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(1) Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt

Mit ausufernden Präventionsmassnahmen nimmt der Staat Einfluss auf eine unbotmässige Jugend und damit auch auf die Familien. Ziel ist der sozialverträgliche Staatsbürger. Die unangenehme Nebenwirkung: je grösser der Anpassungsdruck, desto häufiger kommt es zu Störfällen.

Im Winter letzten Jahres versammelten sich die Gesundheitsminister der EU-Mitgliedstaaten im baden-württembergischen Badenweiler. Es galt, wichtige Beschlüsse zu fassen – vor allem im Hinblick auf das Essen. Nicht etwa das Essen der Konferenzteilnehmer, sondern vielmehr jenes der EU-Bürger. Denn die EU hat der Fettleibigkeit den politischen Kampf angesagt. Dieser Kampf manifestierte sich in einem ehrgeizigen Dreijahresplan: «Ziel sei es, dass sich bis zum Jahre 2010 zehn Prozent mehr Menschen in der EU eine halbe Stunde am Tag sportlich betätigen. Ausserdem soll erreicht werden, dass 20 Prozent der Menschen täglich fünf Portionen Obst und Gemüse essen. Zudem sollen 30 Prozent mehr Gemeinschaftseinrichtungen wie Kindergärten, Schulen, Kantinen und Seniorenheime gesunde Mahlzeiten anbieten.» Aufklärung in Ernährungsfragen ist zwar schön und gut, aber braucht es dafür solche Vorgaben? Die EU auf dem Weg zur Vitamin-Pflicht. Mahlzeit.

Der öffentliche Kampf gegen den Speckbauch macht auch an den Grenzen der Schweiz nicht halt. So berichtete Martin Büechi vom Bundesamt für Gesundheit, anlässlich der 5. Ideenmesse, von den Präventions- und Aufklärungsmassnahmen der Schweizer Bundesregierung. Im Mittelpunkt stehen dort aktuell neben der Krebsprävention vor allem die Herz-Kreislauf-Systeme der Schweizerinnen und Schweizer. Es gelte, die «Gesundheitskompetenz» der Bürger zu stärken – die Leistungsfähigkeit der Gesellschaft sei ja ein öffentliches Anliegen. Massiv übergewichtige Bürger tragen demnach nicht nur weniger energisch zum Bruttosozialprodukt bei; vor allem fallen sie zusätzlich den Gesundheitssystemen zur Last.

Büechi wies auch darauf hin, dass Übergewicht besonders in sozial schwachen und bildungsfernen Schichten zu beobachten sei. Schnell herrschte unter den Teilnehmern der Veranstaltung daher Einigkeit, dass Gewicht und Gesundheit nicht einfach den Betroffenen überlassen werden könnten. Dank kollektiver Gesundheits- und Invaliditätsvorsorge ist der Bauch im modernen Wohlfahrtsstaat schlicht keine Privatsache mehr. Möglichst früh habe heute der Staat einzugreifen und für einen umsichtigen Umgang mit dem eigenen Körper zu sorgen. Wenn also schon die Eltern den Kindern die Süssigkeiten nicht mehr verbieten, so müsse dies zumindest im schulischen Sportunterricht kompensiert werden. Das feministische «Mein Bauch gehört mir!» hat sich überlebt.

Doch nicht nur die Essgewohnheiten der Jugend geben Anlass zur Sorge. Auch die Jugendgewalt und -kriminalität beschäftigt die Schweizer Behörden. Im Rahmen der Ideenmesse berichtete der Jugendstaatsanwalt Marcel Riesen von der steigenden Zahl verurteilter Jugendlicher. Ein neuartiges Freizeitverhalten, eine veränderte Jugendkultur, eine zunehmende Bedeutung von peer groups und ein Kontrollverlust der Eltern könnten die Jugendkriminalität befördern. Wiederum wird den Eltern ein schlechtes Zeugnis ausgestellt – mangelndes Interesse am eigenen Nachwuchs, Überforderung, Defizite in der Sozialkompetenz. Kein Wunder, dass die Sprösslinge bereits im Kindergarten sozial auffällig werden.

Angesichts dessen ist die Verantwortung der öffentlichen Hand für Ordnung und innere Sicherheit evident. Eine umfassende Schulpflicht, ja eine Ausweitung auf eine möglichst früh einsetzende Ganztagesbetreuung erlaubt ein rechtzeitiges Einwirken auf Kinder aus prekären Haushalten. Eine intensive Betreuung durch Sozialarbeit, während und nach der Unterrichtszeit, erlaubt es dem Gemeinwesen, Einfluss auf die Entwicklung der Kinder zu nehmen. Der Sozialarbeiter Franz Kohler warnte eindringlich vor einem Gefühl der Perspektiv- und Nutzlosigkeit unter vielen Jugendlichen. Dieses Gefühl sei oft der Beginn dessen, was später in sozial unverträgliches Verhalten münde.

