(1/2) Wieviel Europa braucht die Schweiz?
Strategische Gedanken aus Unternehmersicht Alleingang, bilateraler Weg, Integration in die EU – das sind die drei Optionen für die Schweiz. Heisst es. Aber stimmt das auch? Wir präsentieren eine vierte Möglichkeit: den Universalismus. Ein global tätiger Unternehmer und ein Publizist denken nach.
Es ist bitter, aber wahr: Die Schweiz hat es in den letzten Jahren verpasst, sich strategisch geschickt zu positionieren. Nicht als Sonderfall, sondern als weltoffenes Land, das die Kultur des Gebens und Nehmens pflegt. Viele Standortvorteile – ich nenne stellvertretend das Bankgeheimnis, die niedrige Staatsquote, den Milizgedanken – wurden ohne Not verspielt.
Es erstaunt deshalb kaum, dass das Vertrauen der Bevölkerung in politische Parteien, Bundesrat und Parlament infolge gravierender Führungsdefizite einen Tiefstand erreicht hat. Ebensowenig überraschend ist, dass die alte Frage im Raum steht, wieviel Europa die Schweiz denn nun brauche. Wer sich schwach fühlt, sucht sein Heil beim vermeintlich Stärkeren. Die Frage eines EU-Beitritts ist bloss die logische Konsequenz der aktuellen Schwäche der Schweiz – einer hausgemachten Schwäche.
Nicht die EU ist schuld, dass wir das Bankgeheimnis faktisch aufgegeben haben, sondern wir selbst. Vielen von uns scheint das Verständnis für das Grundprinzip des Bankgeheimnisses – den Primat des Bürgers vor dem Staat – über die Jahre abhanden gekommen zu sein.
Nicht die EU ist schuld, dass viele Klein- und Mittelunternehmen (KMU) an den Rand des Abgrunds geraten, sondern eine verfehlte inländische Politik. Durch unnötige gesetzliche Auflagen haben wir das Rückgrat unserer Wirtschaft mutwillig beschädigt.
Nicht die EU ist schuld, dass mit dem neuen Kulturgütergesetz der traditionell sehr starke Standort Schweiz im internationalen Kunsthandel Gefahr läuft, aufgrund bürokratischer Hürden bei der Ein- und Ausfuhr konkurrenzunfähig zu werden. Die Schuld tragen vielmehr Eiferer und linksdoktrinäre Bürokraten im Bundesamt für Kultur.
Der kurzfristige Opportunismus bei den Eliten in Politik und Wirtschaft hat die Oberhand über den vorausblickenden Realismus gewonnen. Wir tun uns schwer damit, die Situation zu sehen, wie sie ist: heute kämpft jeder gegen jeden. Es herrscht ein von der Politik der jeweiligen Länder unterstützter globaler Wirtschaftskrieg, der im Gefolge der Finanzkrise nur noch aggressiver wurde. Er wird nicht mit Waffen geführt, sondern mit Gesetzen, Informationen und Worten. Global agierende Unternehmer sind mit dieser Situation seit längerem vertraut.
Die eigentlich bankrotten Länder wie Griechenland, aber auch die USA, England und viele andere EU-Mitglieder, suchen nach neuen Geldquellen. Sie schrecken vor Raubzügen gegen kleinere, reiche Staaten wie die Schweiz nicht zurück. Die demokratisch nicht legitimierte G20-Gruppe und die ohne Entscheidungsbefugnis agierende Organisation für Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD) werden nach Belieben von den Grossen für ihre Zwecke eingespannt. Die Argumentationen von Steuergerechtigkeit und weisser Weste sind scheinheilig – dazu genügt ein Blick auf die Steueroasen, die selbst in den USA (zum Beispiel Delaware) oder UK (Channel Islands) bestehen.
