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Une jeune danseuse

Kambodschanische Reminiszenzen

Une jeune danseuse
Kambodscha, photographiert von Matthias Messmer.

«Leg dich mal auf das Sofa und erzähl», forderte mich ein älterer Freund unserer Familie auf. Ich brachte keine Worte heraus, wusste eigentlich auch nicht recht, was der Mann wollte. Die Couch, so dachte ich, war doch im Grunde etwas für Leute mit schlechtem Gewissen, wie der Beichtstuhl halt. Erst viel später las ich irgendwo, dass eine Liege auch dazu tauge, Gedanken besser in Worte zu fassen. Ich also einfach irgendetwas hätte sagen können. Was mir am Herzen oder auf dem Magen lag. Ich hätte den Freund auch etwas fragen können. Immerhin gehörte das Fragenstellen seit Kindheit zu meiner Lieblingsbeschäftigung, die meinen Eltern gelegentlich auf die Nerven ging. Aber eben, damals, als jene Begegnung stattfand, war ich noch ein Teenager und fragte mich anlässlich meines Stummseins höchstens, ob etwas mit mir selbst nicht stimmte.

Ungefähr acht Jahre vor diesem mir als Peinlichkeit im Gedächtnis gebliebenen Ereignis hatte mir derselbe Bekannte ein besonderes Geschenk von einer Reise mitgebracht, nämlich eine farbenfrohe Banknote mit den Porträts dreier Frauen. «Banque de l’Indochine» stand da geschrieben, und die hübsch gekleideten Schönheiten, so erklärte er mir, repräsentierten die französischen Kolonien Vietnam, Laos und Kambodscha. Von den historischen Zusammenhängen hatte ich damals keine Ahnung, doch die Exotik der Frauengestalten hatte es mir angetan. Dennoch getraute ich mich nicht, über meine Gefühle zu sprechen, geschweige denn, unseren Familienfreund zu fragen, welche Frau ihm denn am besten gefalle. Für mich war der Fall klar, aber das wollte ich niemandem anvertrauen. Ich rahmte die Banknote ein und stellte sie auf mein Nachttischchen, wo ich bereits eine Postkarte mit der Fotografie eines zierlichen asiatischen Mädchens in Tänzerpose plaziert hatte. Auf der Rückseite stand «jeune danseuse cambodgienne», aufgenommen von Marie-Laure de Decker.

So traf es mich denn vor einiger Zeit wie ein Blitz, als ich im Raffles Hotel Royal von Phnom Penh dieselbe Banknote wieder sah. Sie hing, örtlich passend und hinter einem Stück Glas geschützt, an der Wand, kurz bevor man die Treppe hinauf auf die obere Etage des Gebäudes stieg. Ein letzter Blick auf asiatische Anmut vor dem Zubettgehen. Alle drei Grazien haben etwas Stolzes an sich, doch die kambodschanische Frau wirkt vielleicht etwas unbekümmerter und lässiger als die eher zurückhaltende, fast scheue Vietnamesin oder die sich kokett gebende Laotin. Als einzige hat erstere den Mund geschlossen und stemmt eine Hand in die Hüfte, wie um eine gewisse Dickköpfigkeit zu markieren. Schon damals, als ich diese Banknote zum ersten Mal im Leben sah, erschienen mir die asiatischen Frauen anders zu sein als jene, die mich mit verführerischen Augen aus den Zeitschriften anguckten und die ich auf meinem Schulweg, meist beim Kiosk neben der Kirche, heimlich begutachtete. Am Rande sei erwähnt, dass dieser Zeitungsstand schon vor Jahren abgerissen wurde und die Kirchenglocken längst verstummt sind.

Für unseren Familienfreund waren Gespräche und menschliche Wärme wichtig, und so kam er immer gerne zu uns auf Besuch. Meine Mutter war, als ich noch nicht auf dieser Welt war, seine Assistentin. Selbst hatte er, wie mir schon als Kind bald klar wurde, keine Frau. Das kam mir damals weiter nicht merkwürdig vor. Erst später erfuhr ich, dass er in jüngeren Jahren eine unglückliche Beziehung gelebt hatte und seither Partnerschaften auswich. Das Wesen einer Frau, wenn man das so sagen kann, schätzte er aber dennoch sehr, wie man aus seinen Schilderungen erahnen konnte. Bei uns zuhause fühlte er sich wohl. Nach dem Abendessen pflegte er meist eine Zigarre zu rauchen, wobei das Ritual des Anzündens meist meine Mutter übernahm (sie war es auch, die immer dafür sorgte, dass eine Packung Dannemann für alle Fälle bereitlag). Am meisten faszinierte es mich, wenn die abgebrannte Asche möglichst lange an der Zigarre haften blieb. Das bedeutete zeitlichen Aufschub für mein eigenes Zubettgehen.

