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(1/2) Der Staatsstreich von Brüssel

Ein Drama in vier Akten

Lange war unklar, was sich Anfang Mai in den Machtzentren der Europäischen Union (EU) in Brüssel ereignete. Eine grosse Rauchwolke von Informationen schwebte noch über Europa und behinderte die Sicht.

Angefangen hatte alles ganz harmlos. Angela Merkel meinte zuerst noch, es gehe lediglich um eine Härtung des Stabilitäts- und Wachstumspakts. Tatsächlich führte die EU-Kommission die Union, in einer generalstabsmässig vorbereiteten Aktion und unter Zustimmung der Staats- und Regierungschefs, in eine völlig neue Struktur. Im Zentrum steht nun ein strafforganisiertes Kleineuropa von Eurostaaten, das, umgeben von Beitrittsstaaten und Grossbritannien, eine Art Grosseuropa bildet. Aber der Reihe nach.

Erster Akt: wie alles begann

Der erste Akt beginnt mit der Bankenkrise der Jahre 2008/2009, als hochverschuldete Geschäftsbanken ihre Heimatstaaten um Überlebenshilfe baten. In Island führte das zum Staatsbankrott. Auch Irland und damals Österreich sahen sich mit steigenden Risikoaufschlägen ihrer Staatsanleihen konfrontiert. In ihrer Not wandten sie sich an die Europäische Kommission. Diese schrak, so kurz nach Verabschiedung des Lissabon-Vertrags, vor Hilfszahlungen noch zurück.

Worte sollten genügen. Am 3. März 2009 verkündete der damalige EU-Währungskommissar Joaquín Almunia: «Wenn eine solche Krise in einem Euro-Staat auftritt, gibt es dafür eine Lösung, bevor dieses Land beim Internationalen Währungsfonds um Hilfe bitten muss.» Offensichtlich meinte er damit ein für die betroffenen Banken komfortableres Angebot als den Staatsbankrott. Jedenfalls fassten die Märkte das so auf. Sie beruhigten sich, so dass die Risikoaufschläge vorübergehend wieder zurückgingen.

Gegen Ende des Jahres wurde dann jedoch Griechenland zur Hauptsorge der EU-Kommission. Hier geriet der Staatshaushalt nicht wegen Bankgarantien, sondern wegen zu hoher staatlicher Ausgaben und zurückbleibender Einnahmen in die Nähe der Insolvenz. Zu lange hatte die Kommission tatenlos zugesehen, wie jährlich zu niedrige Defizitzahlen nach Brüssel gemeldet wurden und die griechische Staatsschuld dennoch übermässig anstieg. Nun liessen sich die Märkte nicht mehr mit Worten besänftigen. Sie wollten Taten sehen.

Kommission und Ministerrat verordneten Griechenland ein strenges Regime von einerseits Ausgabenkürzungen bei den Staatsbediensteten und Rentnern und anderseits Steuererhöhungen. Doch Skepsis lag in der Luft. Würde Griechenland die Auflagen tatsächlich befolgen? Konnte durch Einsparungen im öffentlichen Sektor und Einnahmenerhöhungen überhaupt Nennenswertes erreicht werden, wo doch an die 30 Prozent der Wirtschaftstätigkeit in der Schattenwirtschaft erfolgen, die allgegenwärtige Korruption nicht mit eingerechnet? Die Märkte jedenfalls trauten der Kommission und Griechenland nicht, und die Risikoprämien für griechische Staatsanleihen stiegen wieder an. So endete der erste Akt mit einer Niederlage der Kommission. Sie schaffte es nicht, Griechenlands Staatsschuldenproblem zu bewältigen.

Zweiter Akt: Griechenland wird zahlungsunfähig

Der zweite Akt beginnt mit dem Staatsbankrott Griechenlands. Ein solcher gilt als eingetreten, wenn sich das Schuldnerland entschliesst, seine Schulden nicht weiter zu bedienen, oder wenn es keinen Gläubiger mehr gibt, der bereit ist, auch zu einem noch so hohen Zins griechische Staatsanleihen zu zeichnen, weil die Gefahr eines Gesamtverlusts höher ist als der erhoffte Mehrertrag aus höheren Zinsen. An diesem Punkt ist dann auch die Konversion alter in neue Anleihen nicht mehr möglich. Diese Situation war Ende April dieses Jahres für die im Mai fällig werdenden griechischen Anleihen gegeben.

