Wir brauchen Ihre Unterstützung — Jetzt Mitglied werden! Weitere Infos

(1) Gegen die Jagd auf Sündenböcke

Nachträgliche Besserwisserei, die Verwechslung des Teils mit dem Ganzen und eine Fehleinschätzung des Verhältnisses von Tun und Unterlassen sind jene verhängnisvollen Denkmuster, die jedes Scheitern mit Schuld verknüpfen und die vorurteilsfreie Analyse durch eine Jagd auf Sündenböcke ersetzen.

Offene, wettbewerbliche Wirtschaftsordnungen sind so komplex, dass sie nicht prognostizierbar, nicht durchschaubar und nicht steuerbar sind. Sie gleichen biologischen Systemen, beispielsweise Biotopen, eher als Maschinen, und seien diese noch so kompliziert. Damit hat eine Mehrheit der Menschen Mühe, und dies wiederum erklärt einen guten Teil der Missverständnisse und Vorurteile, mit denen die Marktwirtschaft in der Öffentlichkeit konfrontiert ist. Gerade in der heutigen Zeit, in der der Glaube an die Machbarkeit und Steuerbarkeit von fast allem – der Gesundheit, der Fortpflanzung, der menschlichen Psyche, der zwischenmenschlichen Beziehungen, der Natur insgesamt – den Glauben an Dinge jenseits der Rationalität weitgehend ersetzt und damit so altmodische Konzepte wie Demut und intellektuelle Bescheidenheit verdrängt hat, will es den meisten Menschen nicht so richtig einleuchten, dass sich etwas so Profanes wie die Wirtschaft jeder konstruktivistischen Rationalität entzieht.

Die Wirtschaft ist kein mechanistisches Räderwerk. Sie ist ein Ergebnis der Evolution, also eines permanenten Suchprozesses, in dem Versuch und Irrtum, Anpassung und Selektion eine entscheidende Rolle spielen. Sie ist voll von Irrläufern. Wer die Wettbewerbswirtschaft als eine solche Ordnung der ständigen Suche nach dem Besseren versteht, wird also den Niedergang von Firmen, wird Konkurse, ja ganz allgemein jedes wirtschaftliche Scheitern als zwingendes Pendant zu Unternehmensgründungen, zum Wachstum und zum Erfolg tout court verstehen. Und er wird vor diesem Hintergrund drei häufigen Denkmu-stern widerstehen, die scheinbar naheliegen und daher weitverbreitet sind, die aber der Rolle des Scheiterns in der Marktwirtschaft in keiner Weise gerecht werden. Wo immer in den letzten Jahren bei Unternehmen etwas schief gelaufen ist und sich öffentliche – oder zum Teil auch nur veröffentlichte – Empörung breitgemacht hat, nicht zuletzt auch im Fall Swissair, der in seinen grundsätzlichen Dimensionen die folgenden Überlegungen inspiriert hat, waren diese drei verhängnisvollen Denkmuster anzutreffen, zum Teil einzeln, meist aber als ganzes Paket. Gemeint sind die Verwechslung von ex post und ex ante, die zu partielle Analyse des Geschehens und die Verwechslung von professionellem Versagen mit moralischer Schuld.

Das erste Denkmuster entspricht der Volksweisheit «Im Nachhinein ist man immer klüger». Das wird im allgemeinen auch nicht angezweifelt, aber wenn es um Unternehmen und ihre Führung geht, scheint es vergessen zu gehen. Fast immer, wenn Firmen schlecht laufen oder gar untergehen, hört man, dass die hochbezahlten Manager es doch hätten besser wissen müssen. Man erwartet von ihnen etwa, dass sie den Markt stets richtig einschätzen und dass rechtzeitig für Unvorhersehbares genügend Reserven geäufnet werden. Wenn allerdings nichts Überraschendes passiert, erfolgt von der gleichen Seite schnell einmal der Vorwurf, man habe zu viele Mittel auf der hohen Kante.