Hin und wieder erzählte der ältere Herr von seinen abenteuerlichen Reisen, wie etwa nach Liberia, Persien, Jamaika oder eben in das Land mit dem für mich fremd klingenden Namen Kambodscha. In einem Reisebildband mit dem Titel «Die schönsten Orte auf der Welt» oder ähnlich hatte ich imposante Bilder von einer im Dschungel liegenden Tempelanlage gesehen. Besonders hatten es mir die Wurzeln der gewaltigen Bäume angetan, die, den Armen von Riesenkraken gleich, einst prächtige Palastanlagen zu steinernen Ruinen verkrusten liessen. Eine Art Zeitmessung, doch ohne herkömmliche Uhr. – Übrigens liebte er, um auf unseren gelegentlichen Besucher zurückzukommen, auch den Viererjass, und ich mochte es, wenn die Entscheidung, wer mit wem zusammenspielte, auf uns zwei fiel. Vor allem, weil er ein guter Spieler und ihm das Verlieren, ihm Gegensatz zu mir, keinen Zornausbruch wert war. Mit den Worten «Das Verlieren gehört ebenso zum Leben wie der Sieg» pflegte er jeweils den Abend zu schliessen. Ich kann nicht sagen, ob das als Trost oder eher als Ratschlag mit auf den Pfad des Erwachsenwerdens gedacht war.

Mehr als 35 Jahre später stehe ich vor der Chaktomouk Hall, einem imposanten Gebäude in Form eines aufgefalteten Fächers, dort, wo der Tonle-Sap-Fluss in den Mekong mündet. Gebaut wurde es von dem heute knapp neunzigjährigen Vann Molyvann, einem der berühmtesten Architekten des Landes und Schüler von Le Corbusier. Das Anwesen, eine Art Konferenzhalle, steht heute die meiste Zeit über leer. Wie viele andere seiner ungefähr einhundert Bauten in der kambodschanischen Hauptstadt, das weiss der 1970 in die Schweiz emigrierte Architekt auch, hat dieses kaum eine Chance auf ein langfristiges Überleben. Das tropische Klima verkürzt die Lebenszeit ohne viel Zutun. Überdies erfordert der Zeitgeist Grösseres, das mit Prestige und Profit daherkommt. Das Alte hat verspielt, auch der Joker des Denkmalschutzes hat kaum mehr Chancen, das Ruder herumzudrehen. Ich könnte mir denken, dass sich unser Familienfreund mit Vann Molyvann, dem er auch äusserlich ein wenig glich, gut verstanden hätte. Auch deshalb, weil sich beide für die Kunst als Mittel interessierten, das menschliche Leben in Zeiten der Vergänglichkeit erträglicher zu machen. Oft erzählte der ältere Herr von seinen Museums- und Konzertbesuchen, lange nachdem er das Pensionsalter erreicht hatte. Ihm war klar, dass die Kunst ewig ist.

Trotz zunehmender Müdigkeit mache ich mich auf den Weg, den Fäden weiter auf die Spur zu gehen, die doch gewiss irgendwo in meiner Biographie zusammenlaufen. Mit einem Tuk-Tuk fahre ich durch den Alltag, vorbei an arbeitsamen Strassenfriseuren, schmucken Boutiquen, beherzt Federfussball spielenden Jugendlichen, modischen Galerien und heruntergekommenen Kolonialvillen, bis ich schliesslich vor einem Restaurant ankomme, das mir einladend genug erscheint einzutreten. Just beim Türeingang stockt mein Atem. Ein Schild mit einer durchgestrichenen Pistole lässt in Sekundenschnelle einen Film mit dramatischen Sequenzen vor meinen Augen ablaufen: Ich sehe das fratzenhaft verzerrte Gesicht meines jüdischen Klassenkollegen der Primarschule vor mir, wie er ruft, der Pol Pot sei der Heinrich Himmler unserer Zeit. Von beiden hatte ich nie gehört. Dann schiebt sich die Sicht unscharf auf einen Berg aufgeschichteter Leichen hinter dem Krematorium des KZ Buchenwald. Dort war ich einmal, als es die DDR noch gab. Die abgemergelten Gestalten mischen sich mit den Totenschädeln in den Vitrinen des Tuol-Sleng-Genozid-Museums, das ich an diesem Nachmittag besucht habe. Aus leeren Höhlen starren mich Dutzende von Augenpaaren an. Ich kann ihre Blicke nicht ertragen, wende mich ab und gehe zurück in die schwarzen Gassen von Phnom Penh. Die Angkor-Bier anpreisende Werbedame mit Cowboyhut schaut nicht mehr attraktiv drein. Ihre Reize haben sich in wenigen Momenten ins Nichts aufgelöst. Am Boden liegen leere Bierdosen, weggeworfene Essstäbchen und Speisereste. Mir graust. Laute Stimmen und das Gelächter von Passanten nehme ich nur noch im Hintergrund wahr.

