe doch nicht die ersten Blumen nach dem konjunkturellen Winter abtöten. Vielleicht könnte man diesem Druck etwas entgegenwirken, wenn man schon heute einen klaren Plan für die Rückkehr zur Normalität veröffentlichte. Sonst droht unweigerlich die nächste Blase.
Ein dritte Gefahr ist die Überregulierung. Man kennt das aus früheren Krisen, Enron lässt grüssen: wenn immer etwas schief gelaufen ist, kommt der Ruf nach schärferen Regulierungen. Er ist auch jetzt unüberhörbar. Die neuen Regulierungen lösen dann meist die Probleme der Vergangenheit, während die Probleme der Zukunft im Ungewissen liegen und sich der Regulierung ziemlich entziehen.
Die liberale Position lautet, dass es selbstverständlich Unsinn ist zu argumentieren, der Kapitalismus oder der freie Markt sei mit Regeln und klar definierten Anreizstrukturen nicht kompatibel. Das Gegenteil ist der Fall. Marktwirtschaft bedeutet «freies Spiel von Angebot und Nachfrage innerhalb staatlich gesetzter und konsequent durchgesetzter Rahmenbedingungen». Alles andere ist Nirwana und hat mit der Realität nichts zu tun. Ebenso unbestreitbar dürfte aber sein, dass es sehr wohl Verbesserungsbedarf bei den Regulierungen gibt. Aber Verbesserung heisst nicht zahlreichere und detailliertere, sondern insgesamt eher weniger und einfachere Regeln. Schon gar nicht heisst Verbesserung der Regeln Zentralisierung der Regeln auf internationaler Ebene, wie dies nun die G20 beabsichtigen. Der Wettbewerb der Systeme ist der Schlüssel zur Freiheit wie zur ständigen Suche nach besseren Regeln.
Die Ökonomin Beatrice Weder hat die Forderung nach einfachen Regeln mit einem schönen Bild verdeutlicht. Hintergrund bildet die Forderung vieler Notenbanken nach einer deutlich besseren Eigenmittelausstattung der Banken. Basel II mit seinen detaillierten, risikogewichteten Vorgaben ist gemäss Weder wie ein Radar, der es einem Flugzeug erlaubt, sehr knapp über dem Boden zu fliegen und sich dabei genau an Hügel und Täler anzupassen. So technisch beeindruckend dieses Radarsystem sei, habe es den Nachteil, dass es bei der kleinsten Falscheinstellung des Systems, bei Überraschung oder Unaufmerksamkeit zum Absturz führe. Demgegenüber wirken die geplanten neuen, einfachen leverage ratios (Verschuldungsraten) im Urteil von Weder wie eine Vorschrift, die eine so grosse Flughöhe vorschreibt, dass es nicht so leicht zu einem Aufprall an einem Berg oder Hügel kommen kann. Das zugegebenermassen gröbere Instrument biete also mehr Sicherheit.
In allem, in der staatlichen Schuldenpolitik, in der expansiven Geldpolitik und in der Neigung, möglichst viel zu regulieren, kommt die wirtschaftspolitische Grundhaltung eines ausgeprägten Aktivismus zum Ausdruck. In den letzten Monaten haben sich die Meldungen über alle möglichen Programme der Regierungen zur Rettung des Finanzsystems nur so gehäuft. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht in einem Land ein Hilfspaket, eine Zinssenkung oder eine Verstaatlichung angekündigt wird. Hier wäre, bei allem Verständnis für die Dringlichkeit von Rettungsmassnahmen, weniger vermutlich mehr. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dieser Aktivismus der Regierungen und Notenbanken folge der Devise, es sei – für eine Wiederwahl – besser, erst zu handeln und dann zu denken.
Das Schlusscommuniqué des Londoner G20-Gipfels von Ende März 2009 versucht in erster Linie, durch grosse Zahlen und hohes Tempo zu beeindrucken. Auch das Anfang Februar 2009 vom amerikanischen Finanzminister Timothy Geithner vorgestellte 2000-Mrd.-Dollar-Programm ist von diesem Zuschnitt: astronomisch gross, reichlich vage, wenig durchdacht und ziemlich symptomorientiert. Die Genesis des Vorgängerplans, des sogenannten Paulsen-Plans, zeigt, wie wenig die Hektik bringt: die frühe Ankündigung und der folgende Zickzack-Kurs haben die Unsicherheit nur verstärkt. Tatsache ist, dass in dieser Krise niemand den Durchblick hat, weil sie so aussergewöhnlich ist, dass man die Rezepte nicht aus der Schublade ziehen kann, sondern lange und tief nachdenken müsste, bevor man hoffen könnte, Sinnvolles zu tun.
Mit der Haltung, Nothilfe als notwendiges Übel zu akzeptieren, sie aber auf das wirklich Not-Wendige zu begrenzen, setzt man sich zwischen viele Stühle, ist mithin für die einen zu nachgiebig, für andere zu doktrinär. Tatsache ist jedoch, dass es eine grosse Kunst sein wird, einerseits bei der Verabreichung der äusserst giftigen, abhängigmachenden Medizin besondere Sorgfalt und Vorsicht walten zu lassen, anderseits nach der Genesung beherzt die vielen schädlichen «Nebenwirkungen» und die entstandene Medikamentensucht anzugehen. Von all dem ist bisher wenig bis nichts zu sehen. Gelingt es nicht, die Langfristfolgen der Krisenmedizin frühzeitig zu bekämpfen, werden die Staatsgläubigen triumphieren – und die Liberalen werden mitschuldig sein an diesem Desaster. Die Libertären werden auf ihre Art ebenfalls triumphieren, dass sie immer gewusst hätten, dass man keine Kompromisse eingehen dürfe und dass ihnen das Ergebnis nun Recht gebe.
Trotzdem muss man als Liberaler dieses doppelte Risiko eingehen; denn wenn sich die Krise zu sehr verschärft, werden Freiheit und Offenheit erst recht unter die Räder kommen, und zwar, so steht zu befürchten, auf eine viel ungemütlichere Weise, als sie von den erkennbaren Langfristfolgen der Krisenbekämpfung droht.