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Weltuntergang in der Beiz

Acht Menschen zwischen 25 und 40 machen sich Gedanken zur Schweiz der Zukunft. Werden die Jungen bald von einem konservativen Rentnerheer beherrscht? Werden wir alle reicher? Werden wir besser? Oder gehen wir unter wie einst die Maya?

Weltuntergang in der Beiz
Generation Y, photographiert von Philipp Baer.

Michael: Freunde, wir hocken im gemachten Nest! Unseren Eltern ging es gut, wir konnten studieren, haben die ersten Schritte im Arbeitsleben gemacht und sind alle irgendwo untergekommen. Zugleich stellen wir aber fest: Wir befinden uns in einer Art wirtschaftlichen Dauerkrise, und die Geschicke des Landes werden immer mehr von Alten und Gesättigten beeinflusst – rein zahlenmässig sind sie uns schon überlegen, und der Überhang wird in den kommenden Jahren nur grösser. Seid ihr mit eurer Lage dennoch zufrieden? Oder machen sich Zeichen von Beunruhigung bemerkbar?

Olivia: Wir sind vermutlich die erste Generation, die wieder weniger haben wird als unsere Eltern, und das bedeutet auch: unsere Eltern haben deutlich mehr zu verlieren als wir. Es ist logisch, dass die Babyboomer ängstlicher ticken als wir. Sie sind eine verwöhnte Generation. Darum machen sie zu.

Max: Wenn das stimmt, müsste man unsere Eltern fragen: Warum wollen sie nur das weitergeben, was sie eh schon haben – und nicht die Chance auf etwas kulturell, wirtschaftlich, politisch Besseres? Sprich: ein offeneres, weniger reguliertes Umfeld, das uns das maximale persönliche Entfaltungspotential bietet? Bewahrung schön und gut, aber ihre Zukunft war offen – Grenzen sind allerorts gefallen. Nun schränken sie unsere fast täglich ein: vom Rauchverbot über das im Zuge der Masseneinwanderungsinitiative gekündigte Erasmus-Studenten-Austauschprogramm bis zur ausufernden öffentlichen Verschuldung.

Olivia: Weil es tatsächlich nicht besser wird! So wie es der Schweiz vor 1990 gegangen ist – besser kann es einem nicht mehr gehen.

Michael: So hat man vor 20 Jahren gedacht, vor 50 Jahren gedacht und irgendwo auf der Welt auch schon vor 60 oder 200 Jahren. Immer «konnte» es nicht besser werden. Wurde es aber.

Simon: Wir sollten die Vergangenheit nicht in die Zukunft extrapolieren: Nur weil wir mit dem Goldlöffel im Mund geboren wurden, heisst das noch lange nicht, dass es keine Phasen des Abschwungs oder der Regression geben kann. Auch lang anhaltende.

Michael: Egal, wie weit du zurückspulst: die Menschheit wurde im Schnitt nicht nur immer reicher, sondern über die Jahrtausende auch friedlicher, produktiver und cleverer.

Simon: Dein Optimismus in Ehren – aber wenn ich morgens meine Mitfahrer in der S-Bahn anschaue, bezweifle ich das. (lacht) Im Ernst: du kannst doch nicht abstreiten, dass es Zyklen gab, und also auch Perioden, in denen der Wohlstand oder zivilisatorische Errungenschaften massiv zurückgebunden wurden?

Michael: Natürlich gab und gibt es diese Zyklen, aber auf die lange Sicht gesehen hat die Menschheit den Wohlstand gemehrt, die Armut reduziert, bis anhin brachliegende Potentiale genutzt und erkannt, dass es sich im Frieden besser lebt als in dauernden Clan-Fehden. Es wurde also besser.

Christof: Wenn du Maya warst, wurde es nicht besser.

Michael: Klar. Für einige Schweizer, Deutsche oder Griechen vielleicht auch nicht – das ist aber für die weltweite Entwicklung relativ egal, denn der Menschheit geht es heute im Schnitt besser als vor 10, 50 oder 200 Jahren.

