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Verfahrene Visionen

Wo die Sinnfrage asozial und die Politik multifiktional wird, herrscht keine Vernunft mehr.

Verfahrene Visionen
Immer vorwärts und unumkehrbar? Weiterstrampeln für den Euro. Bild: fotolia.

Fangen wir mit dem Gegenteil von Visionen an, nämlich mit der Frage «Was bringt’s, was kostet’s?» bei einem politischen Vorhaben. Dieser kühlen Verrechnung von Zweck und Mitteln folgen Visionen nicht. Visionen als Politik setzen übermächtige Ziele – erstens für die ganze Gesellschaft, zweitens für einen weiten Zeithorizont, drittens zu Lasten der Heutigen, viertens als überindividuelles Ding. Das bedeutet wiederum, dass jeder, der widerstrebt, moralisch zweifelhaft ist, dass keine ungeduldigen Fragen geduldet sind, wenn die Resultate nicht gleich sichtbar sind, dass eine, zwei Generationen frohgemut geopfert werden können für ein «leuchtendes Morgen» und dass schliesslich die individuelle Kosten-Nutzen-Frage nicht gestellt werden darf.

 

Verwerfungen

Diese Definition passt natürlich auf die ganz grossen Visionen, welche die ganz grossen Verwerfungen über uns gebracht haben – etwa auf den Sowjetkommunismus, auf die deutschen Kriegsziele 1914 und 1939 (Zweifrontenkrieg in zwei Etappen), auf den ruinösen Grossmachtwahn Ludwigs XIV., auf die US-Interventionen für «Demokratie und Stabilität» in Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien, Südjemen (welche diese wackligen Staaten in ihre tatsächlichen Teile zerfallen liessen), aber auch auf das «europäische Projekt» und auf den Euro, wie auch auf die Geldschwemme der Notenbanken seit 2008.

Kleinere, aber national ebenso belastende Visionen kommen hinzu, etwa die «réduction et répartition du temps de travail RTT» in Frankreich, die Energiewende Deutschlands und der Schweiz, die multifunktionale Landwirtschaft oder aktuell die Vision, dass Einwanderung keine Obergrenze haben dürfe, wie die deutsche Kanzlerin sagte, oder dass internationale Verbünde, Verträge immer höher als nationale Anliegen stehen. Ich möchte kurz drei dieser nationalen Visionen streifen:

Die 35-Stunden-Woche in Frankreich, «um die Arbeit umzuverteilen», zeigte, wie ein ganzes Land irren kann. Das Arbeitsvolumen wurde als Fixum aufgefasst, das in kleineren individuellen Stücken auf jene umverteilt werden könne, die arbeitslos sind. Gesagt, getan, aber damit wurde die geleistete Stunde teurer, das volkswirtschaftliche Arbeitsvolumen sank, die Einkommen und Gewinne fehlten, die Betriebsabläufe stockten, auch wegen Überzeit- und Schichtverboten. Einige deutsche Tarifverträge brachten auch die 35 Stunden, aber die lokalen Betriebsräte sind flexibel, sie erlauben längere Schichten, wenn nötig. Fristgerecht nahm sich aber Frankreich mit den zwingenden Gesetzen von 1998 und 2000 aus dem globalen Wettbewerb mit Schwellenländern und Informationstechnik heraus.

Die Energiewende als Vision ergriff mit Deutschland und der Schweiz ein paar Prozentchen der Weltwirtschaft und baut auf der Suggestion auf, dass in Fukushima 2011 ein AKW aufgeflogen sei. Doch jenes überstand ein Erdbeben intakt und wurde durch eine Flutwelle zerstört. Die Energiewende mündete in staatliche Subventionen für Solar- und Windenergie, welche die bestehenden Elektrizitätswerke ruinierten. Die Politik wählte eine bestimmte Technologie, statt mit Preisen Anreize und Abreize zu schaffen: eine Vision statt ein Verfahren. In beiden Fällen, Arbeitszeit und Energiewende, wurde der ganzen Gesellschaft ein Riesenziel übergezogen, mit sachfremden Argumenten, mit noch fernen, aber sicheren Resultaten. Kritiker dürfen die Kostenfrage nicht stellen, die Sinnfrage zu stellen ist geradezu asozial. Ähnliches gilt für die schweizerische Landwirtschaftspolitik – die ist nicht multifunktional, sondern multifiktional, weil sie weder die visionär verheissene Besiedlung noch die Artenvielfalt, noch die Versorgung sichert.

Nun zu den grösseren Würfen. Das europäische Projekt, also EWG, EG, dann EU, wurde von Anfang an «sakralisiert», wie der Politikwissenschafter Peter Graf Kielmansegg sagt. Das ist mir schon als Sekundarschüler aufgestossen, als ich 1962 die Römischen Verträge und ihre grosssprecherische Einleitung las. Höchste Ideale und Visionen werden dort und seither als gesicherte, spätere Eigenschaften des erst anlaufenden Projekts unterschoben: Friede, Wohlstand, Binnenmarkt, Weltgeltung, Gegenmacht zur USA, «innovativste Volkswirtschaft» (Lissabonner Erklärung 2000), «solidarischer» Kontinent. Das hohe Ideal muss dabei ohne Abstriche national heruntergebrochen werden. «Europa» gilt als unantastbares Höchstes, das nur strikte nationale Ausführung erträgt. Die vier eingangs erwähnten Totschlagargumente kommen auch zur Verteidigung dieses «Europas» (und des Euros) wieder zum Zuge: es ist ein grosses, die ganze Gesellschaft überziehendes Projekt, es braucht Dauer, es kann heute weh tun, doch es geht um das bessere Morgen, und wer nach den Kosten fragt, ist ein Erbsenzähler, unsolidarisch und nationalistisch. Nein, man muss «Europa wagen». Und wenn Resultate fehlen oder verquere Folgen auftreten, dann braucht es eben mehr davon.

