(1/2) «Auch im Gedicht Regeln beachten!»
14 Jahre sogenannte neue Rechtschreibung Die Reformer lassen die Autoren nicht mehr ausdrücken, was sie ausdrücken wollen.
Der deutsche Dichter Durs Grünbein hat die dritte Satire des Römers Juvenal übersetzt und mit einem packenden Essay eingeleitet. In der Übersetzung verwendete er die adverbiale Formel «eines Tages», schrieb sie aber, dem Auge und Ohr ungewohnt, «einestags», worauf der gewissenhafte Sekretär, der das Manuskript prüfen musste, einen Bleistift ergriff und mit drei beschwörenden Ausrufezeichen an den Rand setzte: «!!Auch im Gedicht möglichst Regeln beachten!»
Wo stehen diese Regeln? Im Rechtschreibwörterbuch. Das heute weitestverbreitete und einflussreichste hat seinen Namen vom Gymnasiallehrer Konrad Duden (1829–1911), der im Jahre 1880 erstmals sein «Vollständiges Orthographisches Wörterbuch der deutschen Sprache» herausgab. Es ist im Laufe seiner Geschichte immer wieder als Gesetzbuch missverstanden worden. Walter Heuer aber, einst Chefkorrektor der NZZ und Verfasser der Sprachschule «Richtiges Deutsch», stellte ihm ein anderes, treffenderes Zeugnis aus und nannte es «ein sehr nachsichtiges, oft wohl zu nachsichtiges, den Entwicklungen der lebendigen Sprache weit offenes Regelbuch». Mit dieser Nachsicht und Offenheit war vor vierzehn Jahren Schluss, als der Duden die sogenannte neue Rechtschreibung mit all ihrem Höllen- und Regelzwang übernahm.
Man tat es widerwillig; der Leiter der Dudenredaktion, Günther Drosdowski, schrieb 1996 dem Reformkritiker Theodor Ickler: «Mir erlegten Anweisungen der Kultusministerien und die Verlagsräson auf, dass ich die Reform mit trage, aber es ist nicht meine Reform.» Drosdowski hätte die zahlreichen Fehler der Reform öffentlich kritisieren müssen, anstatt sie zu verbreiten. Die folgenden langen Jahre waren gezeichnet von heissblütigen Auseinandersetzungen und halbherzigen Verbesserungen – den bisher letzten Versuch legte der Rat für deutsche Rechtschreibung im Jahre 2006 vor. Und heute?
Heute müssen die Dichter ihre Texte vor untauglichen Rechtschreibregeln schützen. Das hat die Interessengemeinschaft österreichischer Autorinnen und Autoren getan, indem sie mit den Schulbuchverlagen einen Vertrag aushandelte, der Eingriffe in die Gestalt der Texte verbietet: «Im Rahmen der Freiheit der Kunst nehmen Autorinnen und Autoren das Recht in Anspruch, eine vom verordneten Standard abweichende Rechtschreibung zu verwenden. Dieses Recht auf Integrität eines Kunstwerkes schließt ausdrücklich die Ablehnung ganzer Orthographiereformen oder bestimmter Teile davon ein.» Abgelehnt wird die Reform inzwischen auch von ihren Auftraggebern, den Kultusministern Deutschlands, wie einer Stellungnahme der Ministerin Wanka, die im Jahr 2005 Präsidentin der Kultusministerkonferenz war, zu entnehmen ist: «Die Kultusminister wissen längst, dass die Rechtschreibreform falsch war. Aus Gründen der Staatsräson ist sie nicht zurückgenommen worden.»
