(1) Du lässt mich in Ruhe und ich dich
Die Stadt ist der Ort des Individualismus. Der Ort der Minderheiten. Der Anonymität. Und der Unruhe. Das urbane Leben hat seinen Preis. Ist es ihn auch wert? Austausch zwischen einem Landei und einem Städter.
Warum tut man sich das eigentlich an? Eine Wohnung in Zürich oder Genf zu suchen, das ist, als würde man sich um einen hochkarätigen Job bewerben. Die grünen Gemeinden in Stadtnähe bieten viel
Ruhe und gute Stadtverbindungen.
Ach nein, der Traum vom Leben im Grünen war einmal. Wer es sich heute leisten kann, zieht in die Stadt. Eine postindustrielle Stadt wie Zürich mit alten Industriequartieren, die kulturell umgenutzt und aufgerüstet werden, ist ein äusserst attraktiver Wohnort…
…ja schon, aber das urbane Leben hat seinen Preis…
…die Nachfrage ist in der Tat gross, die Häuser- und Mietpreise in Zürich steigen stetig. Daher gibt es neben jenen, die in der Stadt leben wollen und dies auch vermögen, natürlich die Gruppe jener, die sich eine Wohnung in der Kernstadt nicht leisten können, die aber nicht wirklich auf dem Land, sondern in der Agglomeration wohnen, die genauso zur Stadt gehört. Dazu kommt schliess-lich noch eine dritte Gruppe: jene, die es sich leisten könnten, aber dennoch nicht in der Stadt leben wollen. Dies ist eine betuchte Minderheit, die in die angrenzenden Kantone zieht, die in den letzten Jahren die Steuern kontinuierlich gesenkt haben. Die Steuerersparnis wiegt für sie höher als die Lebensqualität.
Es gibt aber auch die, die auf jeden Fall ein Leben im Grünen vorziehen. Ich gehöre zum Beispiel zu dieser Sorte Landeier.
Ja, das wäre die vierte Gruppe, und ich muss natürlich eingestehen, dass diese nominellen Landeier in der Schweiz immer noch die Mehrheit stellen: 2007 lebten laut Bundesamt für Statistik nur 42,4 Prozent der Bevölkerung in Städten; rechnet man allerdings die Bewohner der städtischen
Agglomerationen hinzu – das heisst auch jene Menschen, die nur in sogenannten «Dörfern» wohnen –, dann sind es 70 Prozent. Was dieses Verhältnis betrifft, belegt die Schweiz im internationalen Vergleich einen Spitzenrang. Interessanter als dieser Wert ist aber der langfristige Trend, wie er sich am Beispiel Zürich ablesen lässt und der für alle Schweizer Städte gilt. In Zürich erreichte die städtische Bevölkerung im Jahr 1962 mit rund 440’000 Einwohnern ihr Allzeithoch…
…dann begann diese Zahl jedoch kontinuierlich zu sinken…
…genau. Die Das-Leben-im-Grünen-ist-schön-Ideologie begann massenwirksam zu werden. 1989 aber hat der Trend gedreht; seither wächst die Stadt wieder, und zwar besonders deutlich in den letzten fünf, sechs Jahren. Mit anderen Worten: die Stadt oder auch die stadtnahe Agglomeration ist der bevorzugte Wohnort der meisten Menschen – auch der Familien. Sie bietet – anders als das Dorf – eine gute Infrastruktur und in den allermeisten Fällen auch eine gute Wohnqualität. Es ist eine Illusion zu glauben, das Leben auf dem Land sei harmonisch und erholsam, während sich das Stadtleben durch besonders viel Stress auszeichne. Wer in einer Stadt wie Zürich lebt, kann ein vergleichsweise komfortables, ja zuweilen wohl geradezu entspanntes Leben führen.
Hier spricht der Städter.
Mit gefällt die Stadt, ja.
Sie können es sich also leisten.
