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(0) Auftakt

In den Pflegefamilien wurden sie meist nicht mit Namen genannt; sie hiessen schlicht Verdingmädchen oder Verdingbub. Noch vor 50 Jahren gehörten die Verdingkinder – ein Wort, das nur das Schweizerdeutsche kennt – zum ländlichen Alltag und arbeiteten für Kost und Logis bei fremden Bauern. Heutzutage rufen die nackten Zahlen meist ungläubiges Kopfschütteln hervor, und die […]

In den Pflegefamilien wurden sie meist nicht mit Namen genannt; sie hiessen schlicht Verdingmädchen oder Verdingbub. Noch vor 50 Jahren gehörten die Verdingkinder – ein Wort, das nur das Schweizerdeutsche kennt – zum ländlichen Alltag und arbeiteten für Kost und Logis bei fremden Bauern. Heutzutage rufen die nackten Zahlen meist ungläubiges Kopfschütteln hervor, und die Behandlung der Kinder Entsetzen. Tausende mussten schon als Kleinkinder schwere Arbeit verrichten, waren körperlichen und seelischen Misshandlungen ausgesetzt, erhielten nur eine rudimentäre Schulbildung, die wenigsten erlernten einen Beruf.

«Verantwortung», «Mitleid», «Liebe» oder gar «Kinderrechte» und «Selbstbestimmung», diese uns so selbstverständlichen Begriffe scheinen an den anderthalb Jahrhunderten abzuprallen, in denen das Verdingkindwesen besonders ausgeprägt war. Es ist, als ob zwei unvereinbare Wertewelten aufeinanderstiessen und die moralischen Katego­rien, die für uns heute gelten, mit jenen von damals in keinerlei Übereinstimmung zu bringen seien.

Es ist etwas anderes, die Gesellschaft zu beurteilen, in der man selbst lebt, als im Rückblick diejenige unserer Vorfahren. Entrüstung wird schnell billig, steht man ausserhalb der Verantwortung oder der historischen Epoche. Damit soll die Situation der Verdingkinder um keinen Strich verharmlost oder ihre Behandlung gerechtfertigt werden; es gibt, von allen historischen Bedingungen unabhängig, zeitlose moralische Gebote. Doch lohnt sich der Versuch, den zeitbedingten Kontext zu verstehen. Und sich damit der Beantwortung der Frage zu nähern, inwiefern es auch in unserer Zeit Phänomene gibt, die mit dem Verdingkindwesen vergleichbar sind. Kindersoldaten oder Kinderarbeiter etwa, die über die globalisierten Medien in unser Bewusstsein drängen. Oder, nicht ganz so in die räumliche Ferne gegriffen, die Tatsache, dass auch wir – auch heutzutage – möglicherweise nicht immer so zum Wohle des Kindes handeln, wie wir es zu tun meinen – oder vorgeben.

1836 machte Jeremias Gotthelf im «Bauernspiegel» auf die Situation der Verdingkinder aufmerksam. Im 20. Jahrhundert gab es als herausragende Gestalt Carl Albert Loosli, der sich in einer Vielzahl von Schriften des Themas annahm. Seit März 2009 läuft in Bern die Wanderausstellung «Verdingkinder reden», die in den nächsten fünf Jahren noch an mehreren weiteren Orten zu sehen sein wird.

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