An einem der nächsten Tage stehe ich auf einem Felsvorsprung hoch über dem Golf von Siam. Die Sonne steht im Zenit. Hinter mir sind die Umrisse eines Palastes erkennbar, der aber leer steht. Und doch strömen Leute hinein und kommen wieder hinaus. Vielleicht wollen sie sich einfach vor der brütenden Hitze schützen, was denn sonst. Familien mit und ohne Kinder, jung und alt. Wie Statisten beim Theater stehen sie an Öffnungen, die Fenster andeuten, aber keine sind, und blicken in die dunstige Ferne. Gerade als ob sie etwas suchten. Die Szenerie ist viel zu grell, wie bei einer Fotografie, bei der die Belichtungszeit zu lange bemessen wurde. Man sozusagen die ganze sonderbare Umgebung in der Einordnung einer bizarren Zeit einfangen wollte. 1961 erklärte König Sihanouk, dass dieses Gebäude, als Casino konzipiert, ein Platz für Kambodschaner und Ausländer, reich und arm, sein sollte – «zum Entspannen und die frische Luft zu geniessen». Lange konnten sich die spärlich erscheinenden Besucher des Spielpalastes allerdings nicht am Roulettespiel erfreuen: Nur wenige Jahre später stürzte die ganze Region in politische Wirren, und was folgte, waren Kriege, Zerstörung und Verwüstung, deren Narben bis heute nicht geheilt sind. In dieser Zeitkapsel einer Apokalypse der Trostlosigkeit hätten Tausende von Seelendoktoren Arbeit für ihr ganzes Leben.

Am Fusse des Berges ist die Hitze noch drückender und die Melancholie zum Greifen nah. Mitunter bläst ein Wind vom Meer warme Fetzen aus einer vergangenen Zeit herüber, die doch merkwürdig nah ist. Was in den 1920er Jahren als eine elegante Feriensiedlung für die Franzosen konzipiert wurde und den Namen Saint-Tropez Südostasiens verdiente, ist heute ein trostloses Gebiet, auf dem hier und dort Mauerreste von Villen in den Himmel ragen. Gelegentlich schrecken Einschusslöcher in Wänden, mit Stacheldraht verhauene Fensterrahmen oder zerstörte Mosaike auf einst bunten Keramikfliesen die Sinne weiter auf. So stelle ich mir eine angemessene Filmkulisse für einen Kriegsschauplatz in den Tropen vor, wären da nicht der achtlos auf den Boden geworfene Abfall und die Kotspuren menschlicher Präsenz. Im Grau eines dunklen Flurs erspähe ich die Umrisse einer jungen Frau mit aufgerichteter Haltung. Im Tanz bewegen sich Oberkörper und Arme geschmeidig wie eine sich mit dem Rücken nach oben dehnende Katze. Als sie mich gewahr wird, lächelt sie kurz, dreht sich aber schnell um und verschwindet im Haus. Den Augenblick habe ich verpasst, ihr etwas zuzurufen. Die Melancholie ist jetzt zum Greifen nah. Keine klassischen Kabrios der Jeunesse dorée von Phnom Penh fahren hier an Wochenenden mehr vor, dafür hin und wieder Bauern auf Fahr- oder Motorrädern. Dazwischen grasen einige Rinder und Ziegen. Ansonsten ist die Stille fast unerträglich. Hin und wieder sticht mir ein unangenehmer Geruch in die Nase, der mich aber nicht daran hindert weiterzugehen. Kurz vor dem Strand schwirren plötzlich zwei Schmetterlinge um meinen Kopf. Ich kenne ihren Weg nicht, weiss auch nicht, woher sie geflogen kamen. Sie kreisen um mich herum, als ginge es um eine Wette. Gelegentlich wechseln sie einander ab, wer die zarten, mit bunten Mustern bemalten Flügel gegen oben oder gegen unten halten darf. Ob sie mir ein Zeichen geben wollen? Wenige Meter entfernt wälzen sich Kinder im Sand und springen immer wieder jauchzend und johlend in die wogenden Meereswellen. Müdigkeit hat, wie der Zeitbegriff, für Kinder keine besondere Bedeutung.