Mit dem Eintritt des Staatsbankrotts endet formal die Zuständigkeit der EU-Kommission aus dem Stabilitäts- und Wachstumspakt. Es war der ausdrückliche Wille der Unterzeichner des Lissabon-Vertrags, sich nicht in den Strudel eines Staatsbankrotts hineinziehen zu lassen. So kam die No-Bailout-Klausel nach Artikel 125 zustande.

Souveräne Staaten wenden sich in solchen Fällen normalerweise an eine Gläubigerversammlung, die mit den bedrohten Staaten ein Umschuldungsabkommen aushandelt. Geschäftsbanken haben dafür eigens den Londoner Club gegründet, eine lose Vereinigung von Gläubigerbanken, die geschlossen dem Schuldnerland gegenübersteht und mit ihm eine Lösung sucht. Das hat auch seinen Sinn; denn beide, Banken wie Privatgläubiger, haben die Lage falsch eingeschätzt und entsprechend falsch investiert, wofür sie jetzt die Konsequenzen zu tragen haben.

Bei internationalen Anleihen – wie das im Fall Griechenlands zutrifft – können die Heimatstaaten den betroffenen Banken helfen, einen Liquiditätsengpass zu überwinden, falls sie dies wollen. Ergänzend könnte der Internationale Währungsfonds (IWF) Griechenland unter die Arme greifen, um zu helfen, jene Übergangszeit zu überwinden, in der das Land wegen des Staatsbankrotts nicht kreditfähig ist. Griechenland würde aus eigenem Interesse die notwendigen Strukturmassnahmen treffen, um wieder kreditfähig zu werden. So wäre es möglich, das Insolvenzproblem Griechenlands nach vielfach bewährtem Muster früherer Fälle zu lösen.

Es sollte jedoch anders kommen. Warum? Als souveräner Staat würde Griechenland seine Zahlungsfähigkeit ausserhalb der Währungsunion wiederherstellen. Das missfiel der EU-Kommission. Denn souveränes Handeln geht zu Lasten ihrer Macht, und das musste um jeden Preis verhindert werden. Folglich musste die Kommission Griechenland ein vorzugswürdiges Angebot unterbreiten, koste es, was es wolle. So entstand der Vorschlag eines Bailout. Die Begründung – nur so liessen sich mögliche Kettenreaktionen in Portugal, Spanien, Italien vermeiden – vermag angesichts der nur dünnen Kreditbeziehungen dorthin kaum zu überzeugen. Weiter hiess es, die Schuldenauslösungen seien bloss «Kredite» und als solche vertragskonform. Dass aber «Kredite» eine Rückzahlung verlangen, wurde wohlweislich verschwiegen.

Lissabon-Vertrag hin oder her, eine für die Macht der Kommission nachteilige Umschuldung wurde abgewendet. Sie blieb Herrin des Geschehens und konnte sich als grosse Retterin präsentieren. So erklärt sich auch die Äusserung des Sprechers von EU-Wirtschaftskommissar Olli Rehn, der sagte: «Eine Umschuldung kommt nicht in Betracht.» Der deutsche Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble verteidigte das Massnahmenpaket, indem er argumentierte, dass es nicht nur Griechenland helfe, sondern auch den Euro stütze. Davon kann aber nicht ausgegangen werden. Richtig wäre Schäubles These nur, wenn dadurch die Nachfrage nach Euros angehoben würde. Das ist jedoch nicht der Fall, da sich die Geldnachfrage nicht erzwingen lässt. Die Kommission hat sich hier in Probleme eingemischt, für die sie zu Recht keine Kompetenz hat. Denn für Fragen der Geldpolitik in der Eurozone ist die Europäische Zentralbank (EZB) zuständig.

Die Griechenlandrettung der Kommission kann aber auch finanziell nicht überzeugen. Statt die Erfahrungen mit Staatsschuldenkrisen der letzten Jahrzehnte und die damit verbundenen Institutionen wie beispielsweise den Londoner Club zu nutzen, wollte es die Kommission besser wissen und das Problem nach ihrem eigenen Rezept lösen. Dieses erwies sich als ausserordentlich kostspielig. Von allen grossen Staatsschuldensanierungen der letzten 15 Jahre ist diejenige Griechenlands mit Abstand die teuerste. Sie kostete, wie aus der abgebildeten Tabelle hervorgeht, mehr als doppelt so viel wie die Sanierung der Finanzen vergleichbarer Staaten und birgt darüber hinaus erhebliche Risiken.