Niko: Und so wird es weitergehen, und zwar aus einem einfachen Grund: Die Leute wollen immer das, was ihre Nachbarn auch haben. Das ist das, was uns ständig raufschaukelt. Du willst gleichgestellt sein wie der neben dir, und wenn der neben dir den Ehrgeiz hat, irgendetwas zu leisten, dann willst du gleichziehen oder ihn sogar toppen. Es wird also immer irgendeinen geben, der irgendetwas besser macht als die anderen, und dann werden die anderen sich an ihm orientieren. Darum ist die Frage müssig, ob Wohlstand und Fortschritt den Peak erreicht haben – es wird mit beidem immer aufwärtsgehen, solange die Menschen halbwegs frei agieren können. Zwingend. Auch wenn du findest, Fortschritt sei nicht mehr nötig: Passieren wird er immer, und zwar nicht nur in der Schweiz oder Europa, sondern überall.

Max: Eben. Die Tatsache, dass China und Afrika aufstrebend sind, in welcher Grössenordnung auch immer, widerlegt ja, dass Europa eine Ausnahme ist. Überall spielt genau der gleiche Mechanismus.

Olivia: Aber bleiben wir doch zunächst in Europa. Der Grund dafür, dass es Europa heute – verglichen mit dem Rest der Welt materiell und kulturell – gut geht, liegt doch darin, dass die Mitteleuropäer nach dem Krieg bei null angefangen haben, ein riesiges Boomwachstum erlebten und nachher aufgrund von Protektionismus das Geld in den eigenen Reihen halten konnten. Aber die Zeit, in der Europa geistig und wirtschaftlich so hat vorherrschen können, ist vorbei.

Christof: Einspruch! Der Grund, dass es Europa trotz allem so gut geht, ist, dass es die dichteste Bevölkerung hatte, dass die Leute ausgewandert sind, dass sie andere Länder unterjocht und die Reichtümer nach Europa gebracht haben. Das ist die Grundlage, wenn wir Europa nicht erst vom Zweiten Weltkrieg her denken. Schauen wir uns heute an, wo wir in Europa stehen, stellen wir fest: Wir sind gesättigt, überaltert und glauben weiterhin, das Zentrum der Welt zu sein. Dadurch werden wir postdemokratisch – und geben auf, was Europa mal auszeichnete.

Michael: Was geben wir denn auf?

Christof: Die Kennzeichen unseres postdemokratischen Zeitalters sind, dass die Menschen sich verabschieden von der Gesellschaft, sich ins Private zurückziehen. Sie fühlen sich nicht mehr als Bürger, sehen sich selber nur noch als Konsumenten. Die eine Hälfte der Bevölkerung geht ja gar nicht einmal an die Urne, es interessiert sie offenbar einen Scheiss, worüber da abgestimmt wird. Und die andere Hälfte besteht aus zwei Blöcken, die sich gegenseitig so lange Floskeln um die Ohren hauen, bis auch bei ihnen das demokratische Interesse schwindet.

Niko: Ist das eine Wohlstandserscheinung? 50 Prozent der Leute haben offenbar kein dringendes Bedürfnis, irgendwas zu verändern. Es geht ihnen wohl einfach zu gut, es fehlt jeglicher Leidensdruck. Ist ja alles ganz okay, wie es ist, wieso also Abstimmungsunterlagen studieren? 50 Prozent Desinteressierte – vielleicht ist das ganz normal für eine Gesellschaft wie unsere.

Christof: Aber auch der Anteil der Verängstigt-Unvernünftigen nimmt zu. Und jener der Durchgeknallten, die dem sichersten Land der Welt weismachen wollen, dass es hier immer gefährlicher, unberechenbarer und dreckiger werde. Für die ist von vornherein klar: der beste Weg, alle neuen Unwägbarkeiten und Pro­bleme zu eliminieren, ist, den Fortschritt und den Wandel einfach zu verbieten. An der Urne.

