(1) Entwicklungshilfe als Getränkeautomat?
Ärmeren Menschen in Entwicklungsländern helfen zu wollen, ist eine hehre Idee. Aber ist staatliche Entwicklungshilfe in der heute praktizierten Form auch eine gute Sache? Wer die Berichte internationaler Organisationen oder die Botschaft des Bundesrats liest, kommt zu einem anderen Schluss.
Je mehr Entwicklungshilfe, desto besser. Das ist das Credo vieler Politiker und internationaler Organisationen, die darauf drängen, die als Entwicklungshilfe deklarierten Zahlungen immer weiter ansteigen zu lassen. So hat etwa die UNO im Rahmen der Millenniumsziele gefordert, dass die Industriestaaten ihre Entwicklungshilfequote bis ins Jahr 2015 auf 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens erhöhen. Auch die Schweiz strengt sich an, dieses Ziel zu erreichen. In der letzten Dezembersession bewilligte der Nationalrat einen Kredit zusätzlich zu den 5,3 Milliarden Franken, die in der Botschaft über die Weiterführung der technischen Zusammenarbeit und der Finanzhilfe zugunsten von Entwicklungsländern in den Jahren 2009 bis 2012 vorgesehen sind. Bis 2015 soll die Entwicklungshilfe dann 0,5 Prozent des Bruttonationaleinkommens betragen. Hinter diesem Aktivismus steckt die Idee, dass Entwicklungshilfe wie ein Automat funktioniert. Je mehr Geld man oben hineinwirft, desto mehr allgemeiner Wohlstand in den Entwicklungsländern fällt unten heraus.
Leider ist die Realität aber etwas komplexer, und zwischen den für Entwicklungshilfe ausgegebenen Geldern und dem Wohlergehen der Bevölkerung in den Empfängerländern besteht nur ein geringer Zusammenhang. Trotzdem wird unbeirrt an diesem Automatendenken festgehalten – und das nicht nur seitens der UNO. Auch viele Schweizer Entwicklungshilfeorganisationen denken so und ignorieren vollständig, dass mehr Entwicklungshilfe in der Praxis oftmals mehr Bürokratie und Korruption bedeutet, wovon die Entwicklungsländer im allgemeinen schon mehr als genug haben. Es gilt nach wie vor, was der Entwicklungsexperte Peter Thomas Bauer schon vor Jahren formuliert hat: «Entwicklungshilfe besteht darin, das Geld armer Menschen in reichen Ländern an reiche Menschen in armen Ländern zu transferieren.»
Entwicklungshilfe gleicht weniger einem Automaten als vielmehr einem Strom, der aus einer stets sprudelnden Geldquelle in den Industrieländern versorgt wird, aber bei den Adressaten nur noch als dünnes Rinnsaal ankommt, da er auf dem langen Weg dorthin irgendwo versickert. Und in manchen Fällen merken die Armen selbst von diesen schliesslich übriggebliebenen, für sie gedachten Zahlungsströmen gar nichts, da kreative Politiker und Funktionäre diese schon vorher vollständig auf ihre eigenen Konten umgelenkt haben. Politiker müssen schliesslich an ihre Zukunft denken, und die ist für viele Staatschefs und ihre Clans in Entwicklungsländern ziemlich unsicher. Genauso schnell wie sie selbst unrechtmässig an die Macht gekommen sind, können sie eines Tages wieder weggeputscht werden. Also gilt es, die Zeit an der Macht zu nutzen, um für den Tag X mit vollen Konten in der Schweiz und in Offshore-Ländern gerüstet zu sein. Wäre ja möglich, dass man einen Grossteil des Lebens danach im Exil verbringen muss, und da möchte man nicht von der Hand in den Mund leben.
Da kein anderer Geldstrom so kontinuierlich fliesst wie die Entwicklungshilfe, stellt diese eine für viele Regimes unentbehrliche Geldquelle zur Auffüllung der eigenen Konten dar. So hat der Slogan «Hilfe zur Selbsthilfe» inzwischen eine ganz neue Bedeutung erlangt. Ursprünglich war damit ja die heroische Idee verbunden, dass es besser sei, die Menschen zu lehren, wie man Getreide anbaut, statt ihnen Brot zu liefern. Doch solche «Lernprogramme» brauchen Geld und Ressourcen und sind in Wirklichkeit meist ein bisschen anstrengend. Eine viel wirksamere Selbsthilfe, im Sinne des englischen «help yourself», ergibt sich für die beteiligten Funktionäre, Politiker und lokalen Potentaten, indem sie einfach einen Teil des Geldes für sich selbst abzweigen. Es könnte ja sonst in falsche (will heissen fremde) Hände geraten.