Das folgt daraus, ja. Ich wohnte aber auch schon in der Stadt, als ich noch nicht den Lohn eines Professors nach Hause trug.
«Urban» ist ein Modewort geworden, mit dem sich mittlerweile auch politische Parteien schmücken. Was ist das denn genau, ein urbaner Mensch?
Das ist ein Mensch, der es hasst, wenn er im Alltag Kuhwiesen sieht. Oder schlechte Einfamilienhüsli-Architektur in unstrukturierten Siedlungen ohne Gesicht. Oder sogenannte Dörfer, die seit 100 Jahren nur noch Schlafgemeinden und Rückzugsorte sind.
Der urbane Mensch ist also ein Landverächter?
Ich formuliere es positiv: es ist einer, der sich darüber freut, sehr viele Lebensmöglichkeiten in konzentrierter Form vorzufinden. Arbeitsmöglichkeiten, Begegnungsmöglichkeiten, Wohnmöglichkeiten, Kulturmöglichkeiten. Wer in der Stadt lebt, geniesst die Vielfalt, die das Leben bietet. Auf dem Land gibt es keinen öffentlichen Raum. Man setzt sich ins Auto und fährt irgendwohin, spontane Begegnungen und Erfahrungen sind eher die Ausnahme.
Wir sagen es zwar nicht gerne, aber auch in der Schweiz gibt es Tendenzen zur Ghettoisierung – zum Beispiel im Kreis 4 oder in Zürich Schwamendingen.
Ich würde diesen Begriff nur mit Vorsicht verwenden. Eigentliche Ghettos gibt es in Schweizer Städten nicht. Das bedeutet allerdings nicht, dass unsere Gesellschaft in sozialer Hinsicht besonders beweglich wäre. Aussenquartiere und bestimmte Agglomerationen scheinen sich sozial bloss intern zu reproduzieren, das heisst, die Gruppen, die dort wohnen, verfestigen sich über die Generationen. Ein Austausch zwischen Schwamendingen und dem Zürichberg findet nur in extrem beschränktem Masse statt, wenn überhaupt. Aber das kann sich auch wieder ändern. Ein eher vernachlässigtes Aussenquartier kann plötzlich hipp sein, etwa wenn brachliegende Gewerbegebiete oder Fabriken in Kulturzonen verwandelt werden, wie man das in Winterthur beobachten konnte. Diese Stadt hat durch diesen Prozess in den letzten zehn Jahren enorm an Lebensqualität und Attraktivität gewonnen. Eine Stadt ist eben ein dynamisches Gebilde, nichts ist für die Ewigkeit.
Es geht um Ausgewogenheit. Wie lässt sie sich herstellen? Greift die Politik allzusehr ein, entstehen leicht neue Ungerechtigkeiten.
Europäische Städte sind in der Regel gewachsene, nicht von A bis Z geplante Gebilde. Wer die Stadt urbanistisch weiterentwickelt, muss einerseits ihrer Geschichte gerecht werden, aber anderseits auch den Bedürfnissen ihrer Bewohner. Dem Spiel von Angebot und Nachfrage kommt hier eine wichtige Rolle zu, aber die Rahmenbedingungen werden von der Politik gesetzt. Das ist richtig so.
Die Stadt gilt als Ort des Individualismus.
«Die Stadtluft macht frei», heisst es seit dem Mittelalter. Leibeigene setzten sich damals in die Städte ab, wo sie für ihre Grundherren unauffindbar waren. Es entwickelte sich der Rechtsbrauch, dass ein in der Stadt wohnender Unfreier nach Jahr und Tag nicht mehr zurückgefordert werden konnte und zu einem freien Stadtbewohner wurde. In diesem Sinne kann man durchaus sagen, dass das freie Individuum in der Stadt zu sich fand. Diese Tendenz hat sich in der industriellen Gesellschaft weiter akzentuiert.
Die Kehrseite des Individualismus ist die Anonymität.