Michael: Das klingt mir nun etwas gar düster.

Christof: Nein, im Ernst: Was in diesem Land fehlt, ist ein aufklärerischer Konsens!

Max: Das stimmt: Bei gefühltem Kontrollverlust klammert sich das Volk stets an die letzten Möglichkeiten, Dinge bestimmen zu können. Eigentlich egal, was es ist, sei es die Zuwanderung oder etwas anderes: wenn man irgendetwas noch bestimmen kann, dann reglementiert man es nur zu gerne. Die Leute wollen die Zügel nicht aus der Hand geben. Bester Nachweis für diese Tendenz ist die neue Bewunderung für Putin, die in weiten Teilen Europas im Zuge der Ukraine-Krise spürbar wurde. Putin ist der Gegenentwurf zum langsamen, demokratischen Weg der Entscheidungsfindung, mit dem immer mehr Leute offenbar unzufrieden sind.

Olivia: In der Schweiz ist dieser Prozess Folge einer grossen Desillusionierung, würde ich sagen. Vom Swissair-Grounding bis zur Staatsrettung der UBS: das sind alles alte Institutionen, die gefallen sind. Was man nie für möglich gehalten hätte. Da sehnt man sich doch nach einem vermeintlich sicheren Hafen oder, besser noch, nach starken Figuren, die sagen, wo’s politisch langgeht.

Niko: Man sehnt sich nach Autoritäten zurück? Das klingt nun doch etwas unschweizerisch…

Olivia: Aber es ist so. Und man darf das auch nicht klein- oder wegreden. Ich finde das eine sehr verständliche Sehnsucht.

Christof: Wenn es mit den Schweizern denn wirklich so weit ist, sind wir wohl verloren.

Olivia: Na ja, diese politisch-wirtschaftlichen Härten haben natürlich auch ihr Gutes. Sie öffnen uns die Augen. In den letzten Jahren hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, die Schweiz sei ein bisschen weniger Disneyland geworden. Es tut gut, mal die Augen aufzumachen. Schaut euch nur mal an, wer in Harvard ist, wer in Yale ist, wer an der Wall Street arbeitet. Das sind keine Europäer, schon gar keine Schweizer. Dann wird klar: wir sind im weltweiten Vergleich nicht sehr gut ausgebildet, haben zum Beispiel auch wenig Ahnung von zukunftsträchtigen Branchen, etwa von Nanotechnologie oder IT. Schuld daran tragen übrigens nicht zuletzt unsere Eltern, die Informatik in der Schule wohl bis heute weniger wichtig finden als Hauswirtschaft, aber auch wir – wir haben all die Märchen von der Bildungselite geglaubt, die uns gutmeinende Lehrer im Gymnasium erzählt haben.

Max: Und dann sagst du: «Das ist der Peak und besser kann’s nicht werden»?! Wenn wir in Bildung und Vernetzung nicht top of the World sind, können wir doch logischerweise noch besser werden! Und das muss doch unser Ziel sein, nicht die Lethargie.

Christof: Wir sind international eigentlich nie ein Land der Spitze gewesen, in keinem Bereich. Die Schweiz hat sich immer vor allem dadurch ausgezeichnet, dass sie in dem, was sie gemacht hat, ganz bodenständig und präzise war: von der Uhrenindustrie über den öffentlichen Verkehr bis zur Ansiedlung weltweit tätiger Institutionen wie des Roten Kreuzes. Aber die Leute, die das angerissen, aufgebaut und am Leben gehalten haben, waren häufig eben keine Schweizer, sondern Experten oder Arbeiter aus dem Ausland. Die haben wir importiert.