Sekundiert wird diese Kampagne von ausländischen, aber eben auch von inländischen Medien. Sie reden uns ein, die Schweiz müsse ein schlechtes Gewissen haben, wobei die einzige zukunftsträchtige Strategie darin bestehe, zum Saubermann zu werden – dies, obwohl wir beispielsweise eines der strengsten Gesetze zur Unterbindung der Geldwäscherei haben. All dies erzeugt eine Stimmung des Selbstzweifels, die breite Kreise des Establishments erfasst hat. Derweil agiert die Landesregierung hilflos, und viele Vertreter der classe politique meinen, ein Beitritt zur EU könne diese hausgemachten Missstände beheben, insofern als man dort dann mitreden (und mitzahlen) dürfe. Spätestens hier stellt sich jedoch die Frage, wieviel Weltfremdheit in der Politik erlaubt sein soll.
Es ist höchste Zeit, die drängenden Fragen anzugehen. Ein Land ist zwar mehr und anderes als ein Unternehmen. Dennoch vermag uns ein unternehmerisch-strategischer Zugang in vieler Hinsicht die Augen zu öffnen.
Wir müssen zuerst einmal unsere Rolle in der globalisierten Welt definieren, bevor wir über Mitgliedschaften in der EU oder andernorts entscheiden. Dies nach dem bewährten Prinzip «structure follows strategy», ohne das sich kein Unternehmen und kein Land mittel- und langfristig im Markt und in dieser Welt erfolgreich positionieren kann. Zuerst in Ruhe und unaufgeregt nachdenken, Chancen und Risiken abwägen, um dann zu einer Auslegeordnung zu kommen.
Dazu gehört, zunächst die wichtigsten Positionen und Traditionen, also die Fundamente der Schweiz, zu definieren. Welches sind unsere gemeinsamen Werte, was hat sich bewährt und was ist geeignet, als Basis für eine Neupositionierung der Schweiz in Europa und in der Welt zu dienen?
Die moderne Schweiz ist eine unternehmerische Erfolgsgeschichte. Sie wurde 1848 gegen den Widerstand der Katholiken geschaffen – die ökonomische Macht war anfangs ein Werk der protestantischen Eliten von Zürich und Genf. Der Soziologe Max Weber hat in seiner Studie «Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus» (1905) die Verbindung von Gnadenlehre und modernem Arbeitsethos überzeugend herausgearbeitet.
Der ökonomische Erfolg ist für die Protestanten nicht in erster Linie ein Ergebnis der eigenen Leistung, sondern ein «Zeichen» von Gottes Segen – darum gehören Geschäftssinn und «Berufspflicht» ebenso zusammen wie Freiheit und Verantwortung. Gewinne wurden nicht konsumiert, um das Leben zu geniessen, sondern investiert, um das Erschaffene zu mehren. Der Erfolgreiche sah es als seine Pflicht an, sich in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen – ihr (bzw. Gott) verdankte er seinen Erfolg, und ihr gab er etwas zurück. Diese kulturell verwurzelte Unternehmermentalität ist uns über weite Strecken abhanden gekommen. Es herrscht das sicherheitsfixierte Angestelltendenken vor. Boni sind oft nichts anderes als eine garantierte Belohnung für Entwicklungen, für die man gar nichts kann.
Mir geht es nicht um Nostalgie oder eine Beschwörung rückwärtsgerichteter, gar noch kirchlich oder ideologisch motivierter Ideale. Vielmehr kritisiere ich den Mangel an fundierter Auseinandersetzung mit Fragen, die sich aus einem Blick auf bewährte Schweizer Tugenden ergeben, wie zum Beispiel: Welche Rolle soll zukünftig der Milizgedanke in der Schweizer Politik und Gesellschaft vernünftigerweise noch spielen? – Welche kulturellen Werte gilt es, angesichts einer stark wachsenden, nicht christlichen Einwohnerschaft hervorzuheben, auch in Beachtung der Bundesverfassung? – Oder im Zusammenhang mit der Differenzierung von Steuerhinterziehung und Steuerbetrug ganz wichtig: Wollen wir in der Schweiz weiterhin ein willkürfreies, primär auf das Vertrauen zwischen Bürger und Staat ausgerichtetes Verständnis von Institutionen pflegen? Also keinen Schnüffelstaat; dafür Schutz der Privatsphäre und Unschuldsvermutung? – Wollen wir weiterhin, dass die Schweiz ein berechenbarer Rechtsstaat ist, der dem Bürger dient? Oder soll der Staat frei schalten und walten und auch unrechtmässige Ad-hoc-Massnahmen im nachhinein legitimieren können?