Ich würde dies nicht so negativ formulieren. Soziale Kontrolle ist in der Stadt der Moderne immer um vieles geringer gewesen als im Dorf. Natürlich wurde dies auch als Problem wahrgenommen; das nomadisierende Proletariat des 19. Jahrunderts, d.h. all die jungen ungebundenen Menschen, die auf der Suche nach Arbeit von Stadt zu Stadt zogen, wirkte auf das eingesessene Bürgertum bedrohlich. Aber für diese jungen Menschen war es eben auch eine Chance. Die Anonymität war das Versprechen, tun und lassen zu können, was man wollte, ohne dauernd vom Pfarrer oder vom Onkel kontrolliert zu werden. Dass diese Freiheit ihre ernüchternden Seiten hat, war dabei zweifellos auch zu erfahren.
Martin Heidegger hat in einem Aufsatz aus den 1950er Jahren geschrieben, dass zwei Bauernhöfe trotz räumlicher Distanz «auf das Schönste benachbart sind», während zwei gegenüberliegende Stadthäuser keine Nachbarschaft kennen.
Diese Kulturkritik ist doch Quatsch! Es ist ja gerade das Schöne an der Stadt, dass man sich seine Nachbarn aussuchen kann. Wenn ich mich auf dem Land mit der Bauernfamilie auf der anderen Seite der Wiese verkrache, dann dann kann dieser Streit ein ganzes Leben vergiften. Wenn ich hingegen in der Stadt mit meinem Nachbar nicht auskomme, kann ich den Kontakt mit anderen suchen oder auch weiterziehen. Stadtbewohner sind mobil.
Eine Stadt funktioniert nach dem Nischenprinzip: man verkehrt im Kreise Gleichgesinnter, die man gut kennt. Dabei isoliert man sich vom Rest…
…ich würde es eher so sagen: die Stadt bietet einem die Chance, auf Gleichgesinnte zu treffen. Von jeder Sorte gibt es davon ziemlich viele. Daneben begegnet man in der Stadt aber auch immer vielen anderen – vollständig in einer Nische zu leben, ist sicher möglich, aber nicht wirklich typisch städtisch, sondern gleicht eher einem ängstlich-ländlichen Verhalten: was der Bauer nicht kennt, das frisst er nicht. Der Städter hat tendenziell mehr Identitäten als der Landbewohner, mehr Möglichkeiten, zwischen Rollen zu wählen.
Ich sehe schon: der Stadt-Land-Gegensatz holt unser Gespräch immer wieder ein.
Die Herkunft prägt eben den Zugang zum Thema. Nein, im Ernst: die neuen sozialen Netze im Internet helfen, den Stadt-Land-Gegensatz zu überwinden. Die Begegnungen und Freundschaften im virtuellen Raum sind unabhängig vom Wohnort. Paradoxerweise dürfte diese ortsunabhängige globale Kommunikation wiederum Rückwirkungen auf die Siedlungsstruktur haben: der Wohnort verliert an Bedeutung, ich kann mich von überall in die Netzwerke einklinken. Wo mein Computer steht, bin ich zu Hause.
Das wäre eine Art modernes Nomadentum. Ist es mehr als eine Modeerscheinung? Selbst virtuelle Freundschaften laufen auf eine persönliche Begegnung hinaus.
Stimmt schon. Doch verabredet man sich gezielt, und braucht deshalb nicht mehr im selben Dorf, nicht mehr in derselben Stadt, nicht mehr im selben Land zu wohnen. Anderseits stellt sich auch die Frage, ob nicht auch ein Zusammenhang zwischen der Stadt und diesen virtuellen Netzen besteht. Der französische Soziologe Henri Lefebvre hat die verschiedenen Netze untersucht, die von den Städten ausgehen. Er beschreibt die Strassennetze, Eisenbahnnetze, Telegraphennetze usw. als urbane Strukturen, die städtische Lebensstile ins Ländliche hineintragen und den Globus überziehen. Das Urbane als Prinzip wäre umfassender als die Stadt als Ort. Die virtuellen Netzwerke würden sich dann als das erweisen, was sie wohl wirklich sind: die am weitesten entwickelten Formen der Verstädterung der Welt.