Griechenland ist, gemessen am Sozialprodukt und der Bevölkerungszahl, ein kleines Land. Dennoch beansprucht die Kommission zu seiner Sanierung eine nie dagewesene Summe von fast 110 Mrd. Euro oder 140 Mrd. US-Dollar bis 2013, und in den Folgejahren dann möglicherweise noch weit mehr – die moralischen Risiken (moral hazard) für andere Euro-Staaten, die vor ähnlichen Herausforderungen stehen, und daraus resultierende Kosten nicht eingerechnet.

Grosses Aufsehen erregte vor einigen Jahren Argentinien, das im Januar 2001 einen Staatsbankrott erlitt. Es wurde zunächst mehrfach vom IMF unterstützt, kam aber um eine Umschuldung seiner Staatsverbindlichkeiten nicht herum. Der IMF unterstützte Argentinien in den Krisenjahren mit maximal 34 Mrd. US-Dollar. Auch Indonesien, ein viel grösseres Land, musste mit 12 Mrd. US-Dollar auskommen.

Doch all diese Fälle sind, gemessen an der Unterstützung Griechenlands, bescheiden. Vergleichbar ist höchstens der Fall Mexikos, das sich 1995 nicht mehr in der Lage sah, die an den US-Dollar gebundenen Tesobonos zu bedienen. Der IMF und die USA befürchteten einen Vertrauensverlust auf den internationalen Kapitalmärkten und stellten daher die Finanzmittel zur Sicherung der Anleihen zur Verfügung, was sehr umstritten war. Der IMF steuerte 18 Mrd. US-Dollar, die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich 13 Mrd. US-Dollar und die USA weitere 20 Mrd. US-Dollar bei. Doch selbst dieser grosszügige Bailout belief sich (zu konstanten Preisen) auf weniger als die Hälfte des Bailouts von Griechenland.

In den angeführten Fällen waren die Kosten für den Auslöser vor allem deshalb weniger hoch, weil die Gläubiger an der Sanierung mitbeteiligt wurden. Auch nutzten die Regierungen das Instrument der Abwertung. In Griechenland wäre letzteres auch möglich, erforderte aber einen Austritt aus dem Euro, was eine Reihe von Umstellungsproblemen hervorrufen und die Wirkung des Instruments schwächen würde. Das alles ändert jedoch nichts daran, dass der enorme Kostenumfang einer Rechtfertigung bedarf.

Und was ist am Ende des zweiten Aktes herausgekommen? Griechenland wurde durch einen einmaligen Kraftakt der Steuerzahler der Euro-Staaten, insbesondere Deutschlands, gerettet. Es wurde für sehr viel Geld Zeit gekauft, um den griechischen Haushalt wieder in Ordnung zu bringen. Ob dies langfristig gelingt, ist jedoch mehr als fraglich. Dies zeigen die noch immer hohen Risikoprämien der griechischen Staatsanleihen. Auch der Euro blieb nach wie vor schwach. Was sollte also die Kommission angesichts des mageren Ergebnisses und der hohen Kosten tun? Sollte sie Fehler eingestehen, sich zurückhalten, um nicht noch mehr Geld in den Sand zu setzen? Nein, viel näherliegend ist es für sie, den Einsatz noch einmal zu verdoppeln. Damit wird der dritte Akt des Dramas eröffnet.

Dritter Akt: die Spekulation

Die Frage also war: was könnte zum Anlass einer erneuten Initiative der Kommission werden? Ein Sündenbock musste gefunden werden – die «Spekulation». Statt griechische, portugiesische und spanische Staatsanleihen zu kaufen, so hiess es, würden Spekulanten solche verkaufen, ja sogar leerverkaufen, sodass die Kurse der Staatspapiere sänken, die Zinsen und die Refinanzierungskosten stiegen. Ehrliche Sparanstrengungen der Regierungen würden dadurch konterkariert und betroffene Staaten kämen aus dem Teufelskreis der steigenden Verschuldung nicht mehr heraus.