Es wäre die Aufgabe der Elite aus Politik, Unternehmertum und Kultur in der Schweiz, eine solche Wertediskussion zu führen. Und zwar nicht nach helvetischer Manier durchsetzt mit Selbstzweifeln oder Selbstzerfleischung. Es ginge vielmehr darum, Positionen zu formulieren und diese dann in Form eines «contrat social» sowie als Regierungsprogramm zu verabschieden. Bislang sind keine solchen Bemühungen erkennbar – wer sich exponiert, macht sich angreifbar, und wer in der Schweiz möchte schon angegriffen werden?
Ich möchte dessenungeachtet drei Denkanstösse aus Unternehmerperspektive geben.
1992 hiess das Motto des Schweizer Pavillons an der Expo «La Suisse n’existe pas». Die dadurch ausgelösten Diskussionen waren durchaus engagiert und mit einer guten Dosis Emotionen versehen. Rund um die Expo 02 war auch in breiten Bevölkerungsschichten eine intellektuelle Auseinandersetzung mit der Schweiz und ihrer Rolle erkennbar. Vielleicht also, so ein Vorschlag, müssten wir nochmals an diesen beiden Ereignissen anknüpfen und durch klare Thesen eine Diskussion lancieren. Und zwar möglichst breit, damit grosse Teile der Bevölkerung erfasst werden und sich einbringen.
Ein weiteres mögliches Vorgehen liegt in der Einsetzung einer speziellen Taskforce. Aus der Not heraus musste, wir erinnern uns, vor dem Hintergrund des Drucks um die Holocaustgelder die «Borer-Taskforce» geschaffen werden. Zudem erfolgte die Aufarbeitung der Schweizer Geschichte im Zweiten Weltkrieg durch die sogenannte «Bergier-Kommission». Auch wenn ich persönlich keine Sympathien für dieses Gremium hege, so zeigt dieses Beispiel doch, dass die Schweiz fähig ist, die Aufarbeitung entscheidender Themen zustande zu bringen. War es hier der äussere Druck, der das Handeln einleitete, so dürfte in der gegenwärtigen verworrenen politischen Lage schon der innere Druck genügen.
Eine weitere, etwas verwegene Idee könnte der Einsatz eines «Friedensgenerals» sein. Nachdem im Zuge der Globalisierung ein eigentlicher Wirtschaftskrieg entbrannt ist, böte es sich an, eine Persönlichkeit zeitlich befristet einzusetzen, die die nötige Grundsatzdiskussion sowie Umsetzungsentscheide nicht nur moderiert, sondern auch implementiert. Das Parlament könnte eine solche Persönlichkeit auf Zeit wählen. In anderen Ländern ist dies nichts Ungewöhnliches. In den USA zum Beispiel werden sogenannte Zars in Friedenszeiten mit bestimmten Kompetenzen für bestimmte Bereiche – etwa Drug Zars – eingesetzt.
Im Kern geht es um die Frage, wo die Schweiz weiterhin souverän agieren und eigene Werte vor fremde Werte und fremdes Recht stellen will. Gebetsmühlenartig wird wiederholt, die Schweiz sei ja ohnehin faktisch schon EU-Mitglied, nur ohne Stimmrecht. Tatsache ist, dass selbst wenn die Schweiz EU-Mitglied wäre, die Anzahl der Stimmen im Vergleich zu den grossen EU-Ländern mit einem Faktor eins zu drei der Schweiz nur minimale Stimmrechte einräumen würde. Wir hätten in jedem Fall nichts zu sagen.
Kann die Schweiz sich neu erfinden, zu einer neuen Identität und einem «contrat social» mit gemeinsamen Werten gelangen? Haben wir den Willen und die Kraft dazu? Es gibt durchaus positive Beispiele der Rolle der Schweiz in der Welt, die Hoffnung machen.