Die Globalisierung als Urbanisierung im virtuellen Raum. Klingt ziemlich abstrakt.
Ist aber ein plausibler Gedanke, und er entspricht dem, was wir erleben.
Zurück zur Stadt. Ist sie der Ort der Minderheiten?
Schwul zu sein oder sich zum Sozialismus zu bekennen, das ist auf dem Land sicher schwieriger als in der Stadt. Die Stadt ist auch der Ort, wo mit Lebensstilen experimentiert wird, die nicht mehrheitsfähig sind.
Urbane Menschen legen viel Wert darauf, tolerant zu sein. Die Toleranz wirkt aber oft aufgesetzt.
Ich denke in der Tat, dass die Stadt tendenziell toleranter ist als andere Gegenden. Sie erlaubt es einem, sich für gewisse Dinge nicht interessieren zu müssen. Man kann sie dulden, ohne sie deswegen gutzuheissen. Ich möchte auch in einer Welt leben, in der Dinge möglich sind, die nicht meinen Vorlieben entsprechen. Du lässt mich machen, und ich lasse dich machen.
Man hat den Eindruck, sich in der Stadt frei bewegen zu können. Zugleich wird man jedoch mehr denn je von Kameras beobachtet.
Ich bin da nicht so skeptisch, auch wenn ich das Beispiel London kenne, wo Zehntausende von Kameras rund um die Uhr das Treiben der Leute filmen. Die Polizeidichte in der Stadt war schon immer grösser als auf dem Land, weil eben auch die Menschendichte grösser ist. Die Stadt ist ein unruhiger Ort. Die Behörden verspüren eine gewisse
Nervosität und versuchen, Ordnung zu schaffen. Insofern ist die Stadt das ideale Einfallstor für Überwachungstechnologien. Zugleich muss man aber auch sehen, dass die Stadt genügend Rückzugsmöglichkeiten bietet. Sie ist letztlich viel zu kompliziert aufgebaut, als dass umfassende Überwachung wirklich funktionieren könnte. Die Stadt hat genug Resistenzen, ich mache mir deshalb keine Sorgen. Und anderseits: wenn eine Regierung den Überwachungsstaat beschliesst, wird sie eher die Kommunikationsnetze angreifen und damit Strukturen, die nicht an die Siedlungsform gebunden sind.
Das ist sehr viel Gelassenheit für jemanden, der über Michel Foucault, den Autor des Kultbuches «Überwachen und Strafen», publiziert hat.
Ich fühle mich nicht beobachtet. Glauben Sie wirklich, dass durch die Kameras das Verhalten der Individuen verändert wird?
Man handelt nicht mehr spontan, sondern denkt immer daran, wie die Handlung auf andere wirken könnte. Das führt zu einer Normierung des Verhaltens.
Wirklich – ich glaube nicht, dass die Bandbreite sozialen Verhaltens diesseits der Gesetzesübertretung dadurch eingeschränkt wird. Sie würden auch ohne Kameras nicht nackt durch die Strasse rennen oder Purzelbäume schlagen. Die praktischen Auswirkungen der Kameras sind vernachlässigbar. Auf einer theoretischen und zugleich natürlich auch politischen Ebene habe ich aber selbstverständlich massive Vorbehalte gegenüber der behördlichen Lust an der ständigen Überwachung: der Staat gewinnt dadurch zuviel Macht über die Gesellschaft. Er will Verbrechen verhindern, noch bevor sie geschehen. Er will die ganze Gesellschaft durchdringen. Bei solchen Vorstellungen sträuben sich mir die Haare.
Können Sie sich vorstellen, auf dem Land zu leben?
Nein, um Himmels willen nicht!