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(1) Konkurrenz und Kooperation

Sie sind jeder mehr als halb und doch nicht ganz: Appenzell Ausserrhoden und Innerrhoden. Wenn sich zwei Schwesterkantone zu ähnlich sehen, versuchen beide, anders zu sein als der andere. Das gelingt ihnen nicht immer. Zum Glück.

Zwischen Appenzell Ausserrhoden und Appenzell Innerrhoden verläuft eine Grenze, die ausserhalb der Ostschweiz kaum wahrgenommen wird; man weiss nicht, wo sie verläuft und was durch sie geschieden wird. Früher einmal trennte sie die katholischen von den protestantischen Appenzellern; die fast ausschliesslich landwirtschaftlich und handwerklich orientierten von den früh industrialisierten; die konservativen von den freisinnigen. Sie trennte Ähnliches und zugleich markant Unterschiedliches, zwei Halbkantone, die seit der Trennung 1597 Rücken an Rücken gelebt und sich manchmal aneinander gerieben haben.

Heute trennt die Grenze zwei Kantone, die je über nur einen Ständeratssitz verfügen, ansonsten aber nicht mehr nur halb sein wollen; die trotzdem nur je ein Teil des Ganzen sind; die miteinander in Wettbewerb stehen, aber unter dem gleichen Markennamen agieren; die unterschiedlich mit ihrer Tradition umgehen; zwei Kantone, von denen nur noch einer eine Kantonalbank besitzt und seine politischen Geschäfte an der Landsgemeinde regelt; der andere ist durch den Verlust der Bank – den Notverkauf an die damalige Bankgesellschaft im Jahre 1996 – in eine Vertrauenskrise gestürzt, die ihrerseits wohl kurz darauf zur Abschaffung der Landsgemeinde beitrug. Noch immer trennt also die Kantonsgrenze Ähnliches und zugleich markant Unterschiedliches.

Mit einem Konkurrenzkampf unter Geschwistern vergleicht der Komponist und Musiker Steff Signer («Infra Steff») die innerappenzellischen Beziehungen; man sei sich zwar tatsächlich ähnlich, suche und betone aber gerade deshalb die Unterschiede. Und bei genauem Hinsehen offenbarten sich diese als riesig. «Wir sind in Ausserrhoden inzwischen so liberal und aufgeklärt, dass wir keinen Glauben mehr haben an die Tradition», sagt Signer, der nahe der Kantonsgrenze beim «Hargarten» aufgewachsen ist. «Ausserrhoden ist so mit der Erneuerung und Modernisierung beschäftigt, dass die Zeit fehlt, zurückzulehnen und über das eigene Herkommen nachzusinnen.»

Als Künstler beeindruckt ihn das Spannungsverhältnis zwischen Gut und Böse, Himmel und Hölle, Gott und Teufel, dessen man sich in manchen katholischen Regionen und gerade auch im Innerrhodischen noch bewusst sei; dieses Bewusstsein fördere die Kreativität, erhöhe indirekt also sogar die Bereitschaft zu Neuerungen. Als Beispiele erwähnt Steff Signer den nicht mit ihm verwandten Innerrhoder Künstler Roman Signer, der in seiner Heimat wohl umstritten, inzwischen aber zu Weltruhm gelangt sei, und die Unternehmerin Gabriela Manser, die der Innerrhoder Mineralquelle Gontenbad mit originellen Produkten und entsprechendem Marketing zu neuer Blüte verholfen habe. Häufig offenbare sich ein Zusammenhang zwischen wirtschaftlichem oder künstlerischem Erfolg und einem Bewusstsein für die eigene Herkunft.

Steff Signer ist nicht der einzige Ausserrhoder, der seinen Blick nach Innerrhoden richtet und beeindruckt ist von dessen Mischung aus Tradition und Fortschrittlichkeit: «Appenzeller mussten schon immer Grenzen überschreiten, wenn sie weiterkommen wollten», sagt Signer. Jetzt gilt dies wohl auch für die innerappenzellische Grenze.

«Appenzell» ist eine bekannte, gut eingeführte Marke, deren Aufbau Jahrhunderte gedauert hat und die immer schon beide Halbkantone um-

fasste. Bereits die blosse Nennung weckt unzählige Assoziationen und Sehnsüchte: Natur, Gesundheit, Originalität, Selbstbewusstsein, Lebensfreude, Witz, Harmonie, Tief- und Hintersinn. Noch in weitentfernten Gegenden weiss man, wer oder was die Appenzeller sind: eigenständige, feinfühlige, freiheitsliebende, musikalische Voralpenbewohner mit Charakterköpfen. «Selten trifft man auf Reisen so aufgeschlossene Menschen, so heimatverbundene und traditionsbewusste», schrieb kürzlich beispielsweise die «Berliner Zeitung» auf ihrer Reiseseite: «Uraltes Brauchtum wird tatsächlich im Alltag gelebt, ehrbares Handwerk gepflegt, und gern lässt man den Gast daran teilhaben.»