Max: Die Schweiz hat schon vor 100 Jahren clevere Menschen aus der ganzen Welt angezogen und sich zu einem Hub entwickelt – aufgrund der funktionierenden Institutionen. Die sind das A und O. Und wir sollten sie pflegen. Wenn sie nämlich heruntergewirtschaftet werden, durch die bürokratische Kontingentierung von Arbeitskräften beispielsweise, kann das durchaus dafür sorgen, dass Google und Co. hierzulande nicht nur keine Informatiker mehr aus Indien brauchen und holen, sondern es den Standort Zürich bald gar nicht mehr gibt.

Michael: Lasst uns mal das Thema wechseln. Stichwort Google: Sind wir eigentlich technologiefeindlicher geworden in den letzten Jahren?

Max: Ich würde das anders nennen: innovationsskeptischer. Die Welt soll nicht durch mehr Innovation, sondern durch weniger Konsum gerettet werden. Die Doktrin des «Masshaltens», Energie- und CO2-Sparens kommt beim Verbraucher offenbar besser an als die Idee, neuen Problemen auch mit neuer Technik zu begegnen. Dabei hat der technische Fortschritt in der Vergangenheit die allermeisten unserer Probleme gelöst. Warum also nicht auch in Zukunft?

Simon: Der Philosoph Evgeny Morozov nennt die naive Haltung, die du hier annimmst, «Solutionism». Und er hat doch recht: Wir glauben mittlerweile, jedes Problem dieses Planeten lösen zu können, indem man dafür eine App anbietet oder mal ein Tesla-Auto herstellt. Eine Illusion, der man sich ja gern hingibt, dabei aber Entscheidendes vergisst: Die künftige technologische Entwicklung ist völlig unsicher, und die «Solutionism»-Denke bringt
potentiell massive Kollateralschäden mit sich. Niemand weiss, welche Randerscheinungen durch den technischen Fortschritt ausgelöst werden. Beispiel Internet: klar, kann man mit diesem Tool heute alles überallhin verkaufen. Blitzschnell und problemlos. Aber eben: man kann auch alles überall überwachen, blitzschnell und problemlos. Neues Handy, super! Aber: Dauererreichbarkeit verändert das Sozialverhalten, und zwar nicht im positiven Sinn. Solche Nebenwirkungen des technischen Fortschritts können real und physisch wie psychisch schwerwiegend sein. Von den unglaublichen Mengen an Risikokapital, die in die Entwicklung einer beliebigen App und fragwürdiger Start-ups fliessen, habe ich dann noch gar nicht gesprochen!

Max: Im Gegenteil! Leute wie du wiederholen mantrahaft die Nachteile, die sich möglicherweise aus irgendeiner Technologie ergeben könnten, und haben mehr Vertrauen in Gefühlswallungen, also ins Marketing der Politik, als in die Verheissungen der Technologie. Stichwort Nano- und Gentechnik: Was verbindet die meisten Europäer diesbezüglich? Angst. Die kommt allerdings nur daher, dass sie die Vorteile dieser Entwicklungen nicht am eigenen Leib spüren, also nicht selbst nachvollziehen können. Der Hungernde in der Dritten Welt tut das aber sehr wohl, er wird nämlich dank Gentechnik erstmals satt, kann vielleicht neuerlich Pflanzen anbauen, die robuster und an sein Klima besser angepasst sind. Wir, die wir satt sind, interessieren uns nicht dafür – sondern eher für irgendwelche potentiellen oder zusammenphantasierten Gefahren.

Michael: Mögliche Kollateralschäden dominierten oft die Diskussionen um den Fortschritt – was letzteren mitunter lähmt. Wenn ein grosses Industrieunternehmen sein Fliessband nur noch mit Robotern betreibt, was letztlich wohl zu besseren Produkten und günstigeren Preisen führen soll, so verkaufen sich medial trotzdem die 100 neuen Arbeitslosen besser als ein gutes Produkt…

Max: Und was uns nie jemand verkauft, sind die 500 neu eingestellten Chinesen, die diese Roboter herstellen und sich über diese Aufträge freuen! Durch derartige weltweite Zusammenarbeit haben wir in den letzten 100 Jahren einen beispielhaften Entwicklungssprung gemacht, daheim konnte man den Wegfall dieser Jobs, ja ganzer Berufsgruppen wie Kutscher, Kaminfegerbuben und anderer, durch Bildung und Fortbildung stets kompensieren. Und das darf uns doch positiv stimmen für die Zukunft?