Doch dieses Argument ist nicht zu Ende gedacht. Zwar spielen manche Spekulanten als «Bären», weil sie denken, dass die Kurse der Staatsanleihen fallen. Doch wenn sie es zu weit treiben, werden andere als «Bullen» auftreten, Staatspapiere kaufen und den Bären einen grossen Verlust bescheren. Der Optimismus der Bullen kann sogar überhandnehmen und die Kurse der Staatsanleihen zu weit nach oben treiben, was die Bären merken und die Bullen mit Verkäufen abstrafen.

Bären und Bullen tun deshalb gut daran, sich an den wahren Kapitalwert der Staatsanleihen zu halten, der seinerseits eine Funktion der Haushaltspolitik der Regierung ist. Kursschwankungen ergeben sich also nicht aus der Bösartigkeit der Spekulanten, sondern weil es schwierig ist, die Fundamentaldaten eines Staatshaushalts objektiv und eindeutig festzustellen, und weil die Einschätzungen daher auseinandergehen. Dies gehört zum normalen Funktionieren der Märkte, und die Kommission kann somit weitere Aktionen der Union nicht damit begründen, dass «ein Mitgliedstaat aufgrund von … aussergewöhnlichen Ereignissen, die sich seiner Kontrolle entziehen, von Schwierigkeiten betroffen oder von gravierenden Schwierigkeiten ernstlich bedroht [ist]» (Art. 122 Abs. 2 AEU-Vertrag).

Denn weder sind Spekulationen aussergewöhnlich, noch sind sie der Kontrolle des Mitgliedstaates entzogen. Das gilt auch für die Spekulation in Staatsanleihen dritter Staaten. Die Nachricht über die Zahlungsunfähigkeit des Staates A kann «Bären» dazu veranlassen, Staatsanleihen von B zu verkaufen, falls dessen Haushaltsgebaren dazu Anlass gibt. Wiederum werden «Bären» und «Bullen» testen, wessen Einschätzung sich als zutreffender erweist. Die Sündenbocktheorie trägt also nicht, und weil sie nicht trägt, lässt sich ein Eingriff aufgrund von Art. 122 des AEU-Vertrags nicht rechtfertigen. Dennoch zog ihn die Kommission heran, um vom Finanzministerrat am 9. Mai den sogenannten Notfallrettungsschirm von 750 Mrd. Euro beschliessen zu lassen. Eine klare Vertragsverletzung.

Aber wie konnte es dazu kommen? Hier zeigt sich die generalstabsmässige Planung der Kommission. Sie stellte die vorgängige Sitzung der Staats- und Regierungschefs vom 7. und 8. Mai 2010 unter den unverfänglichen Titel «Treffen zum Thema Finanzhilfen für Griechenland und Lehren aus der Krise für das Euro-Währungsgebiet». Damit schuf sie einen Rahmen, in den ambitionierte Regierungschefs alle möglichen Ideen einbringen konnten. Offenbar dramatisierte der französische Präsident Sarkozy die Lage durch markante Statements wie z.B.: «Die Eurozone geht durch die schlimmste Krise seit ihrem Bestehen.»1) Unter Zeitdruck gesetzt, liessen sich die anderen Teilnehmer überreden und meinten schliess-lich: «Die meisten Leaders wünschen ein klares Zeichen in Richtung eines permanenten Rettungsmechanismus, um das Aufkommen einer neuen Griechenlandkrise zu vermeiden.»2) Mit Blick auf Bundeskanzlerin Merkel heisst es dann: «Deutschland war dagegen, weil Regionalwahlen bevorstanden und weil zu erwarten war, dass die Wähler einen solchen Schritt ablehnen.»3)

Seltsamerweise taucht in den Berichten über die Sitzung das Argument der Verteilung der Kostenlasten gar nicht erst auf. Frau Merkel lenkte in der Debatte, die die ganze Nacht andauerte, schliesslich ein. Am frühen Morgen des 8. Mai wurde einvernehmlich beschlossen: «[Es] wird die Kommission unter Berücksichtigung der aussergewöhnlichen Ereignisse einen europäischen Stabilisierungsmechanismus zur Wahrung der Finanzmarktstabilität in Europa vorschlagen. Dieser Vorschlag wird dem Rat (Wirtschaft und Finanzen) auf einer ausserordentlichen Tagung, die der spanische Vorsitz am Sonntag, den 9. Mai 2010 einberufen wird, zur Entscheidung vorgelegt.»4) Über den Umfang des Stabilisierungsmechanismus wurde an dieser Sitzung noch kein Beschluss gefasst. Die Rede war von etwa 50 Mrd. Euro.