Erst kürzlich wurde bekannt, dass der damalige EWG-Kommissar Ralf Dahrendorf nach seiner kritischen Schrift gegen den «Harmonisierungswahn» 1971 in der Kommission geschnitten, angebrüllt und nicht mehr angehört wurde. Heute will David Cameron Vertragsrevisionen, um seinem Stimmvolk den Verbleib in der EU empfehlen zu können, doch wird die – immerhin vitale Frage – im Rat seit einem halben Jahr verschoben. Die Vision Europa sei ein Fahrrad, das immer vorwärts drehen müsse, sonst falle es um. Dieses eigentlich haarsträubende Eingeständnis der Schwäche wurde oft im Ernst geäussert. Auch widerspricht diese Verschraubung ohne Rückbau dem Weltethos Hans Küngs. Er fordert, dass man gesellschaftliche Entscheide auch wieder umkehren können müsse («Reversibilitätsregel»). Der Euro aber gilt als «unwiderruflich festgelegt» und kennt keine Austrittsklausel. Ein Austritt müsste tatsächlich die Vermögenswerte von 400 Millionen Europäern tangieren. Enorme Risiken wurden angehäuft, ohne Plan für den Notfall.

 

Unüberschaubare Risiken

Das gilt auch für die neue, selbst verpasste Vision der westlichen Notenbanken für ihre Aufgaben. Sie sollten zuerst die durch ihre wuchernde Buchgeldschöpfung systemisch gefährdeten Banken retten, indem sie ihnen Kredite und Anleiheposten abkauften. Doch dann wollten die Notenbanken die Vermögen der Aktien- und Hausbesitzer wiederherstellen, dann die Zinslasten der überschuldeten Staaten mit Nullzinsen beseitigen, dann Kredite an die Firmen lostreten, dann die Währungskurse senken. Dazu wurden riesige Mengen an Staatstiteln aufgekauft und hochgetrieben. Der Ausweg zu normalen Zinsen und Geldmengen ist verbaut, die Börsen würden einknicken, die Staaten wären bankrott. Die Vision, dass die Notenbanken schmerzlos die Versäumnisse der Politik kompensieren, hat groteske Massnahmen erzwungen – die Amputation von Bankguthaben in Zypern, Kapitalverkehrskontrollen innerhalb eines Währungsraums (Zypern, Griechenland), negative Zinsen, Bargeldverbote. Die Visionen des starken Staates, des Primats der Politik und der zu allem bevollmächtigten Notenbanken hat das Vertrauen in zwei Säulen der Zivilisation erschüttert – in den Staatskredit und in das Papiergeld.

Zu guter Letzt darf man das heikle Thema Nationalstaat und Völkerrecht angehen. Es gibt Staaten, welche das Völkerrecht als höherstehend anerkennen, und solche, wie die Schweiz, nur falls ausdrücklich festgelegt. Und das Völkerrecht besteht aus einigen kernigen Grundsätzen (Ius cogens), aus zwischenstaatlichen Verträgen und aus internationalen Organisationen. Letztere sind oft in die Höhen von Visionen des schlechthin Guten entrückt worden, ähnlich wie die Idee Europa, man denke an den Strassburger Gerichtshof für Menschenrechte, an die OECD, an den Weltwährungsfonds, an UNO-Organisationen und -Konventionen. Deren nicht gewählte Funktionäre befehlen plötzlich Details der Flüchtlingspolitik, Vorgaben für die Besteuerung, Auflagen für Hilfspakete. Was aber jeder Zeitungsleser merken kann: diese Organisationen verfielen dem «Mission Creep». Ausgedeutscht: sie greifen mit Appellen, dann mit Standards, neuen Definitionen, mit nachgereichten Unterausschüssen weiter aus, als die Signatarstaaten ursprünglich abmachten, immer im Dienste der hohen Ideale der Präambeln. «Dynamische Rechtssprechung» heisst das im Munde von Juristen, es verklärt aber diese Selbstläufervisionen. Freiheitlich bleiben Staaten nur, wenn sie «means, not ends» verfolgen, also Verfahren, nicht grosse Ziele auferlegen. Wie schön, und ziemlich zutreffend gegenüber den kontinentalen, verkrampften Staatsveranstaltungen aller Zeiten, kam doch das grosse British Empire zustande, nämlich «in a fit of absence of mind» (John R. Seeley, 1883).

Wahr oder nicht wahr, so muss es sein: Staatlich verfasste Entscheide sollen iterativ, situativ und korrigierbar sein. Visionär-Endgültiges kann nur durch Rechtsbruch, durch Aufstände und nur unter hohen Kosten zurechtgebogen werden, denn die Gesellschaft und die Individuen wandeln sich dauernd. Die Politik soll ihnen gute Verfahren bieten. Die Ziele setzen wir uns selbst.

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Wenn politische Visionen auf ökonomische Realitäten prallen

Politiker verhalten sich oft so, als gäbe es keine ökonomischen Grundgesetze. Wir erinnern uns an die Lancierung des Euros, die ungeachtet aller ökonomischen Warnrufe durchgesetzt wurde und bis heute mitverantwortlich ist für europäische Staatsschuldenkrisen. Umgekehrt ignorieren Ökonomen gerne die Funktionsweise von Politik, die Zukunft gestalten soll und dabei gerne über Empirie und wirtschaftliche Daten hinwegsieht. […]

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