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Als Migrantin werde ich wohl ein Leben lang unterschätzt werden

Viele Einwanderer vertreten konservative Werte. Sie werden aber von den bürgerlichen Parteien zu wenig abgeholt.

Als Migrantin werde ich wohl ein Leben lang unterschätzt werden
Verschiedene Landesflaggen in einem Schrebergarten in Zürich. Bild: Samuel Trümpy/Keystone.

Vor nicht allzu langer Zeit war ich mit einem 14 Jahre älteren Mann verabredet. Es war nicht das erste Treffen, wir hatten eine langjährige Freundschaft und gaben uns sozusagen eine Chance. Als ich ankam, hatte er anscheinend das dringende Bedürfnis, etwas loszuwerden. Er sagte, er wolle mir etwas sagen, was mir vielleicht helfen könnte. Ich hatte kein gutes Gefühl dabei. Die Stimmung war mir etwas zu düster für diese Zeit am Morgen vor dem geplanten Ausflug. Er begann mit den Worten: «Ich glaube, du irritierst die Leute um dich herum. Denn du bist ihnen zu qualifiziert. Jemanden, der so aussieht wie du, erwartet man als Parfümverkäuferin in einem Manor-Warenhaus, nicht aber als Journalistin. Man könnte meinen, hinter dir stehe ein Mann, der dir im Hintergrund hilft.» Wenn man mich persönlich kennenlerne und mich genau anschaue, passe dies nicht zu meinen Texten. Damit meinte er, dass ich für eine Afrobrasilianerin wohl zu gut schreibe, ohne «weisse» Hilfe würde ich das nicht können.

Vielleicht meinte er es nicht so, aber es traf mich mitten ins Herz. Und von da an wusste ich, warum er unsere Beziehung nicht formalisieren, geschweige denn als Beziehung bezeichnen wollte. Als ob ich mit meinen 40 Jahren nicht wüsste, wie ich auf Menschen wirke, musste er mir bevormundend erklären, dass er eigentlich lieber eine Frau hätte, die nichts von dem versteht, was er in seiner Zeitung liest. Und wenn, dann müsse ihre Herkunft besser zu ihrem Wissen passen. Als ob Herkunft etwas mit Wissen zu tun hätte. Dazu muss man sagen, dass der Mann mit einigen ungebildeten brasilianischen Frauen ein Techtelmechtel hatte. Ich glaube, ich habe ihn mit meinem Verstand geschockt.

Ich habe eine Banklehre im Kanton Zürich gemacht. Als ich hinter dem Schalter stand, war ich etwa 16 Jahre alt. Da kam eine ältere Dame auf mich zu, legte ihre Bankkarte hin, entfernte sich etwa einen Meter vom Schalter, machte mit den Händen die Zahl fünf und flüsterte dazu: «Ich brauche 500 Franken.» Sie dachte wohl, dass die Bank jemanden ohne jegliche lokalen Sprachkenntnisse an den Schalter setzte. Das musste an meinem ausländischen Aussehen liegen. Ich ignorierte die Handbewegung und bediente die Dame ganz normal weiter.

Es ist ein Muster, das sich wiederholt. Es handelt sich um eine Unterschätzung, die auf dem Fremdbild beruht, welches jemand von mir oder meiner Herkunft hat, noch bevor er mich richtig kennengelernt hat. Diese Unterschätzung wird mich wohl mein Leben lang begleiten. Sie lässt sich auch auf andere Migranten übertragen.

Geringe Partizipation

Die Schweiz ist allein schon durch ihre Viersprachigkeit ein multikulturelles Land. Viele Menschen sind aus verschiedenen Nationen eingewandert. Viele kommen aber auch aus Ländern, die ähnliche Werte haben wie die Schweiz. Wer eine lateinische Sprache spricht wie ich, Portugiesisch, Spanisch, Italienisch, bringt oft auch konservative Werte mit. Das bedeutet, dass ein Afrobrasilianer mit grosser Wahrscheinlichkeit ganz anders tickt als ein Afrikaner aus dem Senegal, obwohl sie sich optisch ähnlich sind.

Diese Differenzierung wird in meinem Fall selten gemacht. Bis jetzt habe ich die Erfahrung gemacht, dass zwischen der Migrationsbevölkerung und der schweizerischen Bevölkerung ein riesiger kommunikativer Graben besteht, der sich in blanker Ignoranz ausdrücken kann.

Dies hat leider auch Auswirkungen auf die politische Partizipation gleichgesinnter Doppelstaatsbürger. Sie könnten wählen oder sich anderweitig politisch engagieren. Aber in der nationalen Politik scheint man nicht mit ihnen zu rechnen. In meinem persönlichen Umfeld nehmen nur sehr wenige eingebürgerte Migranten an Abstimmungen oder Wahlen teil. In Gesprächen erfahre ich, dass viele die gleichen Dinge stören, die beispielsweise die SVP anprangert. Obwohl sie die Möglichkeit haben, an der Urne etwas zu bewegen, gehen sie nicht wählen. Sie fühlen sich nicht angesprochen, das Wahlcouvert zu öffnen und aktiv zu werden.

«In meinem persönlichen Umfeld nehmen nur sehr wenige eingebürgerte Migranten an Abstimmungen oder Wahlen teil.»

Von rechts wird gegen zu viel Migration gewettert. Was nicht nur schlecht ist. Nur: Meine Leute wissen dann nicht so genau, ob sie als integrierte Konservative auch gemeint sind. Wenn dann Remigration gefordert wird, zucken wir alle zusammen. Die SP Schweiz setzt bei der Ansprache der kosovarischen Diaspora auf die Hilfe der kosovarischen Regierungspartei Vëtëvendosje. Was macht die SVP, um Migranten für sich zu gewinnen? Wird hier eine ganze Bevölkerungsgruppe bei der politischen Teilnahme unterschätzt?

Nicht angesprochen

Man kann nun argumentieren, dass Gäste sich eigentlich selbst bemühen sollten, am politischen Leben teilzunehmen. Mag sein. Aber eigentlich sind sie keine Gäste mehr. Sie haben die Schweizer Staatsbürgerschaft, sie sind hier sesshaft und bringen Kinder zur Welt. Trotz der gleichen Werte der erwähnten Gruppen fühlen sie sich oftmals nicht angesprochen oder gebraucht. Ob dies an der erwähnten Unterschätzung und Kommunikationsschwierigkeiten liegt, darüber kann nur spekuliert werden. Ebenso offen bleibt die Frage, ob die politische Schlagkraft der Konservativen gestärkt würde, wenn sie alle Gleichgesinnten mit Migrationshintergrund als gleichberechtigte Schweizer anerkennen würden. Auf dem Papier hat man die gleichen Rechte, in der Realität ist man sich nicht so nahe.

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