Simon: Es darf nur dann positiv stimmen, wenn den wirklichen Problemen, die wir haben – Wachstumsschwäche, Tapering, Klimawandel, politische Polarisierung im Westen und Instabilität im Mittleren Osten, die Gefahr sozialer Unruhen weltweit –, wirkliche Lösungen entgegengesetzt werden. Das ist aber beispielsweise in der boomenden IT-Economy nicht der Fall. Handyspiele, Apps für den Kühlschrank und autonom fahrende Elektroautos lösen keine fundamentalen Probleme. Sie verlagern sie nur bzw. decken sie zu. Das ganze Silicon Valley spricht von Lösungen – dabei beschäftigt sich da niemand mit den Problemen. Die werden mit den «Lösungen» erst geschaffen!

Max: Technologie hat als Triebkraft doch selten gehabt, nur «entscheidende» Probleme zu lösen. Da wurde getüftelt, probiert – und quasi nebenbei entstanden Produkte, die die Welt verändert haben…

Simon: Die Dampfmaschine als «L’art pour l’art»-Erfindung? Das ist doch nicht dein Ernst. Technologische Forschung als Selbstzweck ist die grösste Ressourcenverschwendung, die man sich überhaupt vorstellen kann. Es geht beim Fortschritt stets um eins: um Effizienzsteigerung, und das ist seine Rechtfertigung.

Michael: Interessant ist doch vor allem, dass die «technologischen Revolutionen» wie einstmals der Webstuhl oder die Dampfmaschine heute nicht mehr im Abstand von 50 oder 100 Jahren zustande kommen, sondern eigentlich alle paar Monate. Das sorgt dafür, dass kein Berufsstand sicher sein kann, morgen überhaupt noch nötig zu sein…

Adrienne: …Photographen mit umfangreichem Equipment werden mit «Instagram» überflüssig, Fliessbandarbeiter in der Schweiz mit Chinesen. Kann man sich da über die grassierende «Unsicherheit» – auch junger Menschen – wundern?

Max: Nein, denn die Entwicklung verunsichert in den Grundfesten – aber damit muss man umgehen lernen! Vor 30 Jahren konnte man noch reinen Gewissens hoffen, 40 Jahre lang im selben Beruf zu arbeiten. Das ist heute nicht mehr so. Heute sind es vielleicht… fünf?

Adrienne: Und das führt wieder zu «Angst». Sich darauf einzustellen, auf permanenten Wandel, der tatsächlich stattfindet, macht offenbar vielen Leuten Mühe, vor allem den älteren. Sie hätten gern eine wie auch immer geartete alte Welt zurück, in der man stets wusste, woran man war. Dumm bloss, dass man national den Wandel nicht aufhalten kann, ohne garantiert abzusteigen…

Max: Das aktuellste Schweizthema! Ich sagte es eben schon: Kontingente. Alte Welt! Bei allem soll sich der Staat nach populärer Lesart bestenfalls raushalten, Privatleben, Wirtschaftsleben etc. – aber wenn’s ans Eingemachte geht, an Wandel, auf den man nicht eingestellt ist, dann ruft doch wieder die Mehrheit der Stimmbürger nach ihm. Und wenn wir schon dabei sind, dann soll er auch direkt noch die Versorgungssicherheit garantieren, also alles daheim schaffen, was daheim an Lebensmitteln konsumiert wird. Am besten von den glücklichsten Kühen auf der Welt und den grünsten Wiesen und den schweizerischsten Spargelstechern ausgewählt.

Michael: Staaten funktionieren ja leider immer nach Ausschlussprinzip, manchmal offensichtlich, wie in der DDR, manchmal etwas weniger offensichtlich, wie am Grenzzaun zwischen Mexiko und den USA…

Christof: …oder an seiner kleinen Schwester vor den Toren von Chiasso.