Aus dem Privatgebiet des Handschriftlichen in die
Öffentlichkeit des Drucks
Ob in einem Text die ungewohnte Bildung «einestags» steht, das entscheidet nicht der Duden oder ein Korrekturprogramm. Es geht hier vielmehr um Möglichkeiten des Ausdrucks und Stils, die ein sprachbewusster Lektor mit dem Autor klärt. Der Lektor steht an der Grenze zwischen dem «Privatgebiet des Handschriftlichen» und der «Öffentlichkeit des Drucks», um Begriffe zu verwenden, die Christian Morgenstern, der auch Lektor war, in einem Brief an Robert Walser prägte. Diese Grenze überschreitet der Autor von Berufs wegen, und dabei beugt er sich bei aller künstlerischen Freiheit einer Gegebenheit: da er gelesen und verstanden werden will, will er für seine Texte die bestmögliche Form; er beugt sich, oder besser fügt und neigt sich dem Sprachgefühl und den Lesegewohnheiten der Sprachgemeinschaft. Hie und da wagt er etwas Neues, und wenn seine Neubildung aufgenommen und weiterverwendet wird, so findet sie schliesslich einen Platz im Wörterbuch. Was im Wörterbuch steht, bestimmt also letztlich die Sprachgemeinschaft, und Regeln sind tauglich, wenn sie aus dem allgemein Üblichen abgeleitet werden. Mit Beginn der Rechtschreibreform aber stellte sich eine Kommission des Staates über die Sprachgemeinschaft und entzog ihr zahllose Wörter. So stand im Duden des Jahres 1996 plötzlich statt «greulich»: «gräulich», statt «wohlbekannt»: «wohl bekannt», statt «wiedersehen»: «wieder sehen».
Die Willkür, mit der die Reformer vorgingen, zeigt sich am Wort «behende» (flink), das zu «behände» umgedeutet wurde. Begründung: «Wer ‹behände› ist, ist ‹schnell bei der Hand›.» In Wahrheit dachte schon Luther nicht mehr an die Herkunft des Wortes und übersetzte 1534 einen der Sprüche des Alten Testamentes so: «Sechs Stück haßt der Herr: Füße, die behende sind, Schaden zu tun.» Diesen Sprachgebrauch bestätigte am Ende des 18. Jahrhunderts der Orthograph Johann Christoph Adelung: «Behende stammt unstreitig von Hand ab, aber der Begriff ist so sehr geändert worden, daß die Abstammung zur Verständlichkeit nichts beitragen kann, sondern selbige nur stören würde, daher behält man in allen solchen Fällen lieber das e bei.» So blieb es, bis der Staat eingriff.
Entlastung vom Transport semantischer Informationen
Regeln müssen sich nicht im Wörterbuch bewähren, sondern in lebendigen Sätzen. Wer im Wörterbuch liest, dass «wohlbekannt» als «wohl bekannt» zu schreiben sei oder dass man – eine der halbherzigen Verbesserungen des Rates für Rechtschreibung – unterschiedslos «wohl bekannt» und «wohlbekannt» verwenden könne, der ist geneigt, zuzustimmen. Beim Lesen von Sätzen aber merkt er, dass er nicht versteht. Die Reformer haben, wie sie sagten, die Absicht, «die Schreibung vom Transport semantischer Informationen zu entlasten». Damit wird Schreiben sinnlos; wer schreibt, will doch gerade semantische Informationen weitergeben. Die Reformer lassen die Autoren nicht mehr ausdrücken, was sie ausdrücken wollen. Das zeigen ein paar Beispiele aus Poesie und Prosa, wobei immer ein ganz alltägliches Wort in Frage steht
Friedrich Rückert:
«Die Verwandlungen des Abu Seid von Serug oder die Makamen des Hariri»
Grau macht die Zeit, die greuliche;
Trau nicht auf die untreuliche!
Sie lacht dir einen Augenblick,
Und grinst dann, die abscheuliche.
Die «gräuliche» Zeit, wie die Reformer verlangen, ist eine «angegraute» Zeit, und das meint Rückert nicht.
Franz Kafka: «In der Strafkolonie»
«Es ist ein eigentümlicher Apparat», sagte der Offizier zu dem Forschungsreisenden und überblickte mit einem gewissermassen bewundernden Blick den ihm doch wohlbekannten Apparat.
Der Rat für Rechtschreibung meint, dass ein «doch wohl bekannter» Hinrichtungsapparat dasselbe sei.
Ingeborg Bachmann: «An die Sonne»
Schönes Licht, das uns warm hält, bewahrt und wunderbar sorgt,
Daß ich wieder sehe und daß ich dich wiederseh!
Die Reformer haben ihren Irrtum, dass man «wiedersehen» durch «wieder sehen» ersetzen könne, berichtigt. Der Schweizer Schülerduden (2006) hält an ihm fest.