Die Kommission liess sich nicht lange bitten. Innerhalb weniger Stunden erarbeitete sie ein Paket bestehend aus (a) 60 Mrd. Euro, finanziert aus dem EU-Haushalt und Krediten; (b) bilateralen Krediten der Euro-Mitgliedstaaten, gebündelt in einer EU-Zweckgesellschaft, in Höhe von bis zu 440 Mrd. Euro; und darüber hinaus (c) steuert der IMF 250 Mrd. Euro hinzu. Zusammen ergibt sich somit ein Paket im Volumen von 750 Mrd. Euro. Dieses Paket legte die Kommission den am 9. Mai tagenden Finanzministern vor. Diese sahen sich offensichtlich durch den Beschluss des Europäischen Rates vom Vortag gebunden und liessen den Vorschlag der Kommission aufgrund des genannten Art. 122 Abs. 2 des AEU-Vertrags passieren. Perplex lasen die Bürger Europas am folgenden Montagmorgen in den Zeitungen, was übers Wochenende geschehen war.5)

Aus diesem dritten Akt ging die Europäische Kommis-sion eindeutig als Siegerin hervor. Sie konnte ihre Kompetenz massiv ausweiten und verfügt nun über einen Kreditrahmen, der bis zu fünfmal grösser ist als der EU-Haushalt des Jahres 2010. Nicht nur seine Vertragsmässigkeit und sein Volumen sind umstritten, sondern vor allem auch seine Wirkungsweise. Für Defizitstaaten stellt er ein Signal dar, sich auf Kosten der Zahlerstaaten weiter zu verschulden. Ihr moralisches Risiko wird gestärkt, weshalb viele urteilten, die EU werde zu einer Transferunion.

Vierter Akt: Überwachung und Koordination der Euro-Staaten

Schon am 12. Mai, zwei Tage nach den Beschlüssen der Finanzminister, erliess Währungskommissar Olli Rehn Vorschläge zur fiskalischen und zur makroökonomisch-wettbewerblichen Überwachung und Koordination der Eurostaaten. Ein solches Korrektiv war konsequent, nachdem die Wirtschafts- und Finanzminister zuvor das Scheunentor für Hilfszahlungen weit geöffnet hatten. Aber es ging weit über fiskalische Eingriffe hinaus.

Im Zentrum der fiskalischen Überwachung und Koordination steht die Vorabkontrolle der nationalen Haushalte durch die EU. Das bedeutet, dass eine EU-Peer-Gruppe prüfen soll, ob der von einem Mitgliedstaat vorgelegte Haushalt mit den EU-Zielen übereinstimmt, bevor die nationalen Parlamente darüber Beschluss fassen dürfen. Zur weiteren Durchsetzung der EU-Ziele sind anfänglich «blaue Briefe» der Kommission und in späteren Stadien Subventionskürzungen aus dem Kohäsionsfonds vorgesehen. In besonderen Fällen soll der am 9. Mai 2010 von den Finanzministern beschlossene Hilfsfonds – nunmehr auf eine permanente Grundlage gestellt – eingesetzt werden. Staaten, die mit ihren Haushaltsmitteln auf Dauer nicht zurechtkommen, sollen also eine dauernde Haushaltsunterstützung – eine Art nicht zweckgebundenen Finanzausgleich – erhalten.6)

Zusammenfassend lässt sich festhalten: Sollten die nationalen Budgetverfahren tatsächlich so strukturiert werden, ginge dies weit über eine bundesstaatliche Zentralisierung wie beispielsweise in den USA hinaus. Der Staatsstreich der Kommission wäre geglückt. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass administrative Budgetvorschriften selten das halten, was sie versprechen. So war es auch beim Stabilitäts- und Wachstumspakt. Strenges Durchgreifen ist löblich. Aber die Kommission wird ein Gewirr von Ausnahmen gewähren. Selbst Regierungen, die sich, wie die französische, zur Planwirtschaft bekennen, weichen zurück, wenn sie selbst betroffen sind.