Da wären zum Beispiel die Freihandelsabkommen, die die Schweiz abgeschlossen hat oder im Begriff ist abzuschliessen. Es handelt sich um solche – ich nenne bloss einige der wichtigsten Länder – mit Kanada, Singapur, Mexiko, Südkorea, Japan und der Türkei. Pendente Dossiers sind China und Indien. Diese sind von grösster Bedeutung und werden auch vom Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) voll unterstützt, wie ich mich bei einem Besuch bei Frau Calmy-Rey überzeugen konnte.
Überhaupt scheint es zum Thema Freihandelsabkommen eine unité de doctrine mit positiven Resultaten zu geben. Die sehr gute Kooperation mit Singapur etwa kann ich aus eigener Erfahrung an Ort bestätigen. Bedauerlich ist lediglich, dass das Dossier USA vermutlich auf Jahre hinaus blockiert ist.
Aus Unternehmersicht kann ich das Bestreben nur unterstützen, weitere Freihandelsabkommen abzuschliessen. Dies schon aus Gründen der Risikostreuung. Die Schweiz braucht nicht nur Europa, sondern auch den Rest der Welt – der aussenhandelspolitische Universalismus, also die grundsätzliche Offenheit gegenüber allen, ist letztlich die einzige mit der Neutralität und dem Freihandel kompatible Maxime.
Sollte sich die Euro-Krise und insgesamt die wirtschaftlich-politische Situation in der EU weiter zuspitzen, wird die Schweiz gut beraten sein, ihre Interessen in Asien noch wesentlich stärker zu verfolgen. Einige Schweizer Unternehmen waren bereits im 19. Jahrhundert in Asien aktiv – denken wir nur an die Handelshäuser oder die Seidenindustrie, die wesentlich zum Wohlstand der Schweiz beigetragen haben. Auch hier muss sich die Schweiz nicht verstecken und kann auf bewährte Traditionen aufbauen.
Ein zweites positives Beispiel für eine Stärke der Schweiz ist das Thema Stiftungen. Das Parlament hat im Frühjahr 2010 ein entsprechendes Gesetz zur Modernisierung des Stiftungswesens an den Bundesrat überwiesen. Damit stellt es sicher, dass auch zukünftig die Schweiz einen attraktiven Standort für Stiftungen und deren Gelder darstellt.
Nach aktuellen Schätzungen sind in der Schweiz rund 50 Milliarden Franken in Stiftungen angelegt, Tendenz steigend. Diese Gelder liegen notabene in der Schweiz und nicht in aufgeblähten Bilanzen von Grossbanken. Gerade mit Blick auf das erodierte Bankgeheimnis und den geschwächten Banken- und Finanzplatz Schweiz kommt der Stärkung des Stiftungsstandortes Schweiz höchste Priorität zu. Es ist erfreulich, dass Parlament und Bundesrat die Lage erkannt haben.
Als drittes und letztes Beispiel für eine der Stärken der Schweiz möchte ich unsere Währung – den Schweizer Franken – hervorheben. Die Stärkung des Frankens ist nicht primär die Folge des schwachen Euros oder Dollars. Sie entspringt vielmehr einer soliden Wirtschaft und den nach wie vor sehr guten wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen, die die Schweiz auszeichnen. Dazu gehört eine Verschuldung von 45 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP), was im Quervergleich zu den EU-Staaten immer noch wenig ist, aber auch ein flexibles Arbeitsrecht, hohe Innovationskraft sowie eine hochprofessionell arbeitende Notenbank. Gerade diese hat sich durch kluges und vorausschauendes Handeln einen ausgezeichneten Ruf erworben und der Schweiz international viel Anerkennung eingebracht.
Wieviel Europa also braucht die Schweiz? Das Beispiel des Schweizer Frankens belegt, dass die Erledigung der eigenen Hausaufgaben die langfristig lohnendere Vorgehensweise darstellt als die unbedarfte Anklage fremder Staaten oder die vorschnelle Anpassung an fremde Mächte. Die Schweiz hat das Zeug, erfolgreich zu sein. Sie braucht bloss den Mut, es auch zu nutzen. Der Erfolg kommt von innen.