Die nachträgliche Besserwisserei ist jedoch nicht nur deswegen nicht sachgerecht, weil sie eben von einem anderen Wissensstand ausgeht, sondern auch, weil ihr der einheitliche und verlässliche Massstab fehlt. Einmal wird, etwas gar simpel, der Verlust hier mit dem Gewinn dort verglichen. Dabei kann ein kleiner Verlust am einen Ort unter Umständen die grössere Managementleistung darstellen als ein relativ hoher Gewinn am anderen Ort.

Gelegentlich wird ein erfolgreicher Konkurrent zum Vergleich herangezogen, der doch in der gleichen Situation gewesen sei und es offenbar auch «wissen» konnte; dabei hat dieser Konkurrent ex ante vielleicht genau gleich viel riskiert wie das weniger erfolgreiche Unternehmen, er hat auf «schwarz» gesetzt, der andere auf «rot». Die Kugel hätte ebenso gut anders rollen können.

Ein anderes Mal wird – etwas korrekter – der Durchschnitt einer Branche oder der Wirtschaft insgesamt als Massstab genommen, was aber insofern problematisch ist, als bei einer normalen Verteilung ja immer nur rund die Hälfte über dem Durchschnitt liegen kann, die andere Hälfte muss notgedrungen darunter liegen. Wieder ein anderes Mal wird darüber spekuliert, wie es gewesen wäre, wenn das Unternehmen ganz anders operiert und – aus heutiger Sicht – alles richtig gemacht hätte. Abgesehen davon, dass man eben kaum alles richtig machen kann, berücksichtigt diese virtuelle Messung meist nicht, dass sich in einem solchen Fall wohl auch die Umwelt anders verhalten hätte und dass damit auch die andere Strategie vielleicht nicht aufgegangen wäre.

Als Variante dieses «Was wäre gewesen, wenn …?»-Spiels wird manchmal auch die blosse Fortführung des anfänglich Bestehenden der gescheiterten Strategie entgegengehalten – auch dies eine in einem dynamischen Umfeld in der Regel wenig realistische Alternative. Ein typisches Beispiel für diese verschiedenen Argumentationsmuster ist die «Erfolgskontrolle» von Fusionen. Sind Fusionen etwa ein Misserfolg, weil die Fusionspartner nach der Fusion schlechter dastehen als zuvor? Nicht unbedingt, weil sie sich ja ohne Fusion vielleicht noch schlechter entwickelt hätten. Und genauso gilt, dass, sofern fusionierte Firmen sich generell schlechter entwickeln als nicht fusionierte, dies auch mit Selektion zu tun haben könnte, dass also Firmen, die nicht fusionieren, darauf vielleicht aus Stärke verzichten können – und dass sie genau wegen dieser Stärke weiterhin besser abschneiden, und nicht, weil sie allein geblieben sind.

Gelegentlich wehrt sich ein Kritiker von Managementleistungen gegen den Vorwurf der nachträglichen Besserwisserei damit, dass er es eben immer schon gesagt habe, schon ganz früh. Damit ist für ihn gewissermassen hieb- und stichfest bewiesen, dass «man» es auch im voraus, ex ante, wissen konnte, da es ja sogar er, der unbedarfte Kritiker, «wusste». Doch «gewusst» hat er es eben nicht, weil die Zukunft immer offen und unvorhersehbar ist. Meist gibt es mindestens so viele andere, die im voraus etwas anderes zu «wissen» glauben. Erst wenn die Zukunft zur Gegenwart wird, wandelt sich das risikobehaftete Wetten auf die Zukunft in wirkliches Wissen.

Neben der nachträglichen Besserwisserei gibt es einen zweiten Denkfehler, der zum Keulenschwingen gegen das Scheitern führt. Es geht um jene selektive Wahrnehmung, die zur Partialanalyse führt und den Teil mit dem Ganzen verwechselt. Immer wieder begegnet man einer völlig punktuellen Argumentation nach dem Muster «Wenn sie diese Firma nicht gekauft, dort schneller gehandelt oder dort besser verhandelt hätten, wäre alles ganz anders gekommen». Der Komplexität der Wirtschaft und selbst von Teilmärkten werden solche – letztlich monokausalen – Aussagen in keiner Weise gerecht. Es mag noch halbwegs abschätzbar sein, dass der Kaufpreis für ein übernommenes Unternehmen «zu hoch» ist. Doch nur schon die Frage, was wäre, wenn der Konkurrent die Firma übernommen hätte, wird meistens nicht oder nur summarisch beantwortet.