Max: Krise ist ja sowieso meistens «im Ausland», glauben Herr und Frau Schweizer in gemeinsamer Realitätsverweigerung. Deshalb stimmen sie politisch darüber ab, die Krisen gemeinsam mit den Ausländern draussen zu halten. Ist doch logisch. (lacht) Aber die Leute werden trotzdem kommen. Die Frage ist nur: wie?

Michael: Ich glaube, viele Schweizer wussten nicht, dass die Schweiz schon vor dem 9. Februar sehr wohl gesteuert hat, wer aus der EU ins Land kommt: nämlich nebst Touristen, reichen Rennfahrern und ein paar Asylanten nur Arbeiter mit unterschriebenem Arbeitsvertrag. Das einzige, was sich jetzt ändert, ist: demnächst entscheidet nicht mehr der Unternehmer, wer reinkommt, sondern ein fachfremder Bürokrat. Das ist doch – für eine SVP-Initiative – einigermassen kurios. Aber: das ist wohl eben der konservative Zeitgeist, der davon ausgeht, ab hier könne es nur noch schlechter werden. Ärmer, hastiger, enger, schlechter…

Max: Die Schweiz war immer sehr konservativ, hat aber für die Zukunft das Gute erhofft. Neu ist, dass man hierzulande die Idee einer besseren Zukunft schlicht begraben hat! Weite Teile der Bevölkerung haben sich einen ansehnlichen Wohlstand geschaffen, der öV funktioniert, das Rentensystem ist halbwegs intakt, die Flüsse und Seen laden zum Baden ein – und nach Mailand sind es bald nur noch zwei Stunden. Offenbar sind damit für viele Schweizer alle grossen Probleme gelöst.

Simon: Mehr, das stimmt, wünschen sich viele nicht. Wir befinden uns auf einem «Peak». Und: danach geht es abwärts. Also: Schotten dicht, festhalten!

Michael: Hier sind wir uns wohl alle einig: es wird konservativer, repressiver, nicht weil es uns schlecht geht, sondern weil es uns und unseren Eltern gut geht. An der Frage nach weiterem Auf- oder Wiederabstieg haben sich unsere Geister zuvor schon geschieden… was aber machen wir aus unseren Ansichten, welche Schlüsse zieht ihr denn nun für euch?

Simon: Get ready for the downturn.

Christof: Sehe ich auch so. Die Nationalstaaten werden auseinanderbrechen, wir werden Gruppen haben, sogar Städte, die gegeneinander Krieg führen. Bürgerkrieg! Ich stelle mich mental darauf ein, dass solche Zeiten kommen. Ich bin nicht zuletzt deshalb kinderlos, weil ich die Zukunft nicht verantworten kann.

Niko: Da halte ich dagegen. Ich glaube nicht an ein Auseinanderbrechen oder an den Untergang des Abendlandes – und Kinder in diese Welt zu setzen finde ich eine super Idee, solange es nicht zu viele sind. Natürlich sind wir, der Westen und unsere Generation im besonderen, ein dekadenter Haufen, und natürlich haben wir keine Ahnung von Nanotechnologie. Aber dekadent bleibt man nur, solange man es sich leisten kann, und über Nanotechnologie informiert man sich spätestens dann, wenn man merkt, dass man damit viermal so viel verdient wie der Ethnologe von nebenan. Das wird sich alles automatisch ergeben. Ich bin sehr zuversichtlich.

Olivia: Ich nicht und manche noch weniger: Ich kenne mehrere Personen, die kürzlich Land gekauft haben, um sich selbst zu versorgen. Im Notfall.

Niko: Du kennst Leute, die Land gekauft haben, um darauf Kartoffeln anzubauen?!