So lässt sich ein Muster im öffentlichen Umgang mit den Taten und Untaten der heutigen Jugend erkennen. Das sozial auffällige Verhalten der Individuen wird immer mehr zu einer Belastung für die Allgemeinheit. Ein nachlässiger Umgang mit dem eigenen Körper verkürzt heute nicht mehr nur das eigene Leben – es belastet auch die Geldbeutel der Nachbarn, ja aller Steuerzahler. Auch der Taschendiebstahl oder die Schlägerei im nächtlichen Park verärgert nicht mehr nur die Beteiligten – sie beschäftigen das Polizei-, Justiz- und Bildungswesen bis hin zu den Sozialbehörden.

Dabei verspricht der Wohlfahrtsstaat mit seinen zentralisierten Systemen kollektiver Sicherung dem Bürger vordergründig eine Entlastung von scheinbar überwältigenden persönlichen Verantwortlichkeiten. Herausforderungen wie die Gesundheit, der Drogenkonsum, die Kriminalität oder auch nur die Ausbildung der Jugend machen jedoch schnell sichtbar: in Wahrheit ersetzt der Wohlfahrtsstaat die persönliche Verantwortung nur durch eine diffuse wechselseitige Abhängigkeit. Jeder fühlt sich betroffen von dem, was ein anderer tut. Deshalb glaubt jeder, ein Recht zu haben, dem anderen vorzuschreiben, was er zu tun und zu lassen hat.

Derart interdependente Systeme kollektiver Sicherung können sich nun nicht mehr am subjektiven Wohl vielfältiger Individuen orientieren – sie sind dem angeblichen «Gemeinwohl» verpflichtet. Das Gemeinwohl dient als gemeinsamer Nenner der Ausrichtung und Steuerung kollektiver Verantwortungssysteme. Ihm haben sich individuelle Wünsche und Präferenzen unterzuordnen. Oberste Maxime im modernen Wohlfahrtsstaat sind dabei Sicherung und der Fortbestand der kollektiven Verantwortungssysteme.

Vor dem Hintergrund dieser Orientierung lässt sich die öffentliche Reaktion auf die Entwicklungen und Taten der Jugend einordnen. Der fette Bub stellt ebenso eine Belastung der Verantwortungsgemeinschaft dar wie das rauchende Mädchen. Das Individuum wird zum potentiellen Störfall der kollektiven Sicherungssysteme. Wobei gilt: je umfassender die Sicherungssysteme, desto anfälliger werden sie auf Störfälle in ihren Elementen, den Bürgern.

Daher kann die öffentliche Hand nicht abseitsstehen, wenn sich fastfoodverschlingende und bottelónfeiernde Halbwüchsige verlustieren. Das individuelle Vergnügen stellt eine Gefährdung unzähliger «öffentlicher Güter» dar – der öffentlichen Sicherheit, Ordnung und Gesundheit, nicht zuletzt auch der Wirtschaftskraft. Das Individuum muss rechtzeitig zum sozialverträglichen Wohlfahrtsstaatsbürger erzogen werden. Und welche Institution eignet sich besser für diese Aufgabe als die Staatsschule?

Die Familie wird daher im Wohlfahrtsstaat zur subsidiären Erziehungsinstitution. Das Funktionieren der Bürger kann nicht mehr den unkalkulierbaren Vorstellungen verschiedenster Elternhäuser überlassen bleiben. Die Sozialisation des Individuums im Sinne des Einfügens in die Systeme kollektiver Sicherung wird zur eminenten Staatsaufgabe. Die öffentliche Hand stützt sich dabei auf Kosten-Nutzen-Kalkulationen in Hinblick auf ihre Bürger: je erfolgreicher die frühzeitige Erziehung des Wohlfahrtsstaatsbürgers, desto höher die Einsparungen bei andernfalls erforderlichen späteren Korrekturmassnahmen. Folgerichtig zeigte sich auch der Heilpädagoge Andrea Lanfranchi überzeugt, dass eine fundierte Erziehung schon im Kindergarten, vor allem von Kindern aus prekären Haushalten, der öffentlichen Hand beträchtliche Summen ersparen könnte.

In der politischen Debatte stellen Kinder damit heute ein öffentliches Gut dar. Ein Gut, das einen return on investment erwirtschaften kann und soll. Und die Verantwortung für dieses öffentliche Gut fällt dem Staate zu. Die aktuell diskutierte interkantonale Vereinbarung über die Harmonisierung der obligatorischen Schule «HarmoS» dokumentiert diese Entwicklung. Danach soll die allgemeine Schulpflicht auf Basis der flächendeckenden Bereitstellung öffentlicher Schulen schon auf Vierjährige angewandt werden. Die Schulkinder sollen in ihren Schulen in den Genuss einer Ganztagesbetreuung kommen. Ja mehr noch, zunehmend sieht sich der Staat in der Verantwortung, Kinderkrippen bereitzustellen. Das öffentliche Schulwesen stellt so eine staatliche Betreuung und Formung der Kinder ab Geburt bis zur Volljährigkeit sicher.