Solche Partialanalysen missachten eine der wichtigsten Einsichten der Ökonomie, dass nämlich alles Tun nicht nur direkte Kosten, sondern auch Verzichtskosten hat, sogenannte Opportunitätskosten. Und diese Opportunitätskosten sind in komplexen Systemen oft so vielfältig und so schwer festzulegen, dass die Kritiker darauf verzichten, sie zu analysieren. Stattdessen wird stillschweigend davon ausgegangen, es wäre sicher nicht dümmer gewesen, wenn man eine Firma nicht gekauft, eine Investition nicht getätigt, eine Strategie nicht verfolgt hätte. Diese Annahme ist indessen realitätsfern, und sie führt gewissermassen strukturell dazu, dass unternehmerisches Handeln leicht per se als fehlerhaft, als falsch dasteht.

Ins Kapitel der zu wenig breiten Analyse gehört auch das Argumentationsmuster, dass ein Konkurrenzunternehmen mit einer bestimmten Strategie erfolgreich gewesen sei, man also mit der gleichen Strategie wohl ebenfalls Erfolg gehabt hätte. Märkte erlauben jedoch Differenzierung, ja sie leben geradezu von der Differenzierung. Wenn etwa ein Unternehmen mit Massenprodukten Erfolg hat, das andere aber mit Qualitätsprodukten scheitert, heisst das noch nicht, dass es die falsche Strategie gewählt hat. Es kann an der Umsetzung liegen – und die wäre bei der Alternativstrategie womöglich nicht besser gewesen. Vor allem aber würde die Alternativstrategie vermutlich schlicht daran scheitern, dass der Newcomer den notwendigen Verdrängungswettbewerb nicht durchstehen kann oder dass am Schluss beide Firmen als Verlierer dastehen. Obwohl der Markt davon lebt, dass nicht alle auf die gleiche Karte setzen, wird es immer wieder Unternehmensleitungen vorgeworfen, wenn sie sich anders verhalten als ihre Konkurrenz. Das ist eindeutig zu eng gedacht.

Das dritte verhängnisvolle Denkmuster ist die Vorstellung, dass unternehmerisches Scheitern notwendigerweise mit moralischer Schuld verbunden sei. Wer Wirtschaft und Gesellschaft als einen Prozesses von Versuch und Irrtum versteht, wird bei jener Jagd auf Sündenböcke nicht mitmachen, die auf Vorurteilen basiert. Der menschliche Drang, für alles Unglück, für alle Fehlentwicklungen immer eine eineindeutige Ursache zu suchen und in einzelnen Menschen oder Menschengruppen dann die Schuldigen zu finden, hat über die Jahrtausende unsägliches Leid über die Menschen gebracht. Meist waren die «Schuldigen» gar nicht schuld – weder die Hexen, noch die Juden, noch die Reichen –, aber selbst dort, wo es Verquickungen und Verstrickungen gab, war die Schuld selten so eindeutig und auf so wenige Personen fixiert, wie es der Durst der Menschen nach Symbolhandlungen, nach plakativer Zurschaustellung und nach Sühne dann – zuspitzend – erscheinen liess.

Klar ist, dass sowohl der Weg zum Misserfolg als auch der Weg zum Erfolg in allen Bereichen, erst recht in der Wirtschaft, mit unzähligen Fehlern gepflastert ist, dass Erfolg und Misserfolg oft nur um Haaresbreite voneinander getrennt sind. Wer Risiken eingeht – und die Marktwirtschaft ist die einzige Ordnung, die individuelle Risikonahme nicht nur zulässt, sondern sogar verlangt – kann scheitern, ohne die geringste böse Absicht, ohne jegliche Nachlässigkeit und ohne irgendeinen Mangel an Kompetenz. Das sollte die Gesellschaft zur Zurückhaltung mahnen vor der Ächtung oder gar strafrechtlichen Verfolgung von Erfolglosen und Gescheiterten. Umgekehrt müsste es allerdings auch den Erfolgreichen Bescheidenheit nahelegen. Natürlich hat ihr Erfolg meist auch mit Arbeitseinsatz, mit Hartnäckigkeit, mit Mut und mit Kompetenz zu tun – aber ebenso mit Glück und mit Zufall: damit, zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort das Richtige getan zu haben.