Friedrich Nietzsche: «Götzen-Dämmerung»
«Erzieher tun not, die selbst erzogen sind, überlegene, vornehme Geister.» «Selbsterzogene» Erzieher haben einen anderen Werdegang. War von 1996 bis 2004 nur die Getrenntschreibung richtig, so gilt seither die falsche Gleichsetzung «selbst erzogen = selbsterzogen».
Hilde Domin: «Das ist es nicht»
deine Handvoll Asche
das ist es nicht
obwohl es auch das ist
Das Wort «Handvoll» (Hampfle, Hämpfeli) musste von 1996 bis 2006 getrennt werden, seither wird es mit «Hand voll» gleichgesetzt. «Deine Hand voll Asche» wäre ein ganz anderer dichterischer Einfall.
Erich Kästner: «Notabene 45»
Die Wirtschafterin kämpfte in der Küche wie ein Löwe. Doch sie brachte die heißersehnten und heiß ersehnten Bratkartoffeln trotzdem nicht zustande.
Das Adjektiv «heißersehnt» musste bis 2004 getrennt werden. Auch hier gilt heute die falsche Gleichsetzung.
Das Sätzebuch der Reformfehler hat tausend Seiten. Wer in ihnen blättert, muss zur Kenntnis nehmen, dass diese Fehler trotz vierzehn Jahren Kritik nicht wesentlich verbessert worden sind. Noch immer gelten Regeln, die man beim besten Willen nicht beachten kann.
Es ist besser, keine Satire zu schreiben!
Juvenals bekanntester Satz sagt, dass es manchmal schwierig sei, keine Satire zu schreiben (difficile est saturam non scribere). Wo träfe er schärfer zu als bei dieser Reform? Was immer man über sie schreibt, wird von selbst Satire. Aber nicht nur, weil es so einfach wäre, ist es besser, nicht satirisch zu werden. Eine Folge der Satire: auf schreiendstes Unrecht und gröbsten Unsinn antworten wir mit schallendem Lachen oder feinem Schmunzeln. Und über dem Lachen und Lächeln vergessen wir das Handeln, und wir vergessen es gerne. Die Flucht in die Satire hat eine lange Geschichte. Jetzt ist es Zeit, die Lage neuzubeurteilen und etwas zu tun.
Literaturhinweise
Wer wissen will, ob der Lektor dem Dichter Grünbein
die adverbiale Formel «einestags» zugestanden hat, lese:
• Durs Grünbein: «Bruder Juvenal. Satire als
andauernde Gegenwart». In «Mythos im Alltag,
Alltag im Mythos», hrsg. von Christine Schmitz. München: Wilhelm Fink, 2010.
Gewichtige Bemerkungen zur sogenannten neuen Rechtschreibung bietet:
• Elmar Holenstein: «Chinesisches in europäischen Alphabetschriften». In «China ist nicht ganz anders». Zürich: Ammann, 2009.
In die Mitte der Probleme führt:
• Ludwig Laher: «Ixbeliebige Wahr-Zeichen? Über Schriftsteller-‹Hausorthographien› und amtliche Regelwerke». Innsbruck: StudienVerlag, 2008.
Eine knappe, anschauliche Übersicht über die herkömmliche Rechtschreibung gibt:
• Horst Haider Munske: «Lob der Rechtschreibung, Warum wir schreiben, wie wir schreiben». München: C.H. Beck, 2005.
Reiner Kunze spricht als Dichter und Staatsbürger in:
• «Die Aura der Wörter, Denkschrift zur Rechtschreibreform», Neuausgabe mit Zwischenbilanz. Stuttgart: Radius, 2004.
Die klassische Darstellung der Reform stammt von:
• Theodor Ickler: «Die sogenannte Rechtschreibreform. Ein Schildbürgerstreich». St. Goar: Leibniz, 1997.
Die Schweizer Orthographische Konferenz (SOK) hat Empfehlungen erarbeitet, welche die Fehler der Reform beheben. Kurzfassung:
• «Wegweiser zu einer einheitlichen und sprachrichtigen deutschen Rechtschreibung» (www.sok.ch).
Stefan Stirnemann, geboren 1960, ist Lehrer am Gymnasium Friedberg in Gossau SG und Gründungsmitglied der Schweizer Orthographischen Konferenz (SOK).