Olivia: Ja, sicher, frag mal deine Grosseltern, wer am Ende des Zweiten Weltkrieges zu essen hatte? Die Landwirte! Die Bauern! Jene, die Land gehabt und bebaut haben.

Michael: Im grossen Stil, ja. Der Kleingärtner in einem Kölner Vorort hatte aber seine Radieschen recht bald aufgegessen.

Olivia: Okay. Trotzdem ist die Idee von der Selbstversorgung der Grund dafür, dass die SVP eine derartige Anziehungskraft hat. Sie sind die letzte Versorgungsinstanz…

Adrienne: Anbauschlacht! Versorgungssicherheit! (lacht)

Max: Ein Mythos. Aber ein attraktiver, wie es scheint. Seit 70 Jahren dieselbe Propaganda…

Adrienne: Umso attraktiver, je mehr man von einem abgeschotteten Land ausgeht. Wobei ich in diesem Zusammenhang schon vorhin darauf hinweisen wollte, dass «Abschottung» kein rein schweizerisches Projekt ist.

Sylke: Genau. Seit dem 9. Februar machen wir nur im kleinen Massstab das, was die EU schon lange an ihren Aussengrenzen macht.

Christof: Umso befremdlicher aber, dass die Schweiz, die ja geopolitisch bereits von der katastrophalen EU-Abschottung profitiert, da nochmal einen neuen Zaun hochzieht. Diese Ausgrenzungspolitik, die hierzulande mit blühender Selbstbestimmungsrhetorik verkauft wird, hat Europa schon oft in Abgründe gestürzt. Zunächst Rhetorik, dann Politik – und dann, wenn man das alles ausgereizt hat, Krieg. Wie in der Ukraine. Zunächst Scharmützel über das «Wo sind die Grenzen meines Gartenzauns?» und «Welchen Teil könnte man noch diesem und jenem Nachbarn verschachern bzw. zuschlagen?» und dann: die Rückkehr des aggressiv sich gegen aussen gebärdenden Nationalstaats. Der Zeitgeist irgendwelcher territorialer oder kultureller Hoheitsansprüche. Was die Minarettinitiative für die kulturell Konservativen war, ist der 9. Februar für die territorial Konservativen.

Simon: Gewiss: Inward-facing. Rückkehr zur Basis, zum Nationalstaat – und in einigen üblen Fällen: zurück zum «Völkischen». Die Leute sind – zum Teil doch aus guten Gründen! – desillusioniert von der mangelnden Mitsprache in grossen politischen Gebilden und der Dysfunktionalität des politischen Diskurses in vielen Demokratien. Das ärgert sie, dann lassen sie sich «national» abholen, weil dies sozusagen das kleinere Übel ist.

Michael: Ich habe mich immer schon gefragt, warum der legitime Anspruch auf staatliche Souveränität so leicht in völkische Propaganda abdriftet. Föderalismus hat schliesslich mit Nationalismus nichts zu tun, oft genug beugt er ihm sogar vor.

Christof: Guter Punkt, denn genau das ist ja gerade wieder der Fall, weil ein noch grösseres politisches Gebilde als der Nationalstaat nicht föderal reformiert wird, sondern gleich zur Disposition steht: die EU. In England und Frankreich legen deshalb die strammen Nationalisten zu, in Deutschland stürmt eine Hetzschrift mit dem Titel «Deutschland von Sinnen» die Bestsellerlisten – und wir «verbieten» Gebetstürme und volle Züge. Alles derselbe Zeitgeist des wiederkehrenden Grenzziehens, ob physisch oder nur im Bürgerkopf.

Michael: Das ist mir zu defätistisch. Dass inhaltlich wie literarisch dürftige Wutbücher immerhin erscheinen können, ist doch kein schlechtes Zeichen: Die Meinungsfreiheit funktioniert. Und: mit rückwärtsgewandten Wirrköpfen muss man in einer offenen Gesellschaft einfach umgehen können.

