(0) Auftakt
Ein ruhiges Zimmer, gar ein schalldichtes Zimmer, ersehnte sich Virginia Woolf. Keine Blicke von Dritten, die den Tod der Möglichkeiten bedeuten; keine Erwartungen, die uns in Rollen zwängen; kein Netzwerk, das uns als Knoten einbindet. In den eigenen vier Wänden sind wir befreit von den Zumutungen der Öffentlichkeit. Wenn wir mit uns allein sind, können […]
Ein ruhiges Zimmer, gar ein schalldichtes Zimmer, ersehnte sich Virginia Woolf. Keine Blicke von Dritten, die den Tod der Möglichkeiten bedeuten; keine Erwartungen, die uns in Rollen zwängen; kein Netzwerk, das uns als Knoten einbindet. In den eigenen vier Wänden sind wir befreit von den Zumutungen der Öffentlichkeit. Wenn wir mit uns allein sind, können wir die Gedanken schweifen lassen und müssen keine Haltung bewahren. Am Bahnhof, am Flughafen, bei der Arbeit können wir die Uhren nicht anhalten. Doch in unseren eigenen Räumen hindert uns niemand daran. Hier können wir uns die Zeit nehmen nachzudenken, ohne dabei den Abflug zu verpassen. Hier können wir zu uns finden, ohne uns darstellen zu müssen. Erst das eigene Zimmer, dann die geistige Freiheit, dann die Dichtkunst, das ist es, was Virginia Woolf den Studentinnen 1929 in Cambridge in ihrem Vortrag über «Frauen und Literatur» mitgeben wollte.
Wir brauchen das eigene Zimmer als den Ort, der das Private umgrenzt und die Öffentlichkeit draussen lässt. Jedenfalls solange wir dies so wollen. Und daher braucht es eine Tür mit Schloss und den Schlüssel in unseren Händen. Es lässt sich auch so ausdrücken: die Schlüssel zu den privaten Räumen sind wie die Haken und Ösen der Dessous. Beide markieren die Grenze zwischen privat und öffentlich. Daher ist das halbnackte Model auf den Werbeplakaten immer auch eine ambivalente Demonstration weiblichen Selbstbewusstseins.
Diktaturen unterlaufen die Grenzlinien zwischen privat und öffentlich, ihre Augen und Ohren sind überall. Sie kontrollieren den Zugang zu den Räumen und haben daher die Macht. Wenn das Bild von der Wand fällt und dahinter das Auge des «Telescreens» sichtbar wird, wissen Winston und Julia in George Orwells «1984», dass sie verloren sind und nie eine Privatsphäre besessen haben: «BIG BROHTER IS WATCHING YOU».
Die Frau daheim, gebunden an Herd und Kind. Der Mann da draussen, ungebunden die Sprossen der Karriereleiter erklimmend. So will es die Geschlechterstereotypie. Doch warum sehen wir es nicht so: der Mann da draussen, gebunden an die Karriereleiter? Die Frau, daheim und dennoch ungebunden, trotz Herd und Kind? Dank der Möglichkeit, den Schlüssel umzudrehen, nachzudenken, autonom zu werden? Um auf diese Weise gerüstet, sich gelassen der Öffentlichkeit zu stellen und ihre Karriereleiter zu erklimmen.
Suzann-Viola Renninger