Das ist die Kehrseite der Medaille. Wer das Recht auf Irrtum und Scheitern als Wesenselement einer Marktwirtschaft einfordert, muss sich auch von der Arroganz der «Tüchtigkeit» und des Erfolgs verabschieden. Wenn unternehmerischem Misserfolg weder notwendigerweise Inkompetenz noch moralische Schuld zugrunde liegt, ist das Reüssieren auch nicht unbedingt und allein die Folge der Leistung unternehmerischer Lichtgestalten.

Das Scheitern ist geradezu denknotwendig für den Erfolg; wüssten wir nicht, was Scheitern ist, könnten wir uns auch keinen Begriff vom «Erfolg» machen. Unternehmerisches Scheitern ist hierzulande jedoch seit je stigmatisiert, jedenfalls viel stärker als in den USA. Während dort die Erfahrung eines Konkurses, eines Scheiterns, überspitzt gesagt fast notwendige Ingredienz einer erfolgreichen Unternehmerkarriere ist, bleibt hierzulande an einem, der etwas versucht, etwas aufgebaut hat und dann daran gescheitert ist, fast ein Leben lang der Geruch des Versagens haften. Der spezifisch alemannische Perfektionismus und jener Geist des Protestantismus, wonach im materiellen Wohlergehen auch die Gnade Gottes zum Ausdruck komme, dürften diese Haltung zusätzlich genährt haben.

Die Schweiz kennt keine richtige Fehlerkultur, auch im Kleinen nicht. Das ist Stärke und Schwäche zugleich. Aus dem Perfektionismus wächst jene Zuverlässigkeit von Produkten und Dienstleistungen, derentwegen «Made in Switzerland» immer noch ein besonderes Gütesiegel darstellt. Aber indem sich der Mangel an Fehlertoleranz ebenfalls in Wirtschaft und Gesellschaft niederschlägt, lähmt er die Initiative, das Experiment, den gewagten Versuch, die Risikonahme. Daraus entsteht eine Kultur des Konservierens und der Besitzstandwahrung.

Fehler als Teil des marktwirtschaftlichen Suchprozesses zu akzeptieren, sich vor auf Teilbetrachtungen und nachträgliches Wissen gestützter anmassender Besserwisserei zu hüten und Scheitern nicht als moralisches Versagen zu werten, bedeutet nicht, Wirtschaftsführer von jeglicher Verantwortlichkeit zu befreien. Es bedeutet nur, diese Verantwortlichkeit mit jener Zurückhaltung zu sehen, die schon das biblische «…der werfe den ersten Stein» gefordert hat. Zugleich wäre diese Zurückhaltung, diese tolerante Einstellung zu Managementfehlern und unternehmerischem Scheitern auch eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass die Schweiz, dass Europa wieder jene Dynamik zurückgewänne, die sie in früheren Phasen der Geschichte, etwa im 19. Jahrhundert oder nach dem Zweiten Weltkrieg, durchaus besessen haben – dank Menschen, die Risiken eingehen und damit vielleicht Erfolg haben, für den Misserfolg aber nicht bestraft und geächtet werden.

»
(0) Scheitern ist nicht strafbar

Der Begriff des Scheiterns (ursprünglich «Schiffbruch erleiden») entstammt weder der Ökonomie noch der Rechtswissenschaft. Er weckt zunächst philosophische und psychologische Assoziationen. Das Bild des untergehenden Schiffs ist aber vielsagend, denn beim Untergang eines wirtschaftlichen Unternehmens sind in der Regel, wie beim Scheitern eines Schiffes, mehrere Personen involviert, als Beteiligte und als Betroffene, als Verantwortliche und […]

Abonnieren Sie unsere
kostenlosen Newsletter!