Olivia: Wir sollten zwischen nationalistisch-rückwärtsgewandten Ideologien und ihren Propagandisten und dem wichtigen Recht eines Staates und einer Gemeinschaft auf Selbstbestimmung unterscheiden. Ich bin sehr für Föderalismus. Ich glaube, dass er langfristig sogar gefährlichem Extremismus entgegenwirkt.

Michael: Konkreter?

Olivia: Die Leute müssen in einem möglichst kleinen Raum entscheiden können, welche Strassen gebaut werden, wer was beizutragen hat, welche Gesetze gelten. Wenn sich die Leute gehört fühlen, werfen sie dann auch keine Protestvoten aus Ohnmacht ein, wie das heute in der EU geschieht. Man sollte darum möglichst viel in den Regionen oder sogar Gemeinden entscheiden. Aber dann auch selbst – vor Ort! – die Konsequenzen tragen.

Michael: Und wenn dann ein Innerschweizer sich gegen Einwanderung ausspricht, so trägt er auch eher die Verantwortung für die Umsetzung dieser Entscheidung vor der eigenen Haustür. Und nicht der Zürcher, der auf ausländische Fachkräfte viel eher angewiesen ist, die eigene und dann auch noch die Kohäsionsrechnung der Innerschweizer zahlt.

Simon: Appenzell für alle! (lacht)

Olivia: Ja! Was für riesige Finanzmärkte gilt, gilt auch für die Demokratie: wenn niemand mehr sichtbar verantwortlich ist, dann kann man es sich leisten, bloss Dampf abzulassen oder nach dem simplen Eigenwohl zu stimmen. Damit die Moral nicht bachab geht, braucht es Sichtbarkeit.

Christof: Schöne Idee, aber: 1933 sind auch die Deutschen mehrheitlich hingestanden – und haben den Arm gehoben. Ganz öffentlich, sichtbar «eigenverantwortlich». Das Modell «Appenzell» löst also unsere Probleme nicht unbedingt.

Michael: Stimmt. Aber: wenn vor Ort über Sachfragen abgestimmt wird, ist das noch keine propagandistische Massenbewegung.

Niko: Ich glaube, die Idee, den Föderalismus auf allen Ebenen zu stärken, von der EU über die Schweiz bis hin zu den Kantonen – und damit auch die lokale Verantwortung des einzelnen –, ist doch eine Idee, der hier jeder zustimmen kann, oder? Think global, act local, so hiess es doch mal.

Michael: Das funktioniert langfristig aber nur, wenn die Leute auch ein Interesse daran haben, abzustimmen. Und: wenn sie informiert sind.

Christof: Einspruch! Demokratie «funktioniert» auch, wenn keiner informiert ist. Ob man die Entscheide gut oder schlecht findet: geschenkt. Sie funktioniert so oder so.

Simon: Da halte ich dagegen. So fährt der Karren an die Wand. Demokratische Mitsprache ist ein Recht, verpflichtet aber auch zum verantwortungsvollen Umgang damit. Mir schwebt das Ideal einer aufgeklärten Demokratie von informierten Stimmbürgern weiterhin vor. Ich will doch nicht in einer Gesellschaft leben, in der blöd gehaltene Stimmbürger meine Geschicke bestimmen.

Michael: Vielleicht lebst du längst in einer solchen? (lacht)

Christof: Eben! Aber damit muss man in Demokratien leben. Es kann ja auch durchaus als Lob auf die Demokratie durchgehen, dass man an ihr nicht nur teilnehmen kann, wenn man irgendeiner Bildungs- oder Sozialelite angehört. Deshalb hat die Schweiz in ihrer ganzen bisherigen Demokratiegeschichte nie einen Totalabsturz provoziert. Das war auch der 9. Februar nicht – bedenklich bleibt die Sache aber trotzdem. Nicht zuletzt deshalb, weil das Abstimmungsergebnis und die, die es herbeigeführt haben, den Umgang mit den sozialen, wirtschaftlichen und politischen Wünschen und Problemen in diesem Land so schön anschaulich machen.

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