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«Es war einmal ein Bürgerblock…»

Was Sie schon immer über den bürgerlichen Schulterschluss wissen wollten, aber nie zu fragen wagten.

Der sogenannte «Bürgerblock» – was ist bzw. was war das?

Bis in die 1990er Jahre dominierte in der Schweiz auf nationaler und kantonaler Ebene eine Art Kartell sogenannt bürgerlicher Parteien. Das Attribut «bürgerlich» dient dabei – je nach politischer Position – als Diskreditierung oder positive Selbstbezeichnung. In der Nachkriegszeit war die Zusammenarbeit zwischen bürgerlichen Parteien geprägt von wenig Konflikten und viel Kohäsion, heisst: In nationalen Abstimmungen war man sich meist einig. Auch in Regierungsratswahlen funktionierten Absprachen innerhalb des bürgerlichen Lagers. Man einigte sich auf eine festgelegte Zahl von Sitzen, die unter den Parteien verteilt wurden («freiwilliger Proporz»), und unterstützte die Kandidaten anderer bürgerlicher Parteien. Linken Parteien blieben jeweils einer oder zwei Sitze übrig, seit den 1950er Jahren galt das System der Konkordanz unter Einbezug der Sozialdemokraten. Die Bürgerlichen waren jeweils der Seniorpartner, die SP der Juniorpartner, aber die Mehrheitsverhältnisse waren klar. Die Politologen Daniel Bochsler und Karima Bousbah haben untersucht, wie die bürgerlichen Parteien auf kantonaler Ebene zusammengearbeitet haben bzw. dies heute tun. Ihre Analyse: Bis zum Ende des Kalten Krieges sprachen sich die Exponenten der Parteien untereinander ab – und hielten sich an diese Absprachen. Auch in diesbezüglich repräsentativen Kantonen wie dem Aargau waren Regierungsratswahlen bis 1981 Formsache: Mitte-rechts nominierte nur drei Kandidaten und überliess die restlichen zwei Sitze der linken Minderheit.

 

Was ist aus dem «Bürgerblock» geworden?

Mit den veränderten gesellschaftlichen Konfliktlinien nach dem Mauerfall von 1989 begann der bürgerliche Konsens zu bröckeln – und nach 1991 haben sich die bürgerlichen Parteien merklich auseinanderbewegt. Globalisierung und europäische Integration stellten den vormaligen Block vor eine erste Belastungsprobe, was sowohl anhand nationaler Abstimmungsparolen als auch bei der Zusammenarbeit in kantonalen Regierungsratswahlen ablesbar wurde. Die gemeinsame Skepsis gegen den Wohlfahrtsstaat reichte nicht mehr aus, um liberal-konservative Gegensätze zu überdecken. Bürgerliche Parteien begannen, sich bei Wahlen gegenseitig anzugreifen. Nach den Wahlen 1995 werden die Differenzen auch im Parlament deutlich sichtbar, wie die Politikwissenschafterin Denise Traber untersucht hat:1 Während die SVP sich zwischen 1996 und 1999 in nur 10 Prozent der Gesamt- und Schlussabstimmungen im Nationalrat gegen die anderen Bundesratsparteien stellte, tat sie dies zwischen 2011 und 2013 in knapp einem Drittel der Fälle. Spätestens ab 2007 kann von einem bürgerlichen Block keine Rede mehr sein.

Was war der Grund für den Zerfall?

In der EWR-Abstimmung im Jahre 1992 war die SVP die einzige Partei, die sich gegen den Beitritt stellte. Christoph Blocher spaltete damit den zerfallenden Bürgerblock und leitete eine Umwälzung ein, die sich in den darauf folgenden Jahren akzentuierte. FDP und CVP liessen sich einen EU-Beitritt ins Parteiprogramm schreiben und die SVP betrieb in der Europafrage einen Oppositionskurs, der von steigenden Wähleranteilen begleitet wurde. Der politische Wettbewerb zwischen den bürgerlichen Parteien nahm zu, die Mehrheiten im Parlament wurden volatiler und Absprachen in wichtigen Themen seltener. Die Uneinigkeit im vormals bürgerlichen Lager stieg stark an. Grundsätzlich ist in der Folge der Polarisierung im Schweizer Politgefüge eine steigende Uneinigkeit aller Bundesratsparteien festzustellen. Die Politikwissenschafterin Denise Traber etwa stellt zusammenfassend fest: «In den 1990er Jahren waren sich die Bundesratsparteien in rund sieben von zehn Gesamt- und Schlussabstimmungen einig, d.h. die Mehrheiten in ihren Fraktionen stimmten für die Vorlagen. Seit 2007 geht die Einigkeit zurück, weniger als die Hälfte aller vom Parlament bearbeiteten Gesetzesvorlagen werden noch von allen Bundesratsparteien unterstützt.»

Wozu führte der Zerfall des Bürgerblocks nach 1991?