Leider ist es so, dass gerade die ärmsten Länder, die Entwicklungshilfe am dringendsten bräuchten, auch die korruptesten Länder sind. Gemäss Transparency International (TI), einer gemeinnützigen Organisation, die sich die Bekämpfung der Korruption auf die Fahnen geschrieben hat, sind – wenn wir von dem Sonderfall Irak absehen – zur Zeit Myanmar und Haiti sowie Somalia Spitzenreiter der Korruption, wobei ihnen der Grossteil der übrigen afrikanischen Länder nur um wenig nachsteht. «Korruption bei grossen öffentlichen Projekten stellt ein beängstigendes Hindernis für nachhaltige Entwicklung dar und führt zu einem gewichtigen Verlust öffentlicher Mittel, die sowohl in entwickelten als auch in Entwicklungsländern dringend für Bildung, das Gesundheitswesen und die Armutsbekämpfung benötigt werden», schreibt der Vorsitzende von Transparency International, Peter Eigen. Und weiter: «Wenn wir das Millennium Development Goal erreichen wollen, die Anzahl der in extremer Armut lebenden Menschen bis 2015 zu halbieren, dann müssen die Regierungen ernsthaft gegen Korruption vorgehen.» Tun sie aber nicht; denn warum sollten Regierungen gegen ihre eigenen Interessen handeln?
In den Broschüren der hierzulande für Entwicklungshilfe zuständigen Organisation, der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA), ist allerdings von Korruption kaum die Rede. Dort herrscht noch eine heile Welt, bei der jeder in der Schweiz der Entwicklungshilfe zugeführte Franken das Schicksal der Armen verbessert. Und das ist längst nicht alles; denn die Entwicklungshilfe aus der Schweiz soll noch viel mehr bewirken. In der Botschaft über die Entwicklungszusammenarbeit des Bundesrates vom März 2008 gibt es neben dem Schwerpunkt «Armutsminderung» noch die zusätzlichen Schwerpunkte der «Förderung der menschlichen Sicherheit» und der «entwicklungsfördernden Gestaltung der Globalisierung». Und über all diesen Schwerpunkten schwebt das allesumfassende Oberziel einer «gerechten und nachhaltigen globalen Entwicklung».
Solange über Ziele und Stossrichtungen diskutiert wird, ist Entwicklungshilfe in der Tat eine wunderbare Sache, von der es gar nicht genug geben kann. Doch sobald aus Zielen und Stossrichtungen konkret durchgeführte Projekte werden, kommen profanere Interessen ins Spiel. Da sind die Projekte der Schweiz und der DEZA keine Ausnahme, wofür hier nur einige Beispiele der letzten Jahre erwähnt seien. Nehmen wir etwa Moçambique, eines der von der Schweiz am meisten unterstützen Länder. Ein grosser Teil der Zahlungen in dieses Land ging in die Verbesserung der Gesundheitsvorsorge. Dafür wurden einige spezielle Fonds geschaffen, die der Versorgung mit Medikamenten dienen sollten. Das wäre an und für sich eine gute Sache, doch leider präsentiert sich die Realität etwas anders. Gemäss Beobachtern am Ort liessen korrupte Beamte einen Teil der für die Ärmsten vorgesehenen Medikamente verschwinden, um sie dann auf eigene Rechnung zu verkaufen. Das liegt wohl nicht ganz auf der vom Bundesrat angesprochenen Linie der Entwicklungshilfe, und auch der im Februarbericht 2004 der deutschen Hanns-Seidl-Stiftung erwähnte Kauf eines 50-Millionen-Jets für den Präsidenten Tansanias, eines anderen Schwerpunktlands der schweizerischen Entwicklungshilfe, dürfte den bundesrätlichen Intentionen nicht in allen Punkten entsprochen haben.
Zur Ehrenrettung der DEZA muss allerdings gesagt werden, dass die Institution kein Sonderfall ist. In einem Artikel in der Zeitschrift «Third World Quarterly» aus dem Jahr 2004 kommt Joseph Hanlon zum Schluss, dass in Moçambique die Entwicklungshilfe, und ganz speziell diejenige der Weltbank, die Korruption stark gefördert hat. Das überrascht nicht; denn vor Beginn der Entwicklungshilfe gab es dort kaum etwas zu verteilen. Und insgesamt lässt sich auch einsehen, weshalb in ganz Afrika gemäss Zahlen des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) trotz den seit Jahren fliessenden Entwicklungshilfezahlungen heute mehr Menschen unterernährt sind als im Jahre 1990. Viele der ärmsten Menschen haben von diesen Geldern gar nichts zu spüren bekommen. Sie wundern sich höchstens, warum eine kleine Oberschicht immer reicher wird und mit immer tolleren Autos unterwegs ist.
Natürlich gibt es auch erfolgreiche Entwicklungsprojekte, und diese sollen hier keineswegs schlechtgeredet werden. Doch das simple Automatendenken in der Entwicklungshilfe muss endlich aufhören; denn neben Korruption verhindert auch Bürokratie die Bekämpfung der Armut. Nicht nur korrupte Beamte und Funktionäre hängen am Tropf, sondern auch die staatlichen Entwicklungshilfeorganisationen selbst, und das auf ganz legale Weise. Bei diesen wird nämlich immer mehr konzipiert, geschrieben, gereist, sondiert und evaluiert, und das kostet Geld. Am schlimmsten ist das bei Grossorganisationen, wie der UNO und ihren Unterorganisationen, wo ein gigantisches, vornehmlich aus Entwicklungsländern stammendes Beamtenheer von 18’000 Personen dafür sorgt, dass der grösste Teil der UNO-Gelder für ihre Löhne und Spesen verwendet wird. Für tatsächliche Entwicklungshilfe bleibt da nicht mehr viel übrig.
