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Richtungswahlen? Den inneren Schweinehund überwinden!

Unter Vertretern der schreibenden Zunft ist es verpönt, sich politisch zu outen. Viele meiner Kollegen träumen insgeheim davon, dass sich Fakten, Zahlen und Analysen gleichsam von selbst zu einem kohärenten Bild verdichten, das der Schreibende dann bloss noch in Textform zu bringen hat. Das wird als höchste Liga des Journalismus verklärt. Die Wirklichkeit stellt sich […]

Unter Vertretern der schreibenden Zunft ist es verpönt, sich politisch zu outen. Viele meiner Kollegen träumen insgeheim davon, dass sich Fakten, Zahlen und Analysen gleichsam von selbst zu einem kohärenten Bild verdichten, das der Schreibende dann bloss noch in Textform zu bringen hat. Das wird als höchste Liga des Journalismus verklärt. Die Wirklichkeit stellt sich selbst dar – der Journalist ist von politischen Bekenntnissen befreit. Ich frage mich: Verbirgt sich hinter dieser Nichthaltung nicht eine Art eigentlich milieufremder Obrigkeitshörigkeit? Nämlich die Sehnsucht nach einer Expertokratie, die sich der Politik annimmt, während man selbst das Privileg hat, sie gönnerhaft zu kommentieren, ohne sich die Finger zu verbrennen? Klar ist: wüssten wir alles, so bedürfte es keiner gemeinsamen Problemlösungskompetenz mehr. Also keiner Politik. Klar, bin ich für ein Minimum an Politik – denn Politisierung bedeutet stets Entprivatisierung, also Kollektivierung der Entscheide, also Fremdbestimmung. Das Leben, auch jenes in Gemeinschaft, ist ein privatissimum. Andererseits scheint mir diese angeblich total unpolitische Welt noch bedenklicher als der Status quo. Sie würde nichts anderes bedeuten als die totale Entmündigung der Bürger (und zuletzt auch die Abschaffung echt-kritischer Publizistik).

Wer seine eigenen Milieudarstellungen überwinden möchte, hat die Chance dazu: Er kann auf www.smartvote.ch 75 Fragen beantworten und überprüfen, auf welcher Linie er wirklich politisiert. Ich müsste, hier mein Outing, wollte ich meinen Überzeugungen (und nicht meinem Milieu) treu bleiben, die Liste der Unabhängigkeitspartei oder der Jungfreisinnigen einwerfen. Die Übereinstimmung beträgt allerdings im besten Fall bloss 72 Prozent. Bedeutet dies, dass ich altersmilde geworden bin? Oder altersradikal? Aber egal. Wer hat denn nun schon einmal etwas von der Unabhängigkeitspartei (up!) Schweiz gehört? Erinnern wir uns: Die Piratenpartei, bis vor kurzem eine nicht nur sympathische, sondern auch vielversprechende Aussenseiterin mit Potential für mehr, ist schon wieder passé, so wie vor ihr bereits die Auto-Partei. Up! wurde vor einem Jahr gegründet, vor allem von Jungfreisinnigen, denen die eigene Mutter-Jung-Partei schon zu etabliert und brav politisiert. Die neue Kleinpartei verfolgt das, was die soziologisch gestylten Marxisten vor einem halben Jahrhundert «Systemkritik» nannten – nur eben andersherum. Das System ist nicht mehr die Herrschaft der Bourgeoisie wie damals, sondern der Etatismus aller Parteien.

Kein Zweifel: politischer Alltag in einem wohlhabenden Land wie der Schweiz meint bis auf weiteres Oberflächenchirurgie, Schönheitsdarstellung, Scheinlösungsdebatte. Selbst so etwas Notwendiges wie eine echte Reform der Altersvorsorge bleibt – völlig undenkbar! Der Status quo behagt den meisten wunderbar, wobei selbstverständlich auch das Nörgeln zum Wohlbehagen dazugehört. Wir publizieren online (www.schweizermonat.ch, exklusiv online) ein Interview mit der freischaffenden Musikerin Helena Schulthess, die auf der up!-Liste für den Nationalrat kandidiert. Sie nörgelt nicht nur, sondern meint es ernst mit ihrer Fundamentalkritik. Zur SVP sagt sie (Wahlslogan «Frei bleiben»): «Die SVP irrt. Wir sind längst nicht mehr frei!» Zur FDP («Freiheit, Gemeinsinn und Fortschritt»): «Gemeinsinn ist nur eine schönere Umschreibung für Kollektivismus.» Ideale Steuerquote: «15 Prozent – höchstens.» Zur Nachbarorganisation: «Die EU ist eine Union des institutionalisierten Rechtsbruchs.» Zur Frauenquote: «Zuweilen habe ich den Eindruck, dass Frauen, die eine Quote fordern, den Vater durch den Staat ersetzen möchten.»

Okay, solche Fundamentalkritik ist immer einfach – und kaum je mehrheitsfähig. Dennoch dürfte manch einer an sich selbst Regungen der Sympathie feststellen, wenn er solche Statements hört. Am Ende aber, das weiss ich nur zu gut, pflegt die Trägheit zu obsiegen. Oder das politische Kalkül. Man wählt wie letztes Mal, also wie früher, also wie immer. Die SP legt um 0,5 Prozent zu, die Grünen verlieren 1 Prozent, der Freisinn wächst um unglaubliche 1,3 Prozent. So könnte es kommen. So wird es wohl kommen. Andererseits: warum nicht genau deshalb mal eine konsequente Orchideenpartei wählen und sich selbst – statt dem trägen inneren Schweinehund – treu sein?1


1Antworten nehme ich gern an rene.scheu@schweizermonat.ch entgegen.

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