Nicht weniger problematisch ist die makroökonomisch-wettbewerbliche Überwachung, hinter der die französische Idee des «gouvernement économique» steht. Diese soll aufgrund von Kennziffern erfolgen, die für jeden Eurostaat auf einer «Anzeigetafel» geführt und verglichen werden. Übermässige Abweichungen nach unten, aber auch nach oben sollen korrigiert werden. Beispielsweise kann Griechenland dazu angehalten werden, seine Wettbewerbsfähigkeit anzuheben, wenn seine Kennziffern schlecht sind. Umgekehrt wird davon gesprochen, dass Deutschland dazu angehalten werden müsse, seinen Leistungsbilanzüberschuss abzubauen, damit andere Mitgliedstaaten aus ihrem Leistungsbilanzdefizit herauskämen. Doch Kennziffern taugen dazu kaum. Sollen die genannten Strukturziele tatsächlich erreicht werden, so müssen Märkte durch Planung ersetzt werden. Ein fataler Schritt.

Schluss: ein neues Paradigma des Föderalismus

Die Griechenlandkrise stellt für die Eurostaaten und ihre Steuerzahler eine leidvolle Erfahrung dar. Sie alle sind geschwächt, während einzig die Europäische Kommission gestärkt aus der Krise hervorgegangen ist. Trotz massiven Fehlern im Krisenmanagement gewann sie, durch schrittweise Steigerung ihres Einsatzes an Instrumenten, an Einfluss. Sie warf nach jedem Akt zusätzliche Mittel in die Waagschale und machte so aus einer kleinen eine grosse Krise. Dabei wurden bisherige Eckpfeiler des Lissabon-Vertrags wie die No-Bailout-Klausel von Art. 125, die Beschränkung finanziellen Beistands auf «aussergewöhnliche Ereignisse», die sich der Kontrolle des Mitgliedstaats entziehen, nach Art. 122 Abs. 2 und das Schuldenaufnahmeverbot von Art. 311 des AEU-Vertrags durch Umdefinitionen aufgehoben. Es entstanden neue Politikinstrumente, über die jetzt die Kommission verfügt.

Die von der Kommission vorgeschlagene fiskalische und makroökonomisch-wettbewerbliche Überwachung impliziert ein völlig neues Paradigma des Föderalismus in Europa. Föderalismus wird nicht mehr als Ordnungsprinzip verstanden, unter dem Menschen unterschiedlicher Staaten miteinander Handel treiben und Regierungen untereinander im Wettbewerb stehen, sondern als Versagen, weil nicht alle Staaten in einem Glied marschieren. Die Kommission fühlt sich herausgefordert, die Mitgliedstaaten zu überwachen und sie im Falle von Abweichungen wieder ins Glied zu bringen, d.h. die langsamen anzutreiben und die raschen zu bremsen. Was im Konkreten rasch und was langsam bedeutet, wird nicht mehr durch die Interaktion der einzelnen, sondern durch einen kollektiven Beschluss festgelegt; neue Ideen sind zu rechtfertigen und ihre Umsetzung wird zustimmungspflichtig.

Unter dem Verwaltungsprinzip gilt nicht der Fortschritt, sondern der Status quo. Es ist daher abzusehen, dass nicht mehr der Fortschrittlichste, sondern der Langsamste das Tempo der Union vorgibt.

1) Reuters, 9. Mai 2010. http://www.reuters.com/article/idUSTRE6400PJ20100508.

2) Euractiv Network 10. Mai 2010. http://www.euractiv.com/de/finanzdienstleistungen/eurogruppe-beschliesst-krisenplan-zur-marktberuhigung-news-493958 – Zeitduck wurde geschaffen, weil die Vorlage vor Börsenbeginn am folgenden Montag beschlossen sein sollte.

3) ebenda

4) Erklärung der Staats- und Regierungschefs des Eurowährungsgebiets vom 7. Mai 2010.

5) Reuters, 10. Mai 2010. http://www.reuters.com/article/idUSTRE6490A820100510

6) Communication from the Commission to the European Parliament, the European Council, the Council, the European Central Bank, the Economic and Social Committee and the Committee of Regions. Reinforcing economic policy coordination, Brussels, 12.5.2010 COM(2010) 250 final.

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