Weil die SVP in beinahe allen Kantonen zunehmend auf die konservativere Linie der Zürcher SVP eingeschwenkt ist, manövrierte sie sich nach 1995 aktiv aus dem alten Bürgerblock heraus. Seither greifen sich die bürgerlichen Parteien auch gegenseitig an, und zwar nicht mehr nur auf den ohnehin umkämpften Politfeldern (Migration, Europapolitik), sondern auch darüber hinaus, wenn es, etwa auf Kantonsebene, um einzelne Posten geht. Nicht mehr nur linke Posten werden von der SVP attackiert, sondern auch CVP- oder FDP-Sitze. Die SVP stellt hierzu zusätzliche Kandidaten auf und behauptet, sie wolle so die Linke herausfordern, hat es aber de facto auf schwache Kandidaten aus den Reihen der CVP oder der FDP abgesehen (Bern/St. Gallen). Kurzum: Die zunehmende Konkurrenz innerhalb des bürgerlichen Lagers läuft der Idee einer geeinteren bürgerlichen Politik diametral entgegen (siehe Grafik I).

Konkurrenz belebt aber doch das Geschäft?

In diesem Fall nicht: «Je uneiniger die Bürgerlichen, desto geringer ihre Erfolgschancen», so der Politologe Daniel Bochsler. Und ergänzt: Lachende Dritte ist seit 1991 die Linke (siehe Grafik II). Sie steht (in Form von SP und Grünen) weiterhin geschlossen da – und politisiert auch so. Sowohl SP als auch Grüne konnten in den Kantonsregierungen seither deutlich zulegen, obwohl sie es rein rechnerisch mit einer Mitte-rechts-Übermacht zu tun hatten.

 

Und wo die Bürgerlichen es doch einmal gemeinsam versuchten…?

Dort hatten sie nicht selten ein hausgemachtes Problem mit der Basis bzw. mit den Wählern: Die mit der politischen Spaltung einhergehende Spaltung des Wählerlagers garantiert selbst bei politischer Einigkeit des Anliegens heute keinen bürgerlichen Erfolg mehr, weil die SVP für die meisten CVP- und FDP-Wähler wenig attraktiv ist (siehe Grafik III). Daniel Bochsler hat im Rahmen von Selects-Nachwahlbefragungen Wählerinnen und Wähler befragt, welche Parteien für sie sonst noch in Frage kämen. Das Ergebnis ist eindeutig: «Bei den CVP-Wählern rangierte die SVP ganz hinten, nach allen anderen Parteien, also noch deutlich hinter der SP.» Und für FDP-Wähler ist die SVP fast ebenso unbeliebt wie die SP. Die Panaschierstimmen zeichneten ein sehr ähnliches Bild, sagt Bochsler: «Hier lässt sich ermitteln, inwiefern FDP- und CVP-Wähler auch Kandidaten aus anderen Parteien panaschiert haben, gemessen an der jeweiligen Parteistärke. Gleiches Ergebnis: Die SVP rangiert ganz hinten.»

Das kann nicht stimmen! Der SVP gelingt es doch, bei Volksabstimmungen regelmässig gute Ergebnisse zu erzielen – gerade mit den Themen, die den Bürgerblock spalten?

Es ist korrekt, dass die SVP bei einigen Volksabstimmungen weit über ihre dreissig Prozent hinaus erfolgreich ist. «Das liegt daran, dass die Bürgerinnen und Bürger in Abstimmungen ziemlich oft eben nicht ihren Parteien folgen», erklärt Politologe Bochsler. Hinzu kommt, dass in der Schweiz «die Wahl- und Abstimmungsbeteiligung sehr tief ist, aber stark fluktuiert». Bedeutet: viele Bürgerinnen und Bürger stimmen bei gewissen Themen sehr selektiv. «Wer welche Abstimmung gewinnt, kommt auf die themenspezifische Mobilisierung an. Mit anderen Worten: dass die SVP Volksabstimmungen z.B. in der Migrations- und Asylpolitik gewinnt, hat mit der Mobilisierung und der nur partiellen Bedeutung der Parteien in Abstimmungen zu tun; genauso gewinnt die Linke in der Umwelt-, Energie- oder Sozialpolitik.»

Ist seit den nationalen Wahlen 2015 ein neuer «Bürgerblock» entstanden?

Als der amerikanische Präsident 1972 China besuchte, wurde Zhou Enlai, damals Premierminister der Volksrepublik China, gefragt, was er von der Französischen Revolution halte. Zhou meinte lakonisch: «Too early to say.» Heute wissen wir, dass sich der chinesische Premierminister nicht auf die Aufstände von 1789, sondern jene von 1968 bezogen hat. Doch der Ausspruch trifft auch auf die Zusammenarbeit sogenannt bürgerlicher Parteien zu. Seit den Parlamentswahlen vom Herbst 2015 findet eine Annäherung auf nationaler Ebene statt. Ob der in Sachthemen nicht selten funktionierende «bürgerliche Schulterschluss» aber die Realitäten des politischen Wettbewerbs in den Kantonen und in Vorbereitung auf den nächsten nationalen Wahlkampf überlebt, muss sich erst noch zeigen.


Die Autoren bedanken sich für die freundliche und kompetente Mitarbeit bei Denise Traber und Daniel Bochsler.

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