Der Reporter aus Deutschland wurde offensichtlich gut betreut, und zwar in Ausserrhoden ebenso wie in Innerrhoden; denn er erwähnt als beispielhafte Besonderheiten unter anderem die Ausserrhoder Naturärzte und die Innerrhoder Bierbrauerfamilie Locher mit ihrem Faible für Spezialitäten. Ausserrhoden profitiert mit, wenn Innerrhoder Unternehmen Produkte kreieren, die als sympathisch und exklusiv gelten und den Markennamen «Appenzell» in die Welt tragen.

Lob, sei es für die lebendige Tradition oder die dynamische Modernisierung, liest und hört man im Appenzellerland gern, aber man ist es schon seit dem 18. Jahrhundert gewohnt, als laut dem verstorbenen Appenzeller Historiker und Germanisten Peter Fässler in literarischen Kreisen eine Appenzell-Begeisterung um sich griff, eine Sehnsucht nach dem Reinen und Echten, nach Freiheit und Kühnheit, die man im Appenzellischen zu finden hoffte.

Über das Appenzeller Volk schrieb der Zürcher Literat Johann Jakob Bodmer 1747: «Es hält so eifrig auf die Rechte der Freyheit, / Dass selbst sein Freund es übel mit ihm verderbte, / Der eine Bürd’ ihm ungebeten vom Naken / Zu wälzen gedächte. – Hier schämet sich der Mensch noch nicht vor dem Menschen, / Und hat noch nicht gelernt sein Hertz zu verbergen, / Hier zeigt sich das Bedürftniss und das Gefühle / Des menschlichen Herzens.» Peter Fässler sah in dieser Ode eine der Stiftungsurkunden des Appenzell-Lobs. Dieses zog in der Folge immer weitere Kreise. Vor allem der appenzellische Sinn für Humor wird immer wieder erwähnt. «Die Lust, alles Unechte, Wichtigtuerische, Bonzenhafte mit untrüglicher Witternase aufzuspüren und mit schonungsloser Rücksichtslosigkeit anzugreifen, ist echt appenzellisch», schrieb der Ausserrhoder Sekundarlehrer Walter Zuberbühler in seinem Essay zum ersten Bildband des Fotografen und einstigen Nationalrats Herbert Maeder. Und weiter: «Jedermann anerkennt die reinigende, im wahrsten Sinne richtende Kraft des Scherzes, Spottes und Witzes, nicht ohne einen Anflug von Schadenfreude, die auch im Appenzellischen die reinste aller Freuden ist.»

Aber Zuberbühler diagnostizierte in seinem 1956 publizierten Text nicht nur einen «hellwachen Sinn für Komik»: «Sei auf der Hut», warnte er allzu Begeisterte. «Dein Liebling, das geschwätzige Witzboldchen, könnte sich als ein erschreckend humorloser Gassen- oder Wirtshauslächler entpuppen, grossartig aufgeräumt vor der Flasche, wenn das Kollektiv und der Wein seine Verkrampfung für eine Stunde gelöst, furchtbar nüchtern und kleinlich und rücksichtslos im Alltag, empfindlich wie eine Mimose, die geringste Verletzung seiner Eitelkeit blutigernst nehmend.»

Auch Jacques Benz, ausgewanderter Appenzeller, der in Lausanne Direktor einer Papierfabrik war und heute den Ruhestand im Tessin geniesst, sprach 1988 von einem grossen Trugschluss: «Tatsächlich gifteln viele Appenzeller sehr gern. Aber beim Mitgifteln Dritter können sie sehr viel weniger ‹verliide› als andere.»

Es ist wohl nötig, dass einzelne Appenzeller ob des fortdauernden Lobs zur Selbstkritik ansetzen. Aus unterschiedlichen Gründen nagt leiser Zweifel, nicht alle positiven Klischees möchten berechtigt sein, an der appenzellischen Selbstwahrnehmung. Zahlreiche Ausserrhoder Gemeinden sind dem Trend zur Vervorstädterung unterworfen und inzwischen Teil der Agglomeration St. Gallen geworden. Der Hügellandschaft droht durch die zunehmende Zersiedelung augenscheinlich die Banalisierung. Aber eben, zu viel Selbstkritik ist auch nicht gut, und so schliesst man, solche Trends seien kennzeichnend für die ganze Schweiz: was Raumplaner als Siedlungsbrei bezeichnen, dehnt sich ungebremst aus, kriecht in die Täler und erklettert exponierte Hanglagen.