Die in der öffentlichen Verantwortung für Erziehung und Sozialisation erkennbare Interventionsspirale ist selbstverständlich nicht auf das öffentliche Gut «Kind» beschränkt. Abhängig von den Ausmassen und der Verbreitung des Wohlfahrtsstaates, greift sie auf unzählige weitere Lebensbereiche. Wo immer ein Gemeinwohl entdeckt, ein öffentliches Gut definiert wurde, eskaliert die Verantwortung des Kollektivs für das Individuum. Staatsphilosophisch gesehen, stellt das Gemeinwohl damit heute die nicht zu bestreitende Legitimation staatlichen Handelns dar. Das individuelle Wohl wird dem Gemeinwohl systematisch untergeordnet.

Martin Büechi vom Bundesamt für Gesundheit versicherte dabei glaubwürdig: die Verwaltung handelt in ihren Aufklärungs- und Erziehungsmassnahmen nicht aus blosser Begeisterung oder Überzeugung. Sie ist nicht in der Lage, sich selbst ein Mandat zu erteilen – die Verwaltung handelt stets nur auf öffentlichen Auftrag. In der Demokratie wird dieser Auftrag, das «Gemeinwohl», durch die Repräsentanten einer Mehrheit der Wähler definiert. Der Wahlakt definiert also jene Ziele, denen sich das Individuum aktuell unterzuordnen hat. Er schreibt die Programme, die den Staatsbürgern von klein auf eingeprägt werden sollen.

Wie Lehrer, Sozialarbeiter und Rektoren bestätigen können, findet sich die Schule damit in einer zunehmend undankbaren Lage. Das Programmieren funktionstüchtiger und sozialverträglicher Wohlfahrtsstaatsbürger stellt keine geringe Herausforderung dar. Insbesondere deshalb, weil der politische Prozess jeden Tag neue Probleme und Gefährdungen des Gemeinwohls entdeckt, die durch frühzeitige erzieherische Prävention in Elementarschule oder gar Kindergarten zu beheben sind. Wie lässt sich schon erkennen, welchen kollektiven Herausforderungen der Zukunft ein heute Vierjähriger anzupassen ist? Wer etwa hätte vor 20 Jahren schon geahnt, dass der sozialverträgliche Wohlfahrtsstaatsbürger heute CO2-neutral zu funktionieren hat? Wer kann versichern, dass auch in 10 Jahren noch die Fettleibigkeit eine Herausforderung unserer Sozialordnung darstellen wird?

Im Umgang mit der Jugend scheitert die Schule damit heute auf zweierlei Ebenen: sie scheitert als Mittel der Durchsetzung kollektiver politischer Programme. Sie scheitert jedoch unweigerlich auch als Mittel der Verfolgung undefinierbarer Ziele. Margaret Thatcher sorgte einst mit einer ketzerischen Aussage für Furore: «There is no such thing as society. There are individual men and women, and there are families. And no government can do anything except through people, and people must look to themselves first. It’s our duty to look after ourselves and then, also to look after our neighbour.» In anderen Worten: mein Wohl ist nicht dein Wohl – das Gemeinwohl als Grundpfeiler der modernen Wohlfahrtsstaaten und ihrer Systeme kollektiver Verantwortung entpuppt sich als Chimäre. Ein undefinierbares Ziel lässt sich jedoch mit keinem Mittel erreichen – auch nicht demjenigen der schulischen Prävention.

Mindestens so schwer wiegt jedoch die Tatsache, dass die Bedürfnisse, Wünsche und Ziele der Kinder und Jugendlichen so bunt und vielfältig sind wie die der Staatsbürger. «One size fits all» ist daher das Gegenteil einer erfolgversprechenden Bildungspolitik. Die Schule ist nicht der geeignete Ort für die Verfolgung kollektiver politischer Ziele (ob definierbarer oder undefinierbarer). Die Harmonisierung der Sozialisation ist eine Holzhammermethode – sie gleicht dem Versuch, Zahnstocher mit einer Kettensäge zu schnitzen. Ein angemessener und zukunftstauglicher Umgang mit den Herausforderungen der Kinder und Jugendlichen muss vor allem anderen ihre Individualität begreifen und anerkennen. Andernfalls sind die zitierten Gefühle der Perspektiv- und Nutzlosigkeit unvermeidbar.

Jedes Kind sieht sich mit spezifischen Bedingungen, Problemen und auch Möglichkeiten konfrontiert. Jedem Kind ist daher eine andere individuelle Erziehung und Sozialisation angemessen. Eine vielfältige, nonzentrale Institution wie die Familie ist dieser – eben nicht kollektiven, sondern individuellen – Aufgabe eher gewachsen als eine vereinheitlichte Staatsschule. Wenn nun aber eine vielfältige, dynamische, kreative, manchmal auch chaotische und verschlungene Entwicklung individueller Biographien unsere wohlfahrtsstaatlichen Systeme kollektiver Verantwortung belastet und destabilisiert, dann erweisen sich diese Systeme als untauglich – und nicht etwa die Kinder und Jugendlichen. In Frage gestellt werden muss daher schon die Prämisse des zunehmenden Präventions-, Aufklärungs- und Erziehungswahns: nicht der Mensch ist den öffentlichen Systemen anzupassen, sondern die öffentlichen Systeme dem Menschen.

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