Verglichen mit der UNO oder auch der Weltbank, ist die DEZA-Bürokratie auf einem sympathisch bescheidenen Niveau. Von einem über die DEZA in die Entwicklungsländer geschleusten Franken bleibt einiges mehr übrig, als wenn dieser Franken zuerst an die UNO ginge. Entwicklungshilfe sollte möglichst direkt und unbürokratisch erfolgen, so dass im Idealfall die Armut doch etwas verringert wird. Das ist auch das erklärte Ziel des neuen Direktors der DEZA, Martin Dahinden, der in einem Interview jüngst sagte: «Es geht mir darum, dass möglichst viele Mittel der DEZA vor Ort ankommen.»
Dieses Ziel wird allerdings durch den Bundesrat wieder gefährdet, der das grosse Heil nach wie vor in der multilateralen Entwicklungszusammenarbeit sieht. Fast die Hälfte der Beiträge geht mittlerweile an multilaterale Entwicklungsorganisationen, wie UNO-Organisationen oder die Weltbank. Das wird damit begründet, dass Programme in den Entwicklungsländern zunehmend komplexer und von globaler Relevanz seien und deshalb vom Finanzvolumen her die Möglichkeiten der bilateralen Zusammenarbeit überstiegen. Es ist zwar richtig, dass Entwicklungshilfe eine zunehmend komplexe Sache ist, aber daraus darf man nicht die Schlussfolgerung ziehen, dass es auch komplexere Bürokratien braucht, um komplexere Probleme zu lösen. Wie gross die Naivität gegenüber der multilateralen Entwicklungszusammenarbeit nach wie vor ist, lässt sich auch an folgendem Satz in der Botschaft des Bundesrats ablesen: «Die multilaterale Entwicklungszusammenarbeit zeichnet sich durch eine relative Unabhängigkeit von nationalen Interessen aus.» Richtig müsste dieser Satz nämlich lauten: «Die multilaterale Entwicklungszusammenarbeit zeichnet sich durch eine relative Unabhängigkeit von den nationalen Interessen kleiner Länder wie der Schweiz aus.» Dass etwa die Weltbank eine Politik unabhängig von den nationalen Interessen der USA betreibt, kann nicht einmal der naivste Bundesrat im Ernst glauben.
Generell sollte man von Grossprojekten in der Entwicklungshilfe die Finger lassen. Erstens sind Grösse und Komplexität die besten Freunde von Bürokratie und Korruption, und zweitens enden erschreckend viele Grossprojekte als verrottete Infrastruktur irgendwo in der Wüste. Sinnvoller ist es, sich im Rahmen der bilateralen Zusammenarbeit auf überschaubare Projekte im Bereich Gesundheitsvorsorge und Bildung zu konzentrieren. Konkret bedeutet dies die Unterstützung kleinerer Projekte und Betriebe sowie die Vergabe von Kleinkrediten, wie dies jetzt im Rahmen von Mikrofinanz getan wird. Die Anstrengungen der DEZA in diese Richtung sind zu begrüssen, da sie zu einer Reduktion von Bürokratie und Korruption beitragen.
Auch in der bilateralen Zusammenarbeit ist man aber noch lange nicht soweit, dass mehr Entwicklungshilfe automatisch zu einer Verbesserung der Lebensbedingungen armer Menschen in den Zielgebieten führt. Die Bekämpfung der Korruption muss zu einem expliziten Grundsatz der Schweizer Entwicklungshilfe werden. Die Formulierung «Korruptionsbekämpfung wird in geeigneter Form einbezogen» taucht zwar in der Botschaft des Bundesrates siebenmal auf. Allerdings ist damit nicht die mit der Entwicklungshilfe selbst verbundene Korruption angepeilt. Gemeint ist vielmehr, dass die Entwicklungshilfe der Korruptionsbekämpfung in den entsprechenden Ländern dienen solle. Doch solange man dies mit Programmen tut, die der Korruption selbst immer wieder neue Nahrung verschaffen, ist das eine Danaidenarbeit. Die Korruption muss bei der Entwicklungshilfe selbst an erster Stelle bekämpft werden, und erst wenn man sie dort auf ein tolerierbares Mass reduziert hat, kann man den Entwicklungsländern mit «good governance» kommen.
Vielleicht bricht in nicht allzuferner Zukunft tatsächlich einmal ein neues Zeitalter an, in dem mehr Entwicklungshilfe auch mehr Wohlstand für die Ärmsten bedeutet. Das wäre dann der Zeitpunkt zu Freudebekundungen bei einer Erhöhung der Entwicklungshilfequote.