Vieles könnte man im Bereich des Bauens wohl viel besser machen. Vielleicht brauchte es dazu nur mehr Selbstvertrauen. Oder mehr von dem, was der Innerrhoder Goldschmied Sebastian Fässler an den Tag legt. In ungewohnter Weise verbindet er Stolz und Selbstbewusstsein mit Bescheidenheit und Demut. Er pflegt die Tradition, aber in einem dialektischen Sinn: «Zur Tradition gehört nicht nur, dass man am Überlieferten festhält», sagt er, «das ist nur die eine Seite der Medaille, die andere ist, dass man früh genug merkt, wenn man etwas anders machen kann und muss.» Es geht darum, die Grundsätze zu pflegen, die Liebe zum Handwerk, zur Idee. «Dann kann man ganz viel ganz anders machen.»

Sebastian Fässler hat von seinem verstorbenen Vater Emil viel handwerkliches Wissen und Können übernommen – und wohl auch die Offenheit gegenüber Neuem; er stellt weiterhin traditionellen appenzellischen Schmuck her, den er sachte und zurückhaltend verändert, entwirft aber auch Zeitgenössisches und Modisches für die Zürcher Boutique «En Soie». Er sei «ein langsamer Mensch», überlege lange, studiere, bis es «im Kopf stimmt». Es sei Geduld nötig. – Beschreibt Fässler so den kreativen Prozess? «Dem sagt man heute vielleicht so. Ich sage: du musst schwanger werden mit einer Idee, sie in dir austragen, mit ihr wachsen.»

Fässler sieht sich nicht als Designer – «vor grossen Designern habe ich grossen Respekt» –, sondern als Handwerker mit der Ambition, schöne Sachen zu entwerfen: «Ich zeichne, was ich gerne sehe. Ganz wenig kommt aus mir selber. Meistens beeinflusst mich etwas, das mich beeindruckt.» Vorbild sind ihm die unzähligen namenlosen Appenzeller Stickereizeichner, deren Entwürfe in der St. Galler Textilbibliothek lagern und die einen grossen Beitrag zur Mode des 20. Jahrhunderts geleistet hätten.

Die Appenzeller, weiss auch Fässler, mussten schon immer weggehen, wenn sie etwas erreichen wollten: «Sie sahen früh, dass die Märkte nicht hier sind, und dass man eben zu den Märkten gehen muss.» Das sei einfacher, wenn man wisse, wohin man gehöre, woher man komme; denn dann wisse man auch, das man etwas beizutragen habe. «Du bist nicht global, nur weil du in wenigen Tagen um die Welt reisen kannst. Global bist du, wenn du das Eigene mit Stolz in dir trägst. Das, was man heute Globalisieren nennt, ist doch ein Geplänkel. Bevor du globalisieren kannst, musst du den eigenen Sachen nachgehen. Dafür brauchst du Zeit. Das kannst du nicht kaufen und nicht herunterladen.»

Im Netz herunterladen kann man aber beispielsweise eine Anzeige, die der Kanton Appenzell Ausserrhoden geschaltet hat. Finanzdirektor Köbi Frei (SVP) – zweifellos ein pfiffiger Appenzeller auch er – informiert darin über die Ausserrhoder Steuerpolitik: «Wir haben vier Veranstaltungen in Zürich, zwei in Deutschland und eine in Herisau durchgeführt. Bei allen Anlässen waren die Stühle bis auf den letzen Platz besetzt. Daraus lässt sich schliessen, dass das Interesse an der tiefen Ausserrhoder Gewinnbesteuerung bei Treuhändern, Banken und Unternehmern sehr gross ist.» Die gute Nachricht, die Frei zu verbreiten wünscht: «Mit nur 6 Prozent kantonaler Gewinnsteuer nimmt Appenzell Ausserrhoden nicht nur in der Schweiz, sondern auch in Europa eine führende Position ein.» Und Frei – auch darin Appenzeller – gibt sich bescheiden und dialogbereit: «Selbstverständlich gibt es kritische Stimmen zu unserer Steuerpolitik. Auch wenn diese in der Minderheit sind, nehmen wir diese Stimmen wahr. Sie helfen uns, noch bessere Politik zu machen. Unser Kanton ist schuldenfrei und besitzt ein beachtliches Polster an Eigenkapital.»

Schuldenfrei ist auch Innerrhoden, erfährt man ebenfalls im Internet, und dies, obwohl die Steuerbelastung für natürliche Personen wie auch für Kapitalgesellschaften mehrmals erheblich gesenkt worden sei. Dies ist der moderne Standortwettbewerb. Den tragen die Appenzeller getrennt aus; da gleichen sich die schlauen Appenzeller ganz und gar.

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(2) «Wir haben einen Sympathiebonus»

Robert Nef im Gespräch mit Marianne Kleiner Von aussen wird das Appenzellerland mehr von seiner traditionellen Seite wahrgenommen. Tatsächlich haben die kleinen Gemeinschaften nur überlebt, weil sie sich immer wieder an neue Situationen angepasst haben, ohne ihre Eigenheiten aufzugeben. Gedankenaustausch zweier Appenzeller über ihren Heimatkanton.

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