(0) Auftakt
Begrenzungen sind Herausforderungen. Wie interessant ist etwa eine hohe Mauer! Wer ist da nicht in Versuchung, zumindest einmal darüberzuschauen oder gar darüberzuklettern. Ähnlich ergeht es uns mit den Grenzen unserer physischen und psychischen Leistungsfähigkeit: wir wollen darüber hinaus. Die Leistungssportler machen es uns vor, motiviert vom Ehrgeiz, getragen von Beharrlichkeit, unterstützt durch Trainingspläne und Drogen. […]
Begrenzungen sind Herausforderungen. Wie interessant ist etwa eine hohe Mauer! Wer ist da nicht in Versuchung, zumindest einmal darüberzuschauen oder gar darüberzuklettern. Ähnlich ergeht es uns mit den Grenzen unserer physischen und psychischen Leistungsfähigkeit: wir wollen darüber hinaus. Die Leistungssportler machen es uns vor, motiviert vom Ehrgeiz, getragen von Beharrlichkeit, unterstützt durch Trainingspläne und Drogen. Jede Überschreitung einer Weltbestmarke der Leichtathletik ist ein kleiner Triumph der Grenzverschiebung. Doch die Komparative «schneller», «weiter» und «höher» sind masslos, in ihnen ist die Formulierung «noch höher», «noch weiter», «noch schneller» angelegt. Ein ewiger Stachel im Fleisch unseres Ehrgeizes, der nach Grenzenlosigkeit und Vervollkommnung strebt.
Alles wissen, alles können, alles haben: unendlich klug, unendlich reich, unendlich schön – und unendlich jung, als die Krönung der überwundenen Endlichkeit. Wären wir, wenn auch diese letzte naturgegebene Grenze gesprengt ist, vollkommen? Wohl eher nicht. Denn auch Vollkommenheit ist eine Frage der Perspektive. Ob das Modell einer vollkommenen Nase oder eines vollkommen geformten Oberschenkels, das die Schönheitschirurgen und ihre Kundinnen vor Augen haben mögen, zu jeder Zeit als vollkommen gegolten hätte, ist zweifelhaft. Es ist wohl eher eine Frage der Kultur oder Mode. Vollkommenheit ist zeitabhängig. Womit wir wieder bei der Begrenzung angelangt wären. Und sich die Frage nach der Vervollkommnung der Vollkommenheit stellt. Vielleicht wird ja eines Tages möglich sein, wovon die Sciencefiction-Autoren fabulieren: das Leben in Parallelwelten. In unendlich vielen Parallelwelten könnten wir gleichzeitig in unendlich vielen Parallelleben leben, mit unendlich vielen Glücksversprechen (und unendlich vielen, jeweils auf ihre eigene Art vollkommenen Nasen und Oberschenkeln).
Doch zurück in die Gegenwart. Schon jetzt lässt die Medizin mehr und mehr die Grenzen ihrer ursprünglichen Aufgabe hinter sich, den Menschen von Krankheiten zu befreien sowie seine Verletzungen zu heilen, und beginnt – im Zusammenspiel mit dem technologischen Fortschritt – die menschliche Natur zu verbessern. Endpunkt wäre ein Hybrid aus Mensch und Maschine. Dies wäre der Gipfel der gegenseitigen Durchdringung des Animalischen und des Artifiziellen, der Natur und der durch unsere Kultur geschaffenen Technik.
Die Natur als Freund oder Feind, als Vorbild oder zu überwindender Gegenspieler. Eine Zukunft mit ihr oder gegen sie. Die Sammlung von Essays unseres Schwerpunkts versucht einige Antworten.
Suzann-Viola Renninger