Am Abend sitze ich auf der Veranda einer dem Bauhaus-Stil angelehnten Villa und schaue über den sattgrünen Garten und das blaugrüne Meer direkt in die untergehende Sonne. Ein Blick in die Unendlichkeit, wäre da nicht eine kleine Insel, die im Wege steht. Eine unbestimmte Sehnsucht ergreift mich. Nicht ganz unerwartet erinnert mich das Naturschauspiel an die lauen Sommerabende am Seeplatz, einer grünen Fläche Wiese mit Löwenzahn und anderen Wildblumen und einem den See abtrennenden Mäuerlein. Von dort führte eine unebene, meist mit Moosen überwachsene Steintreppe über Kieselsteine direkt ins Wasser. Ich sehe mich als kleiner Bub auf dem Schoss meiner Mutter, wie sie, auf einer Schieferplatte sitzend, mit der Hand in die Ferne weist und mir offensichtlich etwas zeigen will. Ich finde, sie ist eine schöne Frau und gleicht, wenn sie sich schminkt, ein bisschen Sophia Loren. Aus den Augenwinkeln betrachte ich unseren älteren Familienfreund – ihm gehörte dieser Seeplatz –, der einige Meter von uns in einem Liegestuhl unter einem Baum liegt, trotz Schatten den Kopf mit einem Strohhut bedeckt. Niedergeschlagen sieht er nicht aus. Wahrscheinlich hat er das Alleinsein angenommen, mag es möglicherweise gar. Er kann uns nicht sehen, aber er scheint zu wissen, dass die Schönheit im Verborgenen liegt. Er war ja auch in der Urwaldstadt Angkor und entzückt von den in Stein gehauenen Apsaras, den eleganten göttlichen Wesen in Frauengestalt. Auch er konnte nur ihre Bilder mit nach Hause nehmen.

Viele Jahre später, unser Familienfreund ist längst gestorben, zeigt mir meine Mutter das Büchlein «Wo Gott keinen Namen hat». Sie schenkte es einst dem alten Mann für die letzte Etappe auf seinem Lebensweg. Eine Stelle mit Traktaten von Meister Eckhart hatte er mit roten fetten Kreuzen markiert: «Der Mensch, der im schauenden Leben steht, der möge und soll sich wohl frei machen von allen äusseren Werken, solange er in der Schau ist, danach aber soll er sich in äusseren Werken üben.» Zwischen den Seiten 26 und 27 lag ein Zettel, auf den üblicherweise der Hausarzt das Rezept für seinen Patienten schreibt und es diesem mit auf den Weg zur Apotheke gibt. Doch in diesem Falle war das Blatt weiss, nur oben stand der Name des Freundes mit den Initialen Dr. med., Nervenarzt, darunter Spezialarzt für Psychiatrie und Psychotherapie.

Die Sonne ist inzwischen untergegangen. Im Himmel vertieft sich die Farbe der Nacht und schon leuchten die ersten Sterne. Noch rascheln die Palmenblätter im lauen Wind, der vom Meer herkommt und sich wie eine grazile Frauengestalt wohlig an meinen Körper schmiegt. Ein leichter Salzgeruch liegt in der Luft, der wie eine bittere Mahnung an den angeschlagenen Khmer-Nationalstolz wirkt. Wäre da nicht die Erinnerung an die selbstbewusste «jeune danseuse cambodgienne». Es ist Zeit zum Schlafengehen, denke ich, und verriegle die Balkontür hinter mir. Ich lege mich auf das ordentlich hergerichtete Himmelbett und schliesse meine Augen. «Du musst aus dir selber in dich selber gehen: Da liegt und wohnt die Wahrheit, die niemand findet, der sie in äusseren Dingen sucht», flüstert mir die Stimme des Freundes aus einer Ecke des Zimmers zu. Jetzt ahne ich, wo die wahre Schönheit zu finden ist. Und was ich morgen und in der Zukunft zu tun habe.

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